[65] Nachdem Ljewin seine Frau hinaufbegleitet hatte, begab er sich nach den von Dolly bewohnten Räumen. Diese hatte heute einen recht aufregenden Tag. Sie ging im Zimmer auf und ab und sprach zornig zu ihrem Töchterchen Mascha, das in einer Ecke stand und heulte.
»Den ganzen Tag sollst du in der Ecke stehen, und dein Mittagessen sollst du allein essen, und nicht eine einzige Puppe sollst du heute zu sehen bekommen, und ein neues Kleid mache ich dir auch nicht«, sagte sie; sie wußte selbst nicht, womit sie sie noch weiter bestrafen sollte.[65]
»Nein, welch ein garstiges Kind das ist!« wandte sie sich zu Ljewin. »Wo sie nur diese häßlichen Neigungen her hat?«
»Was hat sie denn getan?« fragte in ziemlich gleichgültigem Tone Ljewin, der über seine eigene Angelegenheit mit Dolly hatte sprechen wollen und sich nun darüber ärgerte, daß er so zur Unzeit gekommen war.
»Sie war mit Grigori in die Himbeeren gegangen, und da ... nein, ich kann es gar nicht sagen, was sie da getan hat. Tausendmal habe ich schon bedauert, daß Miß Hull nicht mehr da ist. Diese paßt auf nichts auf, die reine Maschine ... Figurez vous, que la petite ...1«
Darja Alexandrowna berichtete über Maschas Verbrechen.
»Daraus folgt noch weiter nichts; das sind ganz und gar keine häßlichen Neigungen; das ist einfach Mutwille«, suchte Ljewin sie zu beruhigen.
»Aber auch du bist verstimmt? Was hat dich denn hergeführt?« fragte Dolly. »Ist bei euch im Wohnzimmer etwas los?«
Aus dem Tone dieser Frage schöpfte Ljewin die Überzeugung, daß es ihm nicht schwer werden würde, das zu sagen, was er zu sagen beabsichtigte.
»Ich bin nicht dort gewesen; ich war mit Kitty allein im Garten. Wir waren zum zweiten Male miteinander böse, seit ... seit Stiwa gekommen ist.«
Dolly sah ihn mit klugen, verständnisvollen Augen an.
»Nun sage mir, Hand aufs Herz; hat etwa ... ich meine nicht Kitty ... sondern hat etwa dieser Herr sich eines Tones bedient, in dem man etwas für den Ehemann Unangenehmes ... nein, nicht etwas Unangenehmes, sondern etwas Furchtbares, Beleidigendes finden kann?«
»Ja nun, wie soll ich dir darauf antworten ... Du bleibst in der Ecke stehen, ganz still!« wandte sie sich an Mascha, die, sobald sie auf dem Gesicht ihrer Mutter ein ganz leises Lächeln wahrgenommen hatte, einen Versuch gemacht hatte, sich umzudrehen. »Die Meinung unserer Gesellschaftskreise würde sein, daß er sich benimmt, wie sich alle jungen Männer benehmen. Il fait la cour à une jeune et jolie femme2, und ein Ehemann, der die Ansicht dieser Gesellschaftskreise teilt, kann sich dadurch nur geschmeichelt fühlen.«
»Ja, ja«, erwiderte Ljewin finster, »aber bemerkt hast du es?«
»Nicht nur ich, sondern auch Stiwa hat es bemerkt. Er hat nach dem Tee geradezu zu mir gesagt: je crois que Weslowski fait un petit brin de cour à Kitty.3«
»Nun schön, jetzt bin ich beruhigt. Ich werde ihn aus dem Hause werfen«, antwortete Ljewin.[66]
»Was redest du? Bist du von Sinnen?« rief Dolly erschrocken. »Was redest du, Konstantin? So komm doch zur Besinnung!« fügte sie lachend hinzu. »Na, du kannst jetzt zu Fanny gehen«, sagte sie zu Mascha. »Nein, wenn du nun einmal solche Absichten hast, so kann ich es ja Stiwa sagen. Der wird ihn schon fortschaffen. Er kann sagen, du erwartetest noch mehr Gäste. Übrigens paßt er wirklich nicht in dieses Haus hinein.«
»Nein, nein, ich werde es selbst besorgen.«
»Aber du wirst einen argen Streit mit ihm haben ...«
»Keineswegs. Es wird für mich eine sehr vergnügliche Sache sein, wirklich sehr vergnüglich«, versetzte Ljewin mit blitzenden Augen. »Na, nun verzeih ihr nur, Dolly! Sie wird es nicht wieder tun«, sagte er über die kleine Verbrecherin, die noch nicht zu Fanny gegangen war, sondern unschlüssig der Mutter gegenüberstand, mit gesenktem Kopfe zu ihr hinschielte und einen Blick von ihr aufzufangen suchte.
Die Mutter sah sie an. Die Kleine brach in Schluchzen aus, vergrub sich mit dem Gesicht zwischen den Knien der Mutter, und Dolly legte ihr ihre magere, zarte Hand auf den Kopf.
