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[17] Warjenka, mit dem weißen Tuch auf dem schwarzen Haar, umringt von den Kindern, mit denen sie sich harmlos und heiter unterhielt, und augenscheinlich erregt durch die Möglichkeit, daß der Mann, der ihr gefiel, ihr einen Antrag mache, bot einen allerliebsten Anblick dar. Sergei Iwanowitsch ging neben ihr und wandte seine bewundernden, warmen Blicke nicht von ihr. Während er sie ansah, erinnerte er sich an all die lieben Reden, die er aus ihrem Munde gehört hatte, und alles, was er Gutes über sie wußte, und kam immer mehr und mehr zu der Erkenntnis, daß das Gefühl, das er für sie empfand, ein ganz besonderes sei, eben jenes, das er vor langer, langer Zeit und nur ein einziges Mal, in der Zeit seiner ersten Jugend, kennengelernt hatte. Das Gefühl der Freude über ihre Nähe wuchs immer mehr und wurde so stark, daß, als er ihr einen von ihm gefundenen gewaltigen Birkenpilz mit dünnem Stiel und umgebogenem Rand in ihr Körbchen legte und ihr in die Augen blickte und auf ihrem Gesicht die Röte einer freudigen, bangen Erregung bemerkte, er selbst in Verwirrung geriet und ihr schweigend mit einem Lächeln zulächelte, das nur zu vielsagend war.

›Wenn es so steht‹, sagte er zu sich selbst, ›so muß ich zuerst sorgsam überlegen und dann meine Entscheidung treffen, darf mich aber nicht wie ein Knabe vom Empfinden des Augenblicks hinreißen lassen.‹

»Ich will jetzt hingehen und getrennt von den andern für mich allein Pilze sammeln; denn sonst weiß niemand genau, wie groß eigentlich meine eigene Beute ist«, sagte er und begab sich vom Waldsaum, wo sie in dem seidigen, niedrigen Grase zwischen vereinzelten alten Birken umhergingen, mehr nach der Mitte des Waldes, wo zwischen den weißen Birkenstämmen auch graustämmige Espen und dunkle Haselnußsträucher wuchsen. Nachdem er etwa vierzig Schritt weit weggegangen war, bog er um einen Pfaffenhütchenstrauch, der mit seinen rosaroten Kätzchen in voller Blüte stand, und da er wußte, daß er hier nicht mehr zu sehen war, blieb er stehen. Um ihn herum war es völlig still. Nur oben in den Birken, unter denen er stand, summten wie ein Bienenschwarm unaufhörlich die Fliegen, und ab und zu schallten die Stimmen der Kinder herüber. Plötzlich ertönte in nicht allzu weiter Entfernung vom Waldsaume her die Altstimme Warjenkas, die den kleinen Grigori rief, und ein freudiges Lächeln trat auf Sergei Iwanowitschs Gesicht. Er wurde sich dieses Lächelns bewußt und schüttelte mißbilligend den Kopf[18] über seinen Zustand; dann holte er eine Zigarre hervor und wollte sie anstecken. Aber lange Zeit brachte er es nicht fertig, ein Schwefelholz am Stamme einer Birke in Brand zu setzen. Das zarte Häutchen der weißen Rinde klebte sich um den Phosphor, so daß die Flamme erstickte. Endlich fing ein Schwefelhölzchen Feuer, und der duftige Rauch der Zigarre zog sich wie ein wallendes, breites Tuch mit bestimmten Umrissen vorwärts und aufwärts über dem Strauche unter den herabhängenden Zweigen der Birke hin. Mit den Augen den Rauchstreifen verfolgend, wanderte Sergei Iwanowitsch langsamen Schrittes dahin und dachte über seinen Zustand nach.

›Warum denn auch nicht?‹ dachte er. ›Wenn dies nur so ein plötzliches Aufflackern oder eine leidenschaftliche Anwandlung wäre, wenn ich lediglich diese Neigung wahrnähme, diese wechselseitige Neigung (jawohl, ich kann sagen: diese wechselseitige Neigung), dabei aber die Empfindung hätte, daß sie mit der gesamten harmonischen Gestaltung meines Lebens in Mißklang stände, wenn ich fühlte, daß ich, mich dieser Neigung hingebend, meinem Berufe und meiner Pflicht untreu würde ... aber all das trifft nicht zu. Das einzige, was ich dagegen sagen kann, ist dies, daß ich, als ich Marie verlor, mir das Wort gab, ihrem Andenken treu zu bleiben. Das ist das einzige, was ich gegen mein Gefühl einwenden kann ... Das ist ja allerdings ein wichtiger Punkt‹, sagte Sergei Iwanowitsch zu sich selbst und fühlte gleichzeitig, daß die ser Gegenstand für ihn persönlich keinerlei Wichtigkeit haben konnte, sondern daß nur in den Augen anderer Leute die poetische Rolle, die er bisher gespielt hatte, zerstört wurde. ›Aber davon abgesehen kann ich, soviel ich auch suchen mag, nichts finden, was sich gegen mein Gefühl einwenden ließe. Wollte ich lediglich nach Vernunftgründen wählen, so könnte ich nichts finden, was besser wäre.‹

