[114] »Nun, siehst du wohl«, fuhr Nikolai Ljewin fort; er zog die Stirn in tiefe Falten und zuckte ab und zu zusammen.
Es wurde ihm offenbar schwer, mit sich darüber ins klare zu kommen, was er sagen und tun solle.
»Sieh einmal da!« Er zeigte in die Ecke der Stube auf ein paar Eisenstangen, die mit Stricken zusammengebunden waren. »Siehst du das da? Das ist der Anfang eines neuen Unternehmens, an das wir uns jetzt heranmachen. Es ist eine Produktivgenossenschaft.«
Konstantin hörte ihm kaum zu. Er betrachtete das kranke, schwindsüchtige Gesicht seines Bruders, und das Mitleid mit diesem wurde in seinem Herzen immer größer; er konnte sich nicht dazu zwingen, mit Aufmerksamkeit anzuhören, was der Bruder ihm über die Genossenschaft erzählte. Er durchschaute es, daß diese Genossenschaft für Nikolai nur ein Rettungsanker war, um sich nicht selbst verachten zu müssen. Nikolai redete weiter:
»Du weißt, daß das Kapital den Arbeiter erdrückt. Die Arbeiter und Bauern tragen bei uns die ganze Last der Arbeit und sind doch dabei so gestellt, daß sie aus ihrer jämmerlichen Lage nie herauskommen können, und wenn sie sich noch so sehr abquälen. Aller über den notwendigsten Lebensunterhalt hinausgehende Arbeitsverdienst, durch den sie ihre Lage verbessern, sich einige Mußestunden verschaffen und infolgedessen sich eine gewisse Bildung aneignen können, dieser ganze Überschuß wird ihnen von den Kapitalisten weggenommen. Und die sozialen Zustände haben sich so gestaltet, daß, je mehr sie arbeiten, um so mehr die Kaufleute und Gutsbesitzer sich bereichern, sie selbst aber immer nur Arbeitsvieh bleiben. Diese Einrichtung muß geändert werden«, schloß er und blickte seinen Bruder fragend an.[114]
»Ja, selbstverständlich«, antwortete Konstantin und betrachtete die roten Flecke, die sich unterhalb der hervorstehenden Backenknochen seines Bruders abzeichneten.
»Und da wollen wir denn eine Schlossergenossenschaft gründen, wo alles, der gesamte Betrieb und der Gewinn und die wichtigsten zum Betriebe erforderlichen Werkzeuge, gemeinsam sein soll.«
»Wo soll denn diese Genossenschaft ihren Sitz haben?« fragte Konstantin Ljewin.
»Im Dorf Wosdrema, Gouvernement Kasan.«
»Aber warum denn auf dem Lande? Auf dem Lande, sollte ich meinen, ist sowieso schon viel Arbeit. Was soll auf dem Lande eine Schlossergenossenschaft?«
»Der Grund ist der, daß die Bauern jetzt noch ebensolche Sklaven sind, wie sie es früher waren; und darum ist es dir und Sergei Iwanowitsch auch so unangenehm, daß sie aus dieser Sklaverei befreit werden sollen«, versetzte Nikolai, durch die Erwiderung gereizt.
Konstantin, der unterdes in dem unfreundlichen, schmutzigen Zimmer umherblickte, konnte einen Seufzer nicht zurückhalten. Dieser Seufzer schien Nikolai noch mehr zu reizen.
»Ich kenne deine und Sergei Iwanowitschs aristokratischen Ansichten. Ich weiß, daß er seine ganze Geisteskraft dazu verwendet, die jetzt bestehende Mißwirtschaft zu verteidigen.«
»Nicht doch! Aber warum sprichst du denn immer von Sergei Iwanowitsch?« sagte Konstantin lächelnd.
