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[247] Noch nie hatte bei ihnen ein Streit einen ganzen Tag gedauert. Heute war dies zum ersten Male geschehen. Und das war nicht ein bloßer Streit gewesen, sondern ein offenes Bekenntnis völliger Erkaltung. Wie hatte er nur, fragte sich Anna, es fertigbringen können, sie so anzublicken, wie er sie angeblickt hatte, als er ins Zimmer gekommen war, um den Stammbaum zu holen? Sie anzublicken, zu sehen, daß ihr das Herz vor Verzweiflung brach, und schweigend mit diesem gleichmütigen, ruhigen Gesicht hinauszugehen? Er war nicht nur kalt gegen sie, sondern er haßte sie, weil er eine andere Frau liebte; das war sonnenklar, dachte Anna.

Und während sie sich alle die grausamen Worte ins Gedächtnis zurückrief, die er gesagt hatte, dachte sie sich dazu noch Worte aus, die er offenbar hatte sagen wollen und zu sagen fähig gewesen war, und geriet immer mehr und mehr in Erregung.

›Ich halte Sie nicht‹, hätte er sagen können. ›Sie können gehen, wohin Sie wollen. Sie haben sich von Ihrem Manne wahrscheinlich deswegen nicht scheiden lassen wollen, um nötigenfalls zu ihm zurückkehren zu können. Nun, kehren Sie also zu ihm zurück! Wenn Sie Geld brauchen, will ich Ihnen welches geben. Wieviel Rubel brauchen Sie?‹

Die grausamsten Worte, die ein roher Mensch nur überhaupt hätte sagen können, ließ sie ihn in ihrer Einbildung zu ihr sagen und verzieh sie ihm nicht, wie wenn er sie wirklich gesagt hätte.

›Aber hat er mir nicht erst gestern noch seine Liebe beteuert? Und er ist doch ein wahrheitsliebender, ehrenhafter Mann. Habe ich mich nicht schon oft unnötigerweise der Verzweiflung überlassen?‹ sagte sie sich trotzdem bald darauf.

Diesen ganzen Tag, mit Ausnahme einer zwei Stunden in Anspruch nehmenden Fahrt zu der Schneiderin Wilson, verbrachte Anna in Zweifeln, ob alles zu Ende sei oder noch Hoffnung auf eine Aussöhnung bestehe, und ob sie sofort wegfahren oder noch einmal mit ihm sprechen solle. Sie wartete den ganzen Tag auf ihn, und als sie am Abend auf ihr Zimmer ging und Befehl gab, ihm zu melden, daß sie Kopfschmerzen habe, suchte sie in folgender[247] Weise ins klare zu kommen: ›Wenn er trotz der Meldung des Mädchens kommt, so bedeutet das, daß er mich noch liebt. Kommt er nicht, so bedeutet das, daß alles zu Ende ist, und dann werde ich mich entscheiden, was ich zu tun habe! ...‹

Sie hörte am Abend das Geräusch, als sein Wagen vorfuhr und hielt, sein Klingeln, seine Schritte, und wie er mit dem Mädchen sprach. Er glaubte, was ihm gemeldet wurde, fühlte kein Bedürfnis, noch Weiteres in Erfahrung zu bringen, und begab sich auf sein Zimmer. Folglich war alles zu Ende.

Klar und deutlich stand ihr der Tod als das einzige Mittel vor Augen, um in seinem Herzen die Liebe zu ihr wieder zu erwecken, ihn zu bestrafen und den Sieg in dem Kampfe zu behaupten, den sie oder vielmehr der in ihrem Herzen hausende böse Geist mit diesem Manne führte.

Jetzt war es ganz gleich, ob sie nach Wosdwischenskoje fuhr oder nicht, ob sie von ihrem Manne die Scheidung erlangte oder nicht; all das war nicht von Wichtigkeit. Nur eines war wichtig und notwendig: er mußte bestraft werden.