Wie viele Frauen und Mädchen, mit denen er bekannt geworden war, er sich auch ins Gedächtnis zurückrief, so konnte er sich unter ihnen doch auf kein einziges weibliches Wesen besinnen, das in solchem Maße alle, geradezu alle Eigenschaften vereinigt hätte, die er auf Grund kühler Überlegung an seiner Frau zu finden wünschte. Sie besaß den ganzen Reiz und die Frische der Jugend, war aber dabei doch kein Kind mehr, und wenn sie ihn liebte, so liebte sie ihn mit vollem Bewußtsein, wie eben ein Weib lieben muß; das war das eine. Zweitens: sie stand nicht nur dem weltlichen Treiben fern, sondern hatte augenscheinlich sogar eine Abneigung dagegen; dabei aber kannte sie doch die Welt und beherrschte alle die Umgangsformen, die einer Dame der guten Gesellschaft geläufig sein müssen und ohne die[19] für Sergei Iwanowitsch eine Lebensgefährtin undenkbar war. Drittens: sie war religiös, und zwar nicht in der Art eines Kindes ohne viel Nachdenken religiös und gut, wie es zum Beispiel Kitty war, sondern ihr gesamtes Handeln gründete sich auf religiöse Überzeugungen. Selbst in minder wichtigen Punkten fand Sergei Iwanowitsch bei ihr alles so, wie er es sich bei seiner Frau wünschte: sie war arm und stand allein, so daß sie nicht einen Haufen von Verwandten und deren unerwünschten Einfluß in das Haus ihres Mannes mitbringen konnte, wie er das bei Kitty sah, sondern sie würde in allen Stücken auf ihren Mann angewiesen sein, was er sich gleichfalls immer für sein künftiges Familienleben gewünscht hatte. Und dieses Mädchen, das alle diese Eigenschaften in sich vereinigte, liebte ihn. Er war bescheiden, aber das konnte er trotzdem nicht übersehen. Und er liebte sie. Nur eine Erwägung sprach dagegen: das waren seine Jahre. Aber seine ganze Familie war langlebig; er hatte noch kein einziges graues Haar; niemand hätte ihn auf vierzig Jahre geschätzt, und er erinnerte sich, daß Warjenka gesagt hatte, nur in Rußland hielten sich Leute von fünfzig Jahren schon für alt; in Frankreich dagegen meine ein Fünfzigjähriger in der Vollkraft seines Lebens zu stehen, und ein Vierzigjähriger betrachte sich als un jeune homme1. Und was wollte überhaupt die Zahl der Jahre bedeuten, da er sich doch geistig so jung fühlte, wie er vor zwanzig Jahren gewesen war! War es denn nicht ein jugendliches Gefühl, das er jetzt empfand, als er, aus dem Walde an einer anderen Stelle wieder an den Rand heraustretend, in dem hellen Lichte der schrägen Sonnenstrahlen Warjenkas anmutige Gestalt in dem gelben Kleide und mit dem Körbchen erblickte, wie sie leichten Schrittes an dem Stamm einer alten Birke vorüberging, und als dieser Eindruck von Warjenkas Erscheinung bei ihm in eins zusammenfloß mit dem des gelben Haferfeldes, das, von den schrägen Strahlen übergössen, ihn durch seine Schönheit überraschte, und hinter dem Felde mit dem des alten Waldes, der, mit gelben Flecken gesprenkelt, sich in der blauen Ferne verlor? Sein Herz empfand eine freudige Beklemmung. Ein Gefühl der Rührung ergriff ihn. Er fühlte, daß sein Entschluß gefaßt war. Warjenka, die sich soeben niedergekauert hatte, um einen Pilz aufzuheben, richtete sich mit einer geschmeidigen Bewegung wieder in die Höhe und blickte um sich. Sergei Iwanowitsch warf die Zigarre fort und ging entschlossenen Schrittes zu ihr hin.

Fußnoten

1 (frz.) ein junger Mann.


Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Anna Karenina. 3 Bde., Berlin 1957, Band 3, S. 17-20.
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