5

[20] ›Warwara Andrejewna, als ich noch sehr jung war, schuf ich mir ein Idealbild der Frau, die ich einst lieben würde und die ich mich glücklich schätzen würde, meine Gattin zu nennen. Ein langes Leben liegt bereits hinter mir, und jetzt zum ersten Male habe ich in Ihnen das gefunden, was ich suchte. Ich liebe Sie und biete Ihnen meine Hand an.‹

So sprach Sergei Iwanowitsch bei sich selbst, als er nur noch zehn Schritte von Warjenka entfernt war. Sie hatte sich auf die Knie niedergelassen, verteidigte mit vorgehaltenen Armen einen Pilz gegen Grigori und rief die kleine Mascha herbei.

»Hierher, hierher, ihr Kleinen! Hier sind viele!« rief sie mit ihrer angenehmen Altstimme.

Als sie Sergei Iwanowitsch herankommen sah, stand sie nicht auf und änderte auch ihre Haltung nicht; aber alles sagte ihm, daß sie seine Annäherung fühle und sich darüber freue.

»Nun, haben Sie etwas gefunden?« fragte sie, indem sie unter ihrem weißen Tuch hervor ihr hübsches, still lächelndes Gesicht ihm zuwandte.

»Nicht einen einzigen«, antwortete Sergei Iwanowitsch. »Und Sie?« Sie antwortete ihm nicht, da sie mit den Kindern zu tun hatte, die sie umringten.

»Nun noch den da neben dem Ästchen«, sagte sie zur kleinen Mascha und zeigte ihr einen kleinen Täubling, dessen pralles, rotes Hütchen querüber von einem trockenen Grashalm tief eingeschnitten war, unter dem er sich herausgearbeitet hatte. Warjenka stand auf, nachdem Mascha den Täubling aufgehoben hatte, der dabei in zwei auf der Bruchstelle weiße Hälften zerbrochen war. »Dieses Pilzesuchen erinnert mich an meine Kindheit«, sagte sie, während sie an Sergei Iwanowitschs Seite sich von den Kindern entfernte.

Einige Schritte gingen sie schweigend. Warjenka sah, daß er sprechen wollte; sie erriet, was er zu sagen beabsichtigte, und der Atem stockte ihr vor freudiger, bänglicher Erregung. Sie hatten sich schon so weit von den übrigen entfernt, daß niemand sie mehr hören konnte; aber er begann immer noch nicht zu sprechen. Warjenka hielt es für das Richtige, zu schweigen. Nach einem Stillschweigen ließ sich das, was sie sagen wollten, leichter sagen als nach irgendwelchen Bemerkungen über Pilze; aber gegen ihren eigenen Willen, ohne daß sie selbst wußte, wie es zuging, sagte sie:

»Also Sie haben nichts gefunden? Übrigens wachsen immer im Innern des Waldes weniger als am Rande.«[21]

Sergei Iwanowitsch seufzte und gab keine Antwort. Es war ihm ärgerlich, daß sie angefangen hatte, von den Pilzen zu reden. Er wollte nun wieder auf das zurückkommen, was sie kurz vorher von ihrer Kindheit gesagt hatte; aber wie gegen seinen eigenen Willen machte er, nachdem er ein Weilchen geschwiegen hatte, eine Bemerkung, die an ihre letzten Worte anknüpfte:

»Ich habe mir nur über die Steinpilze sagen lassen, daß sie vorzugsweise am Waldsaume wachsen; freilich weiß ich die Steinpilze nicht von anderen zu unterscheiden.«

Es vergingen noch einige Minuten; sie hatten sich von den Kindern noch weiter entfernt und waren nun völlig allein. Warjenkas Herz klopfte so stark, daß sie seine Schläge hörte, und sie fühlte, daß sie rot und blaß und wieder rot wurde.

Die Frau eines solchen Mannes wie Kosnüschew zu werden, das erschien ihr nach ihrer Stellung bei Frau Stahl als der Gipfel des Glückes. Außerdem war sie auch beinah davon überzeugt, daß sie ihn liebe. Und nun sollte es sich im nächsten Augenblick entscheiden. Ihr war bange zumute. Es war ihr bange vor dem, was er sagen werde, und auch bange davor, daß er nichts sagen werde.

Jetzt oder nie mußte er sich erklären; das fühlte auch Sergei Iwanowitsch. Alles an Warjenka ließ erkennen, daß sie in peinlicher Spannung wartete: ihr Blick, ihre Röte, die niedergeschlagenen Augen. Sergei Iwanowitsch blickte sie an, und sie dauerte ihn. Er fühlte sogar, wenn er jetzt nicht spräche, würde es eine Beleidigung für sie sein. Schnell wiederholte er sich im Geiste alle die Gründe, die für seinen Entschluß sprachen. Er wiederholte sich auch die Worte, mit denen er seinen Antrag vorbringen wollte; aber statt sie zu sagen, fragte er nach einer ihm ganz unerwartet im Kopfe auftauchenden Überlegung:

»Was ist eigentlich für ein Unterschied zwischen einem Steinpilz und einem Birkenpilz?«

Warjenkas Lippen bebten vor Erregung, als sie antwortete:

»Am Hute ist fast gar kein Unterschied, wohl aber am Stiel.« Sie zeigte ihm zwei Pilze.

