[224] Nachdem Stepan Arkadjewitsch bei Bartnjanski vorzüglich gegessen und eine tüchtige Menge Kognak getrunken hatte, traf er nur wenig nach der ihm angegebenen Zeit in dem Hause der Gräfin Lydia Iwanowna ein.
»Wer ist noch bei der Gräfin? Der Franzose?« fragte er den Pförtner, als er den ihm wohlbekannten Überzieher Alexei Alexandrowitschs und einen sonderbaren, naiv wirkenden Überzieher mit Agraffen bemerkte.
»Alexei Alexandrowitsch Karenin und Graf Bessubow«, antwortete der Pförtner in strengem Tone.
›Also hat es die Fürstin Mjachkaja richtig getroffen‹, dachte Stepan Arkadjewitsch, während er die Treppe hinaufstieg. ›Sonderbar! Übrigens wäre es vielleicht ganz zweckmäßig, wenn ich näher mit ihr bekannt zu werden suchte. Sie hat einen großen Einfluß. Wenn sie sich bei Pomorski für mich verwendete, dann hätte ich die Stelle in der Tasche.‹
Es war draußen noch ganz hell; aber in dem kleinen Salon der Gräfin Lydia Iwanowna waren die Vorhänge herabgelassen und die Lampen angezündet.
An einem runden Tisch mit einer Hängelampe saßen die Gräfin und Alexei Alexandrowitsch in leisem Gespräch miteinander. Ein kleiner, schmächtiger Mensch mit weiblicher Beckenbildung und nach innen gebogenen Knien, sehr blaß, von hübscher[224] Gesichtsbildung, mit schönen, glänzenden Augen und mit langen Haaren, die ihm auf dem Rockkragen lagen, stand am anderen Ende des Zimmers und betrachtete die an der Wand hängenden Bildnisse.
Nach der Begrüßung mit der Hausfrau und mit Alexei Alexandrowitsch blickte Stepan Arkadjewitsch unwillkürlich noch einmal nach dem Unbekannten.
»Monsieur Landau!« wandte sich die Gräfin an diesen in einem so weichen, behutsamen Ton, daß Oblonski ganz überrascht war. Sie stellte die beiden einander vor.
Landau, der sich schnell umgewendet hatte und näher herangekommen war, legte lächelnd seine regungslose, schweißfeuchte Hand in die ihm entgegengestreckte Hand Stepan Arkadjewitschs, trat dann aber sogleich wieder weg und fuhr fort, die Bildnisse anzusehen. Die Gräfin und Alexei Alexandrowitsch wechselten miteinander bedeutsame Blicke.
»Ich freue mich sehr, Sie wiederzusehen, und ganz besonders heute«, sagte die Gräfin Lydia Iwanowna zu Stepan Arkadjewitsch und wies ihm einen Platz neben Karenin an.
»Ich habe ihn Ihnen unter dem Namen Landau vorgestellt«, sagte sie leise, indem sie nach dem Franzosen blickte und dann sofort Alexei Alexandrowitsch ansah, »aber er heißt eigentlich Graf Bessubow, wie Sie wahrscheinlich wissen. Nur hört er diesen Titel nicht gern.«
»Ja, ich habe es gehört«, antwortete Stepan Arkadjewitsch. »Man sagt, er habe die Gräfin Bessubowa vollständig geheilt.«
»Sie war heute bei mir; sie hat mir furchtbar leid getan!« wandte sich die Gräfin an Alexei Alexandrowitsch. »Diese Trennung ist für sie etwas Entsetzliches. Das ist ein schwerer Schlag für sie!«
»Ist seine Abreise denn endgültig beschlossen?« fragte Alexei Alexandrowitsch.
»Ja, er fährt nach Paris. Er hat gestern eine Stimme gehört«, sagte die Gräfin Lydia Iwanowna und blickte dabei Stepan Arkadjewitsch an.
»Ach, eine Stimme!« sprach Oblonski ihr nach; er sagte sich, daß er in dieser Gesellschaft möglichst vorsichtig sein müsse, wo etwas vorgehe oder vorgehen solle, wozu er noch keinen Schlüssel habe.