»Warum ich von Sergei Iwanowitsch rede? Das will ich dir sagen!« schrie Nikolai plötzlich auf, als Konstantin diesen Namen nannte. »Das will ich dir sagen. – Aber was für einen Zweck hat es, davon zu reden? Nur eines möchte ich wissen: Warum bist du überhaupt zu mir gekommen? Du verachtest ja mich und meine Bestrebungen. Nun schön, also geh in Gottes Namen! Geh!« schrie er und stand von seinem Stuhle auf. »Geh hinaus, geh hinaus!«
»Von Verachtung ist bei mir nicht die Rede«, antwortete Konstantin schüchtern. »Ich will auch gar nicht mit dir streiten.«
In diesem Augenblick kam Marja Nikolajewna zurück. Nikolai sah sich zornig nach ihr um. Sie trat schnell zu ihm heran und flüsterte ihm etwas zu.
»Ich bin nicht wohl; ich bin reizbar geworden«, sagte nun Nikolai, sich allmählich beruhigend und schwer atmend, »und dazu redest du mir noch von Sergei Iwanowitsch und seiner Abhandlung. Das ist der reine Unsinn, albernes Geschwätz, Selbstbetrug. Wie kann ein Mensch über Gerechtigkeit schreiben, der[115] gar keine Gerechtigkeit kennt? Haben Sie seine Abhandlung gelesen?« wandte er sich an Krizki, während er sich wieder an den Tisch setzte und die Zigaretten, die über den halben Tisch verstreut lagen, beiseite schob, um Platz zu machen.
»Nein, ich habe sie nicht gelesen«, antwortete Krizki mürrisch, der augenscheinlich keine Lust hatte, sich an dem Gespräche zu beteiligen.
»Warum nicht?« fuhr Nikolai jetzt erregt gegen Krizki los.
»Weil ich es für zwecklos halte, damit meine Zeit zu verlieren.«
»Aber erlauben Sie, woher wissen Sie denn, daß Sie damit Ihre Zeit verlören? Gewiß, viele Leute können mit der Abhandlung nichts anfangen, weil sie über ihren Horizont geht. Aber mit mir ist das eine andere Sache; ich durchschaue seine Beweisführung durch und durch und weiß, worin ihre Schwäche liegt.«
Alle schwiegen. Krizki stand langsam auf und griff nach seiner Mütze.
»Wollen Sie nicht mit uns Abendbrot essen? Nun, dann auf Wiedersehen! Kommen Sie morgen mit dem Schlosser her.«
Kaum war Krizki hinaus, als Nikolai lächelnd seinem Bruder mit den Augen zuwinkte.
»An dem ist auch nichts dran«, sagte er. »Ich sehe recht wohl ...«
Aber in diesem Augenblicke rief ihn Krizki, der noch einmal umgekehrt war, von der Tür aus zu sich hin.
»Was wollen Sie denn noch?« fragte Nikolai und trat mit ihm auf den Flur hinaus. Konstantin, der mit Marja Nikolajewna allein geblieben war, wandte sich ihr zu.
»Sind Sie schon lange bei meinem Bruder?« fragte er sie.
»Es ist jetzt das zweite Jahr. Mit seiner Gesundheit ist es recht schlecht geworden; er trinkt zuviel«, erwiderte sie.
»Was trinkt er denn?«
»Branntwein trinkt er, und das ist ihm schädlich.«
»Trinkt er denn viel?« flüsterte Konstantin.
»Ja«, antwortete sie und blickte ängstlich nach der Tür, wo Nikolai wieder erschien.
»Worüber habt ihr gesprochen?« fragte er stirnrunzelnd und ließ seine verstörten Augen von dem einen zum anderen wandern. »Worüber?«
»Über nichts«, antwortete Konstantin verlegen.
»Na, wenn ihr es nicht sagen wollt, dann laßt es bleiben. Ich möchte dir nur sagen: es schickt sich überhaupt nicht für dich, mit ihr zu reden. Sie ist eine Magd, und du bist ein vornehmer Herr«, sagte er und ruckte wieder mit dem Halse. »Du hast[116] jetzt, meine ich, alles bei mir gesehen und dir ein Urteil darüber gebildet und stehst nun voller Mitleid meinen Verirrungen gegenüber«, fügte er mit erhobener Stimme hinzu.