›Was haben wir und er überhaupt miteinander zu schaffen?‹ dachte Ljewin und ging hin, um Weslowski aufzusuchen.
Als er durch das Vorzimmer kam, gab er Befehl, die Kalesche für eine Fahrt nach dem Bahnhof anzuspannen. »Es ist gestern eine Feder daran zerbrochen«, antwortete der Diener.
»Nun, dann das Reisewägelchen, aber schnell. Wo ist der fremde Herr?«
»Der Herr ist in sein Zimmer gegangen.«
Dort traf ihn Ljewin. Wasenka hatte gerade seine Sachen aus dem Koffer gepackt, die neuen Lieder zurechtgelegt und war im Augenblick damit beschäftigt, ein Paar Gamaschen anzuprobieren, um auszureiten.
Ob nun Ljewins Gesicht irgendwelchen besonderen Ausdruck trug oder ob Wasenka selbst das Gefühl hatte, daß ce petit brin de cour4, den er angefangen hatte, in dieser Familie denn doch nicht recht angebracht sei, jedenfalls geriet er bei Ljewins Eintritt in eine gewisse Verlegenheit, soweit das bei einem gewandten Lebemann eben möglich ist.
»Sie reiten in Gamaschen?«
»Ja, es ist doch weit sauberer«, versetzte Wasenka, stellte sein dickes Bein auf einen Stuhl, machte den untersten Haken zu und lächelte heiter und gutmütig.
Er war zweifellos ein guter Junge, und Ljewin bedauerte ihn und schämte sich als Wirt, da er die Schüchternheit in Wasenkas Blick bemerkte.[67]
Auf dem Tische lag das Bruchstück eines Stockes, den sie an diesem Vormittag gemeinschaftlich beim Turnen zerbrochen hatten, als sie den Versuch machten, die verquollenen Barrenholme zu heben. Ljewin nahm dieses Bruchstück in die Hände und begann von dem zersplitterten Ende die einzelnen Splitter abzureißen, da er nicht wußte, womit er bei dem, was er sagen wollte, den Anfang machen solle.
»Ich wollte ...« Er stockte; aber plötzlich dachte er an Kitty und an alles, was sich begeben hatte, blickte ihm mit festem Entschluß in die Augen und sagte: »Ich habe für Sie einen Wagen anspannen lassen.«
»Wieso?« fragte Wasenka verwundert. »Wohin geht denn die Fahrt?«
»Sie sollen wegfahren, nach der Bahn«, antwortete Ljewin finster und zerzupfte das Ende des Stockes.
»Reisen Sie weg, oder hat sich etwas begeben?«
»Ich habe Nachricht erhalten, daß ich noch mehr Gäste zu erwarten habe«, erwiderte Ljewin und riß immer schneller und schneller mit seinen starken Fingern die Splitter von dem zerfaserten Stock ab. »Oder auch, ich erwarte gar keine Gäste und habe keine Nachricht erhalten; aber ich ersuche Sie abzureisen. Sie mögen sich meine Unhöflichkeit erklären, wie Sie wollen.«
Wasenka richtete sich gerade.
»Ich ersuche vielmehr Sie, mir zu erklären ...«, sagte er mit Würde, nachdem er endlich verstanden hatte.
»Ich kann Ihnen keine Erklärung geben«, versetzte Ljewin leise und langsam, bemüht, das Zittern seiner Kinnbacken zu verbergen. »Und es ist auch besser für Sie, nicht danach zu fragen.«
Und da nun Ljewin die losgesplitterten Stücke des Stockes bereits sämtlich abgebrochen hatte, so faßte er mit den Fingern die beiden dicken Stücke, riß den Stock der Länge nach auseinander und fing das eine Stück, das herunterfiel, sorgsam auf.
Der Anblick dieser angespannten Arme und starken Muskeln, die er am Vormittag beim Turnen befühlt hatte, die blitzenden Augen und bebenden Kinnbacken und der Klang dieser mühsam gedämpften Stimme hatten wahrscheinlich für Wasenka eine größere Überzeugungskraft als die Worte. Er zuckte die Achseln und verbeugte sich mit einem geringschätzigen Lächeln.
»Kann ich Oblonski sprechen?«
Durch das Achselzucken und das Lächeln ließ sich Ljewin nicht aufbringen. ›Was bleibt ihm auch weiter zu tun übrig?‹ dachte er.
»Ich werde ihn sofort zu Ihnen schicken.«[68]
»Was ist das für ein sinnloses Benehmen!« sagte Stepan Arkadjewitsch, als er von seinem Freunde erfahren hatte, daß er aus dem Hause gewiesen sei, und Ljewin im Garten fand, wo er in Erwartung der Abreise des Gastes umherging. »Mais c'est ridicule! Was für eine Fliege hat dich denn gestochen? Mais c'est du dernier ridicule!5 Was findest du denn dabei, wenn ein junger Mann ...«
Aber die Stelle, wo die Fliege Ljewin gestochen hatte, war offenbar noch schmerzhaft; denn er wurde wieder ganz blaß, als Stepan Arkadjewitsch die Veranlassung erörtern wollte, und unterbrach ihn hastig:
»Bitte, rede nicht von der Veranlassung! Ich habe nicht anders gekonnt! Ich schäme mich sehr vor dir und vor ihm. Aber ihm, glaube ich, wird es kein großer Schmerz sein wegzureisen; mir aber und meiner Frau ist seine Anwesenheit unangenehm.«
»Aber es ist für ihn eine Beleidigung! Et puis c'est ridicule!6«
»Aber für mich war es eine Beleidigung und eine Qual! Ich hatte mir nichts zuschulden kommen lassen und sehe nicht ein, warum ich da leiden soll!«
»Na, das hätte ich wahrhaftig nicht von dir erwartet! On peut être jaloux, mais à ce point c'est du dernier ridicule!7«
Ljewin wandte sich schnell von ihm ab und ging weiter nach dem Ende der Allee zu: dort fuhr er fort, allein auf und ab zu gehen. Es dauerte nicht lange, da hörte er das Poltern des Reisewägelchens und sah hinter den Bäumen hervor, wie Wasenka, auf dem Heu sitzend (denn Sitze befanden sich in diesem Wagen leider nicht), mit seiner schottischen Mütze durch die Allee fuhr und bei jedem Stoße des Wagens in die Höhe flog.
›Was gibt es denn da noch?‹ dachte Ljewin, als der Diener aus dem Hause gelaufen kam und durch lauten Zuruf den Wagen wieder zum Halten veranlaßte. Der Grund war der Maschinist, den Ljewin vollständig vergessen hatte. Der Maschinist grüßte Weslowski, sagte etwas zu ihm und stieg dann zu ihm in den Wagen; darauf fuhren sie beide zusammen weiter.
Stepan Arkadjewitsch und die Fürstin waren über Ljewins Handlungsweise empört. Und auch er selbst hatte das Gefühl, daß er sich nicht nur im höchsten Grade lächerlich gemacht, sondern auch sehr unrecht getan und sich entehrt habe; aber wenn er sich die Qualen ins Gedächtnis zurückrief, die er und seine Frau ausgestanden hatten, und sich dann fragte, wie er im Wiederholungsfalle handeln würde, so gab er sich die Antwort, daß er genau das gleiche tun würde.
Trotzdem waren zu Ende dieses Tages alle, mit Ausnahme der Fürstin, die Ljewin ein solches Benehmen nicht verzeihen konnte, in ungewöhnlich lebhafte, vergnügte Stimmung gekommen,[69] wie Kinder nach einer Bestrafung oder Erwachsene nach einem lästigen offiziellen Empfang, so daß am Abend über Wasenkas Ausweisung in Abwesenheit der Fürstin bereits wie über ein weit zurückliegendes Begebnis gesprochen wurde. Und Dolly, die von ihrem Vater die Gabe besaß, spaßhaft zu erzählen, rief bei Warjenka ordentliche Lachkrämpfe hervor, als sie zum dritten und vierten Male, immer mit neuen humoristischen Zusätzen, erzählte, wie sie gerade dem Gast zu Ehren sich ein paar neue Schleifen angesteckt habe und schon ins Wohnzimmer getreten sei; da habe sie auf einmal das Poltern des alten Kastens von Wagen gehört. Und wer sei in dem Kasten darin gewesen? Wasenka in eigener Person habe mit seinem schottischen Mützchen und mit seinen Liedern und mit seinen Gamaschen auf dem Heu gesessen.
»Hättest du wenigstens noch die Kutsche anspannen lassen! Ja, und dann hörte ich rufen: ›Halt, halt!‹ Na, dachte ich, er hat doch noch Mitleid mit ihm gehabt. Ich sah hin, und da stieg der dicke Deutsche zu ihm ein, und sie fuhren davon ... Und mit meinen schönen Schleifen hatte ich mich vergebens geputzt!«
1 (frz.) Stellen Sie sich vor, daß die Kleine ...
2 (frz.) Er macht einer jungen und hübschen Frau den Hof.
3 (frz.) Ich glaube, daß Weslowski Kitty ein klein wenig den Hof macht.
4 (frz.) dieser kleine Flirt.
5 (frz.) Aber das ist ja lächerlich ... Aber das ist ja höchst lächerlich.
6 (frz.) Und außerdem ist es lächerlich.
7 (frz.) Man kann eifersüchtig sein, aber in diesem Grade, das ist höchst lächerlich.
Buchempfehlung
In Paris ergötzt sich am 14. Juli 1789 ein adeliges Publikum an einer primitiven Schaupielinszenierung, die ihm suggeriert, »unter dem gefährlichsten Gesindel von Paris zu sitzen«. Als der reale Aufruhr der Revolution die Straßen von Paris erfasst, verschwimmen die Grenzen zwischen Spiel und Wirklichkeit. Für Schnitzler ungewöhnlich montiert der Autor im »grünen Kakadu« die Ebenen von Illusion und Wiklichkeit vor einer historischen Kulisse.
38 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
434 Seiten, 19.80 Euro