Es trat ein Stillschweigen ein, das wohl eine Minute dauerte. Dann sagte die Gräfin Lydia Iwanowna, wie wenn sie nun zum Hauptgegenstand des Gesprächs überginge, mit einem feinen Lächeln zu Oblonski:
»Ich kenne Sie schon lange und freue mich recht, Sie nun noch[225] näher kennenzulernen. Les amis de nos amis sont nos amis.1 Aber um ein wahrer Freund zu sein, muß man sich in den Seelenzustand des Freundes versetzen, und ich fürchte, daß Sie das bei Alexei Alexandrowitsch nicht tun. Sie verstehen, wovon ich rede«, fügte sie hinzu und schlug ihre schönen, schwärmerischen Augen zu ihm auf.
»Ich verstehe zum Teil, Gräfin, daß Alexei Alexandrowitschs Lage ...«, erwiderte Oblonski, der nicht recht wußte, was sie eigentlich meinte, und sich daher auf allgemeine Wendungen beschränken wollte.
»In seiner äußeren Lage ist keine Veränderung eingetreten«, versetzte die Gräfin Lydia Iwanowna in strengem Tone und verfolgte gleichzeitig mit einem verliebten Blick Alexei Alexandrowitsch, der aufgestanden war und zu Landau hinging. »Sein Herz hat eine Umwandlung durchgemacht, es ist ihm ein neues Herz gegeben worden, und ich fürchte, daß Sie sich nicht völlig in die Veränderung hineingedacht haben, die mit ihm vorgegangen ist.«
»Das heißt, in allgemeinen Zügen vermag ich mir diese Veränderung doch vorzustellen. Wir sind immer befreundet gewesen, und jetzt ...«, sagte Stepan Arkadjewitsch und erwiderte den Blick der Gräfin seinerseits mit einem zärtlichen Blicke. Er überlegte dabei auch, welchem der beiden Minister sie wohl näherstehen möge, um zu wissen, bei welchem von ihnen er sie um ihre Fürsprache bitten solle.
»Durch die Veränderung, die mit ihm vorgegangen ist, kann in seinem Herzen das Gefühl der Nächstenliebe nicht abgeschwächt werden, sondern es muß im Gegenteil dadurch notwendig noch zunehmen. Aber ich fürchte, daß Sie mich nicht verstehen. Ist Ihnen nicht Tee gefällig?« fragte sie und deutete mit den Augen auf den Diener, der auf einem Tablett Tee anbot.
»Nicht so ganz, Gräfin. Natürlich, sein Unglück ...«
»Ja, ein Unglück, das für ihn das größte Glück geworden ist, da sein Herz sich erneuert hat und nun Seiner voll ist«, unterbrach sie ihn und blickte ihn verliebt an.
›Ich meine, ich kann sie bitten, bei beiden ein gutes Wort für mich einzulegen‹, dachte Stepan Arkadjewitsch.
»O gewiß, Gräfin«, erwiderte er. »Aber ich denke, diese Veränderungen sind von so tiefinnerlicher Art, daß niemand, nicht einmal jemand, der ihm besonders nahesteht, gern davon spricht.«
»Im Gegenteil! Wir müssen davon sprechen und einer dem andern helfen.«[226]
»Ja, ohne Zweifel; aber die Anschauungen sind oft so stark verschieden, und außerdem ...«, versetzte Oblonski mit einem weichen Lächeln.
»Wo es sich um die heilige Wahrheit handelt, kann es keine Verschiedenheit der Anschauungen geben.«
»Gewiß nicht; aber ...« Hier geriet Stepan Arkadjewitsch in Verlegenheit und verstummte. Er merkte, daß von Religion die Rede war.
»Ich glaube, er wird gleich einschlafen«, sagte in bedeutsamem Flüstertone Alexei Alexandrowitsch, der wieder zu Lydia Iwanowna trat.
Stepan Arkadjewitsch sah sich um. Landau saß am Fenster, sich mit den Ellbogen auf die Armlehnen und gegen die Rückenlehne des Sessels stützend; den Kopf hielt er gesenkt. Als er die auf ihn gerichteten Blicke bemerkte, hob er den Kopf in die Höhe und lächelte in kindlich einfältiger Weise.
»Achten Sie nicht auf ihn«, sagte Lydia Iwanowna und rückte mit einer leichten Bewegung einen Stuhl für Alexei Alexandrowitsch zurecht. »Ich habe bemerkt ...«, begann sie, aber da trat gerade der Diener mit einem Brief ins Zimmer. Lydia Iwanowna überflog eilig mit den Augen den Inhalt und schrieb dann, die Herren um Entschuldigung bittend, am Schreibtisch mit außerordentlicher Schnelligkeit eine Antwort, übergab sie dem Diener und kehrte an den runden Tisch zurück. »Ich habe bemerkt«, setzte sie den angefangenen Satz fort, »daß die Moskauer, namentlich die Männer, in religiösen Dingen eine ganz auffallende Gleichgültigkeit an den Tag legen.«
»O nicht doch, Gräfin. Ich meine, die Moskauer stehen gerade in dem Rufe besonderen Ernstes in Glaubenssachen«, entgegnete Stepan Arkadjewitsch.
»Nun, soweit ich das beurteilen kann, gehören gerade Sie leider zu den Gleichgültigen«, sagte, sich zu ihm wendend, Alexei Alexandrowitsch mit müdem Lächeln.
»Wie kann man nur gleichgültig sein!« bemerkte Lydia Iwanowna.
»Ich bin in dieser Hinsicht nicht eigentlich gleichgültig, sondern im Zustande des Wartens«, erwiderte Stepan Arkadjewitsch mit seinem sanftesten, gewinnendsten Lächeln. »Ich glaube nicht, daß für mich schon die Zeit gekommen ist, mich in diese Gedanken zu vertiefen.«
Alexei Alexandrowitsch und Lydia Iwanowna wechselten einen Blick miteinander.
»Wir können niemals wissen, ob für uns die Zeit gekommen ist oder nicht«, versetzte Alexei Alexandrowitsch streng. »Wir[227] dürfen nicht überlegen, ob wir bereit sind oder nicht; die himmlische Gnade läßt sich nicht durch Erwägungen, die der Mensch anstellt, leiten; manchmal bleibt sie denen fern, die sich nach ihr mühen, und wendet sich zu denen, die es nicht erwartet haben, wie zu Saulus.«
»Nein, es ist doch wohl noch nicht soweit«, sagte Lydia Iwanowna, die unterdes die Bewegungen des Franzosen mit den Augen verfolgt hatte. Landau stand auf und trat zu ihnen.
»Ist es erlaubt, zuzuhören?« fragte er.
»O gewiß, ich wollte Sie nur nicht stören«, antwortete Lydia Iwanowna und sah ihn zärtlich an. »Setzen Sie sich zu uns.«
»Man muß nur die Augen geöffnet halten, um nicht des Lichtes, wenn es kommt, unteilhaftig zu bleiben«, fuhr Alexei Alexandrowitsch fort.
»Ach, wenn Sie die Glückseligkeit kennten, die uns das Bewußtsein Seiner immerwährenden Anwesenheit in unserer Seele verleiht!« sagte die Gräfin Lydia Iwanowna mit einem entzückten Lächeln.
»Aber der Mensch fühlt sich manchmal unfähig, sich zu einer solchen Höhe zu erheben«, bemerkte Stepan Arkadjewitsch. Er war sich zwar bewußt, daß er wider sein Gewissen handelte, indem er ein Schweben der Seele in so hohen Regionen als möglich zugab; aber doch konnte er sich nicht entschließen, sich als Freidenker einer Person gegenüber zu bekennen, die nur ein Wort zu Pomorski zu sagen brauchte, um ihm die gewünschte Stelle zu verschaffen.
»Das heißt, Sie wollen sagen, daß ihn die Sünde daran hindert?« fragte Lydia Iwanowna. »Aber das ist eine unrichtige Anschauung. Für die Gläubigen gibt es keine Sünde; die Sünde ist schon abgebüßt. Verzeihung«, fügte sie mit einem Blick auf den Diener hinzu, der wieder mit einem zweiten Brief ins Zimmer trat. Sie las den Brief und erledigte die Beantwortung mündlich: »Sagen Sie: morgen, bei der Großfürstin.« Dann fuhr sie in dem Gespräche fort: »Für den Gläubigen gibt es keine Sünde.«
»Ja, aber der Glaube ohne Werke ist tot«, erwiderte Stepan Arkadjewitsch, der sich aus dem Religionsunterrichte an diesen Satz erinnerte; seine unabhängige Stellung suchte er jetzt nur noch durch ein Lächeln zu wahren.
»Da haben wir's! Die bekannte Stelle aus der Epistel des Apostels Jakobus!« sagte Alexei Alexandrowitsch, sich zu Lydia Iwanowna wendend; aus seinen Worten klang eine Art von Vorwurf heraus, und es war klar, daß sie über diesen Gegenstand schon wiederholt gesprochen hatten. »Wieviel Schaden[228] hat die falsche Auslegung dieser Stelle nicht schon angerichtet! Nichts ist in höherem Grade geeignet, vom Glauben abzuhalten, als diese Auslegung. ›Ich habe keine Werke, also kann ich auch nicht glauben.‹ Und doch ist das nirgends gesagt, sondern vielmehr gerade das Gegenteil.«
»Sich für Gott abmühen und durch Arbeit und Fasten seine Seele zu retten suchen«, sagte die Gräfin Lydia Iwanowna im Tone des Widerwillens und der Geringschätzung, »das sind die rohen Vorstellungen unserer Mönche ... Und doch ist das in der Heiligen Schrift nirgends gesagt. Die Sache ist weit einfacher und leichter«, fügte sie hinzu und sah Oblonski mit demselben ermutigenden Lächeln an, mit dem sie bei Hofe die jungen, durch die neue Umgebung verschüchterten Hofdamen zu ermutigen pflegte.
»Wir sind erlöst durch Christus, der für uns gelitten hat. Wir sind erlöst durch den Glauben«, fügte Alexei Alexandrowitsch bekräftigend hinzu, nachdem er schon vorher ihren Worten durch seine Blicke Beifall gezollt hatte.
»Vous comprenez l'anglais?«2 fragte Lydia Iwanowna, und als sie eine bejahende Antwort erhalten hatte, stand sie auf und suchte unter den Büchern auf einem Bücherbrett. »Ich möchte Ihnen Safe and Happy oder Under the Wing3 vorlesen«, sagte sie mit einem fragenden Blick auf Karenin. Und nachdem sie das Buch gefunden und sich wieder auf ihren Platz gesetzt hatte, schlug sie es auf. »Es ist ganz kurz. Hier ist der Weg beschrieben, auf dem man zum Glauben und zu jener hoch über allem Irdischen stehenden Glückseligkeit gelangt, die dabei unsere Seele erfüllt. Der Gläubige kann nicht unglücklich sein, weil er nicht allein ist. Aber Sie werden gleich selbst sehen.« Sie wollte eben anfangen zu lesen, als schon wieder der Diener hereinkam: wann sie Herrn Borosdin empfangen wolle. »Herrn Borosdin? Sagen Sie: morgen um zwei Uhr. – Ja«, sagte sie, indem sie den Finger an der betreffenden Stelle als Lesezeichen im Buche hielt und mit ihren sinnenden, schönen Augen vor sich hinblickte. »Da sieht man, wie der wahre Glaube wirkt. Kennen Sie Marja Sanina? Wissen Sie von ihrem Unglück? Sie hat ihr einziges Kind verloren. Sie war in Verzweiflung. Nun, und was geschah? Sie hat diesen Freund gefunden, und nun dankt sie Gott für den Tod ihres Kindes. Das ist das Glück, das der Glaube verleiht!«
»O gewiß, das ist höchst ...«, begann Stepan Arkadjewitsch, der ganz zufrieden damit war, daß nun vorgelesen werden sollte und er so die Möglichkeit haben werde, seine Gedanken ein bißchen zu sammeln. ›Nein‹, dachte er, ›es ist doch wohl[229] besser, wenn ich sie heute nicht um ihre Fürsprache bitte. Wenn ich nur mit guter Art von hier wegkommen könnte!‹
»Sie werden sich langweilen«, sagte die Gräfin Lydia Iwanowna, zu Landau gewendet, »da Sie kein Englisch verstehen. Aber es ist ganz kurz.«
»Oh, ich werde es schon verstehen«, erwiderte Landau mit seinem üblichen Lächeln und schloß die Augen.
Alexei Alexandrowitsch und Lydia Iwanowna warfen einander einen bedeutsamen Blick zu, und die Vorlesung begann.
1 (frz.) Die Freunde unserer Freunde sind auch unsere Freunde.
2 (frz.) Verstehen Sie englisch?
3 (engl.) Geborgen und glücklich oder Unter dem Flügel.
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