Und sobald diese Worte gesprochen waren, wußten sie beide, sowohl er wie sie, daß die Sache aus war, daß das, was hätte gesagt werden sollen, nun nicht mehr gesagt werden würde, und die Aufregung beider, die vorher den höchsten Grad erreicht hatte, begann sich zu legen.

»Das ist also der Birkenpilz? Sein Stiel erinnert an den zwei Tage alten, unrasierten Bart eines brünetten Mannes«, sagte Sergei Iwanowitsch, nun schon in ruhigem Tone.

»Ja, das ist richtig«, antwortete Warjenka lächelnd, und unwillkürlich[22] änderte sich die Richtung ihres Spazierganges; sie näherten sich wieder mehr den Kindern. Warjenkas Herz zog sich schmerzlich zusammen, und eine gewisse Beschämung überkam sie; aber zugleich empfand sie auch ein Gefühl der Erleichterung.

Als Sergei Iwanowitsch nachher nach Hause zurückgekehrt war und alle Einzelheiten noch einmal erwog, fand er, daß seine Vernunfterwägung unrichtig gewesen war. Er war doch nicht imstande, dem Andenken seiner Marie untreu zu werden.

»Sachte, Kinder, sachte!« rief Ljewin ordentlich ärgerlich den Kindern zu und stellte sich vor seine Frau, um sie zu schützen, als die Kinderschar mit einem Freudengeschrei ihnen entgegenstürmte.

Nach den Kindern kamen auch Sergei Iwanowitsch und Warjenka aus dem Walde heraus. Kitty brauchte keine Frage an Warjenka zu richten; an dem ruhigen, ein wenig beschämten Gesichtsausdruck der beiden erkannte sie, daß die Pläne, die sie entworfen hatte, nicht zur Verwirklichung gelangt waren.

»Nun, wie steht's?« fragte ihr Mann sie, als sie sich wieder auf dem Heimweg befanden.

»Es ist kein Schwung dahinter«, antwortete Kitty. In ihrem Lächeln und in ihrer Ausdrucksweise erinnerte sie dabei an ihren Vater, eine Ähnlichkeit, die Ljewin an ihr oft mit Vergnügen bemerkte.

»Wie meinst du das?«

»Sieh mal, so!« erwiderte sie, ergriff die Hand ihres Mannes, führte sie an ihren Mund und berührte sie mit geschlossenen Lippen. »Geradeso, wie man einem Bischof die Hand küßt.«

»Bei wem ist denn kein Schwung dahinter?« fragte er lachend.

»Bei beiden nicht. Sieh mal, so müßten sie's machen ...«

»Da fahren Bauern ...«

»Ach was, die haben nichts gesehen.«

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Anna Karenina. 3 Bde., Berlin 1957, Band 3, S. 20-23.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Die Serapionsbrüder

Die Serapionsbrüder

Als Hoffmanns Verleger Reimer ihn 1818 zu einem dritten Erzählzyklus - nach den Fantasie- und den Nachtstücken - animiert, entscheidet sich der Autor, die Sammlung in eine Rahmenhandlung zu kleiden, die seiner Lebenswelt entlehnt ist. In den Jahren von 1814 bis 1818 traf sich E.T.A. Hoffmann regelmäßig mit literarischen Freunden, zu denen u.a. Fouqué und Chamisso gehörten, zu sogenannten Seraphinen-Abenden. Daraus entwickelt er die Serapionsbrüder, die sich gegenseitig als vermeintliche Autoren ihre Erzählungen vortragen und dabei dem serapiontischen Prinzip folgen, jede Form von Nachahmungspoetik und jeden sogenannten Realismus zu unterlassen, sondern allein das im Inneren des Künstlers geschaute Bild durch die Kunst der Poesie der Außenwelt zu zeigen. Der Zyklus enthält unter anderen diese Erzählungen: Rat Krespel, Die Fermate, Der Dichter und der Komponist, Ein Fragment aus dem Leben dreier Freunde, Der Artushof, Die Bergwerke zu Falun, Nußknacker und Mausekönig, Der Kampf der Sänger, Die Automate, Doge und Dogaresse, Meister Martin der Küfner und seine Gesellen, Das fremde Kind, Der unheimliche Gast, Das Fräulein von Scuderi, Spieler-Glück, Der Baron von B., Signor Formica

746 Seiten, 24.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon