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[115] Wronski und Anna verlebten den ganzen Sommer und noch einen Teil des Herbstes auf dem Lande, immer in den gleichen Verhältnissen und ohne irgendwelche Schritte zur Herbeiführung der Scheidung zu tun. Sie waren übereingekommen, nirgends hinzureisen; aber je länger sie allein lebten, besonders im Herbste und nach der Abreise der Gäste, um so mehr fühlten sie beide, daß sie dieses Leben auf die Dauer nicht aushalten konnten und daß darin eine Änderung stattfinden müsse.

Ihr Leben war scheinbar von der Art, daß man sich ein besseres gar nicht denken konnte: sie lebten im Überfluß, sie waren gesund, sie hatten ein Kind, und beide hatten sie ihre Beschäftigung.

Anna verwandte, auch wenn keine Gäste da waren, dennoch ebensoviel Sorgfalt auf ihr Äußeres; auch beschäftigte sie sich sehr viel mit Büchern: sie las sowohl Romane wie ernste Bücher, die gerade Mode waren. Sie ließ sich alle die Bücher kommen, die in den von ihr gehaltenen ausländischen Zeitungen und Zeitschriften lobend erwähnt wurden, und las sie mit jener Aufmerksamkeit, die man nur in der Einsamkeit aufzubringen pflegt. Außerdem studierte sie die Gegenstände, mit denen sich Wronski beschäftigte, aus Büchern und Fachzeitschriften, so daß er sich oft in Fragen der Landwirtschaft und des Bauwesens, mitunter sogar in Fragen der Pferdezucht und des Sportes geradezu an sie wandte. Er war erstaunt über ihre Kenntnisse und über ihr Gedächtnis; anfangs bezweifelte er ihre Angaben manchmal und wünschte deren Bestätigung durch Druckschriften; aber sie fand dann immer beim Nachschlagen in den Büchern dasselbe, was sie ihm auf seine Fragen als Auskunft gegeben hatte, und konnte es ihm nachweisen.

Auch für die Einrichtung des Krankenhauses erwärmte sie sich. Sie half nicht nur, sondern richtete auch vieles selbständig ein und hatte dabei manche eigenen Gedanken. Aber ihre Hauptsorge blieb doch immer sie selbst: die Überlegung, wieweit sie Wronskis Liebe besitze und wie sie ihn für all das entschädigen könne, was er um ihretwillen aufgegeben habe. Wronski wußte diesen ihren Wunsch, der ihr einziger Lebenszweck geworden war, in seinem Werte zu würdigen, den Wunsch, ihm nicht nur zu gefallen, sondern ihm auch zu dienen; aber zugleich fühlte er sich auch durch das Liebesnetz, in das sie ihn zu verstricken suchte, belästigt. Je häufiger er sich im Laufe der Zeit durch dieses Netz behindert fühlte, um so stärker wurde bei ihm das Verlangen, nicht eigentlich sich davon loszumachen,[116] aber doch zu versuchen, ob dadurch auch nicht seine Freiheit beeinträchtigt werde. Wäre nicht in ihm dieses immer wachsende Verlangen gewesen, frei zu sein, nicht jedesmal erst eine Szene durchmachen zu müssen, wenn er zu den Versammlungen oder zum Rennen nach der Stadt fahren mußte, so würde Wronski mit seinem Leben vollständig zufrieden gewesen sein. Die Rolle, die er sich ausgesucht hatte, die Rolle des reichen Grundbesitzers, also eines Angehörigen jenes Standes, von dem er meinte, daß er den eigentlichen Kern der russischen Aristokratie bilden müsse, diese Rolle entsprach nicht nur völlig seinem Geschmack, sondern gewährte ihm jetzt, nachdem er ein halbes Jahr so gelebt hatte, auch eine ständig zunehmende Befriedigung. Und seine Arbeit, die ihn immer mehr beschäftigte und erfreute, hatte vortrefflichen Erfolg. Trotz der gewaltigen Ausgaben, die das Krankenhaus und die Maschinen und die Kühe, die er sich aus der Schweiz hatte kommen lassen, und viele andere Dinge verursachten, sah er deutlich, daß er sein Vermögen nicht verminderte, sondern vermehrte. Wo es sich um Einnahmen handelte, beim Verkauf von Holz, Getreide, Wolle, beim Verpachten von Land, da war Wronski hart wie Stein und verstand es, seinen Preis zu behaupten. In den Hauptfragen des Wirtschaftsbetriebes hielt er sich sowohl bei diesem Gute wie bei seinen anderen Gütern an die einfachsten, mit möglichst geringem Wagnis verbundenen Wirtschaftsweisen und zeigte sich in den wirtschaftlichen Einzelheiten im höchsten Grade berechnend und sparsam. Trotz aller Schlauheit und Gewandtheit seines deutschen Verwalters, der ihn zu Ankäufen veranlassen wollte und dabei jeden Kostenanschlag so aufstellte, daß man zunächst eine sehr große Summe für erforderlich halten mußte und erst nach näherer Prüfung merkte, es lasse sich doch billiger einrichten und ein sofortiger Gewinn erzielen, ließ sich Wronski durch ihn nicht beeinflussen. Er hörte an, was der Verwalter vorbrachte, stellte eingehende Fragen und stimmte ihm nur dann zu, wenn das, was sie kommen lassen oder einrichten wollten, etwas wirklich Neues und in Rußland noch Unbekanntes war, was Aufsehen erregen konnte. Überdies entschloß er sich zu größeren Ausgaben nur dann, wenn er Geld flüssig hatte, erkundigte sich vor solchen Ausgaben über alle Einzelheiten und bestand darauf, daß er für sein Geld dann auch wirklich nur das Allerbeste bekam. Daher war klar, daß bei der Art, wie er die Sache betrieb, sein Vermögen nicht abnehmen konnte, sondern wachsen mußte.