Als sie sich die gewohnte Dosis Opium eingoß und überlegte, daß sie nur das ganze Fläschchen auszutrinken brauche, um zu sterben, da erschien ihr das als eine so leichte, einfache Sache, daß sie wieder mit einem gewissen Genuß daran dachte, wie er sich grämen und sein Verhalten bereuen und ihrer in Liebe gedenken werde, wenn es nun zu spät sein würde. Sie lag mit offenen Augen im Bett und blickte beim Licht einer einzigen, tief herabgebrannten Kerze nach den Stuckverzierungen der Zimmerdecke und nach dem Schatten des Bettschirms, der einen Teil der Decke verdunkelte, und stellte sich lebhaft seine Empfindungen vor, wenn sie nun nicht mehr leben und für ihn nur noch eine Erinnerung sein würde. ›Wie habe ich nur so grausame Worte zu ihr sprechen können?‹ würde er sagen. ›Wie habe ich aus dem Zimmer gehen können, ohne mit ihr zu sprechen. Aber jetzt ist sie dahin. Sie ist für allezeit von uns gegangen. Sie ist dort ...‹ Plötzlich begann der Schatten des Bettschirms zu schwanken und dehnte sich über das ganze Gesims und die ganze Zimmerdecke aus; andere Schatten liefen ihm von der anderen Seite her entgegen; für einen Augenblick huschten die Schatten wieder davon; aber dann rückten sie von neuem mit erhöhter Geschwindigkeit heran, zuckten hin und her, flossen zusammen, und alles wurde dunkel. ›Das ist der Tod!‹ dachte sie. Und es packte sie eine solche Angst, daß sie lange nicht darüber ins klare kommen konnte, wo sie eigentlich war, und lange nicht imstande war, mit den zitternden Händen die Streichhölzer zu finden und eine andere Kerze für die heruntergebrannte[248] und erloschene anzuzünden. ›Nein, alles, alles – nur leben, leben! Ich liebe ihn ja. Und er liebt mich ja auch. Dieser Streit ist abgetan und wird verklingen‹, sagte sie bei sich und fühlte, wie Tränen der Freude über die Rückkehr zum Leben über ihre Wangen liefen. Und um sich vor ihrer Angst zu retten, ging sie rasch zu ihm in sein Zimmer.

Er lag dort in festem Schlafe. Sie trat zu ihm heran, beleuchtete sein Gesicht von oben her und betrachtete es lange. Jetzt, wo er schlafend vor ihr lag, liebte sie ihn so, daß sie bei seinem Anblick Tränen der Zärtlichkeit nicht zurückhalten konnte; aber sie wußte, daß, wenn er jetzt aufwachte, er sie im Gefühl seines Rechtes mit kaltem Blick ansehen würde, und daß sie, bevor sie zu ihm von ihrer Liebe sprechen könnte, ihm zuerst würde beweisen müssen, wie sehr er ihr gegenüber im Unrecht sei. So kehrte sie, ohne ihn geweckt zu haben, in ihr Zimmer zurück und versank nach einer zweiten Dosis Opium gegen Morgen in einen schweren Halbschlaf, währenddessen sie sich ihrer selbst die ganze Zeit über bewußt blieb.

Ein schrecklicher Traum, der sich bei ihr schon mehrmals, noch vor der Verbindung mit Wronski, wiederholt hatte, ängstigte sie gegen Morgen wieder einmal und weckte sie auf: Ein altes Männchen mit wirrem Barte bückte sich über allerlei Eisenwerk und nahm damit irgend etwas vor, wobei er sinnlose französische Worte vor sich hinredete; und wie immer bei diesem Traume fühlte sie (und eben dies war das Beängstigende), daß dieser Mensch sie gar nicht beachtete, obwohl er seine furchtbare Tätigkeit an dem Eisen über ihrem Körper ausführte. Sie erwachte in kalten Schweiß gebadet.

Als sie aufstand, erinnerte sie sich an den gestrigen Tag nur wie durch einen Nebel.

›Es hat ein Streit stattgefunden. Dergleichen ist schon mehrmals vorgekommen. Ich habe ihm sagen lassen, ich hätte Kopfschmerzen, und er ist nicht mehr zu mir hereingekommen. Morgen reisen wir ab; ich muß mit ihm sprechen und mich zur Abreise fertigmachen‹, sagte sie zu sich selbst. Als sie erfuhr, daß er in seinem Zimmer sei, ging sie zu ihm hin. Während sie durch das Besuchszimmer ging, hörte sie, daß vor der Haustür ein Wagen anhielt; sie sah durch das Fenster und erblickte eine Kutsche, aus der sich ein junges Mädchen mit einem lila Hut herausbeugte; das junge Mädchen rief dem Diener, der die Klingel zog, einen Befehl zu. Nachdem im Hausflur ein paar Worte gewechselt waren, kam jemand herauf, und in dem an das Besuchszimmer anstoßenden Raum wurden Wronskis Schritte vernehmbar. Er ging eilig die Treppe hinab. Anna trat wieder[249] ans Fenster. Da kam er ohne Hut aus der Haustür heraus und trat zum Wagen. Das junge Mädchen mit dem lila Hut überreichte ihm ein Päckchen. Wronski sagte lächelnd einige Worte zu ihr. Der Wagen fuhr davon, und Wronski ging rasch wieder ins Haus zurück und stieg die Treppe hinauf.

Der Nebel, der in ihrer Seele alles bedeckt hatte, teilte sich plötzlich. Die gestrigen Gefühle preßten ihr mit neuem Schmerz das kranke Herz zusammen. Sie konnte jetzt nicht begreifen, wie sie sich hatte so weit entwürdigen können, nach dem Streit noch einen ganzen Tag mit ihm in seinem Hause zuzubringen. Sie trat zu ihm ins Zimmer, um ihm ihren Entschluß mitzuteilen.

»Da kam eben die Fürstin Sorokina mit ihrer Tochter vorgefahren und brachte mir von maman das Geld und die Papiere. Ich hatte sie gestern noch nicht bekommen können. Was macht dein Kopf? Geht es besser?« fragte er in ruhigem Ton; den düsteren, feierlichen Ausdruck ihres Gesichts wollte er nicht sehen und nicht verstehen.

Mitten im Zimmer stehend, blickte sie ihn stumm und unverwandt an. Er schaute nach ihr hin, machte für einen Augenblick ein finsteres Gesicht und fuhr dann fort, den Brief, den er erhalten hatte, zu lesen. Sie wandte sich um und ging langsam zur Tür. Noch konnte er sie zurückrufen; aber sie war schon bis zur Tür gelangt, und er schwieg immer noch, und es war nichts zu hören als das knisternde Geräusch beim Umwenden des Blattes.

»Ja, was ich noch sagen wollte«, sagte er in dem Augenblick, als sie schon in der Tür war, »es ist doch endgültig, daß wir morgen reisen? Nicht wahr?«

»Sie mögen wohl reisen, aber nicht ich«, erwiderte sie, sich ihm zuwendend.

»Anna, so können wir nicht weiterleben ...«

»Sie mögen wohl reisen, aber nicht ich«, sagte sie noch einmal.

»Das wird unerträglich!«

»Sie ... Sie werden es bereuen«, sagte sie und ging hinaus.

Erschrocken über den Ausdruck von Verzweiflung, mit dem sie diese Worte gesprochen hatte, sprang er auf und wollte ihr nacheilen; aber er besann sich und setzte sich mit fest zusammengepreßten Zähnen und gerunzelter Stirn wieder hin. Diese, wie er fand, unpassende Drohung mit irgend etwas empörte ihn. ›Ich habe alles mögliche versucht‹, dachte er. ›Es bleibt nur noch ein Mittel übrig: sich nicht darum zu kümmern.‹ Darauf machte er sich fertig, um in die Stadt und noch einmal zu seiner Mutter zu fahren, von der er sich noch die Unterschrift unter die Kreditbriefe geben lassen mußte.[250]

Sie hörte den Schall seiner Schritte in seinem Arbeitszimmer und im Eßzimmer. An der Tür des Besuchszimmers blieb er stehen. Aber er kam nicht zu ihr zurück, sondern gab nur Befehl, den Hengst in seiner Abwesenheit Woitow zu übergeben. Dann hörte sie, wie der Wagen vorfuhr, wie die Haustür geöffnet wurde und er hinausging. Aber da kam er wieder in den Flur zurück, und es lief jemand die Treppe hinauf. Es war der Kammerdiener, der die vergessenen Handschuhe holte. Sie trat ans Fenster und sah, wie er ohne hinzublicken die Handschuhe nahm, den Kutscher am Rücken berührte und ihm etwas sagte. Dann setzte er sich, ohne einen Blick nach den Fenstern zu werfen, in seiner gewöhnlichen Haltung, das eine Bein über das andere geschlagen, im Wagen zurecht und verschwand, mit dem Anziehen des einen Handschuhs beschäftigt, hinter der nächsten Straßenecke.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Anna Karenina. 3 Bde., Berlin 1957, Band 3, S. 247-251.
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