»Nikolai Dmitrijewitsch, Nikolai Dmitrijewitsch!« flüsterte Marja Nikolajewna wieder und ging näher an ihn heran.
»Schon gut, schon gut! – Aber wie ist's mit dem Abendbrot? Ah, da ist es ja«, sagte er, als er einen Kellner mit einem Präsentierbrett erblickte. »Hier stell's her, hierher!« rief er ärgerlich, ergriff sogleich die Branntweinflasche, goß ein Glas voll und trank es gierig aus. »Trink doch auch eines, willst du?« wandte er sich an seinen Bruder; er war sofort in heitere Stimmung gekommen.
»Na, wollen über Sergei Iwanowitsch nicht weiter reden. Ich freue mich doch, dich wiederzusehen. Da kann einer sagen, was er will: es ist doch ein anderes Gefühl, wenn man mit seinen Angehörigen redet. Na, trink doch! Und erzähle, was du treibst!« fuhr er fort, während er gierig ein Stück Brot kaute und sich ein zweites Glas eingoß. »Wie lebst du denn eigentlich?«
»Ich lebe allein auf dem Lande wie früher und beschäftige mich mit der Wirtschaft«, antwortete Konstantin; mit Entsetzen beobachtete er die Gier, mit der sein Bruder trank und aß, bemühte sich aber zugleich, nicht merken zu lassen, daß er darauf achtete.
»Warum heiratest du nicht?«
»Es hat sich nicht so gefügt«, versetzte Konstantin errötend.
»Wieso nicht? Mit mir ist es allerdings zu Ende. Ich habe mir mein Leben verpfuscht. Ich habe es immer gesagt und sage es heute noch: wäre mir mein Anteil damals, als ich ihn brauchte, ausgezahlt worden, so hätte sich mein ganzes Leben anders gestaltet.«
Konstantin beeilte sich, dem Gespräche eine andere Richtung zu geben.
»Weißt du auch, daß dein Iwan bei mir in Pokrowskoje Gutsschreiber ist?« sagte er.
Nikolai zuckte mit dem Halse und gab sich einen Augenblick seinen Gedanken hin.
»Erzähle mir doch, was in Pokrowskoje alles geschehen ist. Steht das Haus noch unverändert und die Birken und unser Unterrichtszimmer? Und der Gärtner Filipp, lebt der noch? Wie deutlich ich mich an die Laube erinnere und an das Sofa! – Weißt du, ändere nur ja nichts im Hause, sondern heirate so bald wie möglich, und dann richte alles wieder genau so ein, wie es früher war. Dann werde ich auch einmal zu dir auf Besuch kommen, wenn deine Frau gut und nett ist.«[117]
»Komm doch gleich jetzt mit mir mit!« sagte Konstantin. »Wie hübsch würden wir zusammen hausen!«
»Ich würde zu dir kommen, wenn ich wüßte, daß ich Sergei Iwanowitsch da nicht treffe.«
»Du wirst ihn nicht treffen. Ich lebe vollständig unabhängig von ihm.«
»Ja, aber du magst sagen, was du willst, du mußt doch zwischen mir und ihm wählen«, erwiderte er und blickte dem Bruder schüchtern in die Augen. Diese Schüchternheit rührte Konstantin.
»Wenn du in dieser Hinsicht meine aufrichtige Meinung hören willst, so muß ich dir sagen, daß ich in deinem Streite mit Sergei Iwanowitsch weder auf deiner noch auf seiner Seite stehe. Ihr habt alle beide unrecht. Du hast mehr in der äußeren Form unrecht und er mehr in sachlicher Hinsicht.«
»Ei sieh! Das hast du also erfaßt? Das hast du erfaßt?« rief Nikolai freudig.
»Ich persönlich aber, wenn du das wissen willst, lege auf die Freundschaft mit dir größeren Wert, weil ...«
»Warum? Warum?«
Konstantin konnte doch nicht wohl sagen, daß er dies deshalb tue, weil Nikolai unglücklich sei und eines Freundes bedürfe. Aber Nikolai zweifelte nicht, daß er gerade dies hatte sagen wollen, und griff wieder mit finsterer Miene nach dem Branntwein.
»Lassen Sie es genug sein, Nikolai Dmitrijewitsch!« bat Marja Nikolajewna und streckte ihren rundlichen nackten Arm nach der Flasche aus.
»Laß das! Sei nicht so dreist, oder du bekommst Schläge!« schrie er.
Auf Marja Nikolajewnas Gesicht erschien ein sanftes, freundliches Lächeln, dem Nikolai nicht widerstehen konnte. Auch er lächelte, und sie nahm den Branntwein weg.
»Meinst du etwa, daß sie dumm ist?« sagte Nikolai. »Sie versteht all das besser als wir alle. Nicht wahr, sie hat etwas so Gutes, Liebes an sich?«
»Sind Sie früher nie in Moskau gewesen?« fragte Konstantin sie, um doch irgend etwas zu sagen.
»Aber so sage doch nicht Sie zu ihr! Das ist ihr nur peinlich. Nie hat jemand Sie zu ihr gesagt, außer dem Friedensrichter, als sie in Anklagezustand versetzt war, weil sie aus dem Hause der Unzucht hatte davongehen wollen. – Mein Gott, was gibt es doch für Sinnlosigkeit in der Welt!« schrie er plötzlich auf. »Diese neuen Einrichtungen, diese Friedensrichter, der Kreistag, was für ein Unsinn ist das!«[118]
Und er begann von seinen Zusammenstößen mit den neuen Einrichtungen zu erzählen.
Konstantin hörte ihm zu. Er selbst teilte Nikolais Ansicht von der Sinnlosigkeit aller dieser staatlichen Einrichtungen und hatte diese Ansicht oft genug ausgesprochen, aber dennoch war es ihm unangenehm, sie jetzt aus dem Munde des Bruders zu hören.
»Im Jenseits werden wir das alles verstehen«, bemerkte er scherzend.
»Im Jenseits? Ach, weißt du, das Jenseits kann ich nicht leiden! Ich kann es nicht leiden«, sagte er und heftete seine scheuen, verstörten Augen auf das Gesicht des Bruders. »Es wäre ja wohl ganz schön, aus all dieser Gemeinheit und Verworrenheit, fremder sowohl wie eigener, herauszukommen, aber ich fürchte mich vor dem Tode, ganz entsetzlich fürchte ich mich vor dem Tode.« Er schauderte. »Aber trink doch irgend etwas! Willst du Champagner? Oder komm, wir wollen irgendwohin fahren. Wir wollen zu den Zigeunern fahren! Weißt du, an den Zigeunern und an den russischen Volksliedern habe ich großen Geschmack bekommen.«
Die Zunge wollte ihm nicht recht gehorchen, und er ging unvermittelt von einem Gegenstande zum anderen über. Mit Marjas Hilfe redete ihm Konstantin seine Absicht, noch irgendwohin zu fahren, aus und brachte den vollkommen Betrunkenen ins Bett.
Konstantin ließ sich von Marja versprechen, daß sie im Notfalle an ihn schreiben und Nikolai zureden werde, zu ihm aufs Land zu ziehen.
Buchempfehlung
Julian, ein schöner Knabe ohne Geist, wird nach dem Tod seiner Mutter von seinem Vater in eine Jesuitenschule geschickt, wo er den Demütigungen des Pater Le Tellier hilflos ausgeliefert ist und schließlich an den Folgen unmäßiger Körperstrafen zugrunde geht.
48 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.
428 Seiten, 16.80 Euro