Im Oktober sollten die Adelswahlen im Gouvernement Kaschin abgehalten werden, wo die Güter Wronskis, Swijaschskis,[117] Kosnüschews, Oblonskis und ein kleiner Teil des Besitztums Ljewins lagen.

Diese Wahlen zogen wegen vieler Umstände und wegen der daran beteiligten Persönlichkeiten die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Es wurde von ihnen viel gesprochen, und man traf dazu mancherlei Vorbereitungen. Eingesessene des Gouvernements, die in Moskau, in Petersburg und im Auslande wohnten und sich sonst nie an den Wahlen beteiligt hatten, kamen diesmal herbeigereist.

Wronski hatte schon lange vorher Swijaschski das Versprechen gegeben, zu den Wahlen zu fahren.

Vor den Wahlen kam Swijaschski, der überhaupt häufig in Wosdwischenskoje zu Besuch war, zu Wronski, um ihn abzuholen.

Am Tage vorher wäre es zwischen Wronski und Anna wegen dieser beabsichtigten Reise beinahe zu einem Streite gekommen. Es war der langweiligste, verdrießlichste Teil der Herbstzeit auf dem Lande, und so erklärte denn Wronski, auf einen Kampf gefaßt, ihr in einem strengen, kalten Tone, wie er ihn noch nie vorher Anna gegenüber angewendet hatte, daß er am nächsten Tage abreisen werde. Aber zu seiner Verwunderung nahm Anna diese Nachricht sehr ruhig auf und fragte nur, wann er zurückkommen werde. Er blickte sie forschend an, da ihm ihre Ruhe unverständlich war. Sie erwiderte seinen Blick mit einem Lächeln. Er kannte an ihr diese Fähigkeit, sich in ihr Inneres zurückzuziehen, und wußte, daß sie das nur dann tat, wenn sie sich im stillen zu etwas entschlossen hatte und ihm ihre Pläne nicht mitteilen wollte. Er fürchtete, daß es auch diesmal so wäre; aber es lag ihm so sehr daran, einer Szene zu entgehen, daß er sich stellte, als sei er davon überzeugt, daß sie die Sache verständig auffasse; und zum Teil glaubte er das, was er wünschte, auch wirklich.

»Du wirst dich hoffentlich nicht langweilen?«

»Ich hoffe, nein«, erwiderte Anna. »Ich habe gestern eine Kiste Bücher von Gautier bekommen. Nein, ich werde mich schon nicht langweilen.«

›Wenn sie diesen Ton annehmen will, nun, um so besser‹, dachte er. ›Sonst wäre es ja doch immer wieder die alte Leier.‹

So reiste er denn, ohne sie zu einer offenen Aussprache veranlaßt zu haben, zu den Wahlen. Es war dies, seit sie einander näher kannten, das erstemal, daß er sich von ihr trennte, ohne sich vollständig mit ihr ausgesprochen zu haben. Einerseits beunruhigte ihn dies, anderseits fand er, daß es so schließlich doch besser sei. ›Die ersten Male wird sie, so wie diesmal, die Empfindung[118] haben, daß es zwischen uns an Klarheit und Offenheit fehlt; aber nachher wird sie sich schon daran gewöhnen. Jedenfalls kann ich alles um ihretwillen aufgeben, alles, aber nicht meine männliche Unabhängigkeit‹, dachte er.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Anna Karenina. 3 Bde., Berlin 1957, Band 3, S. 115-119.
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