[261] ›Ja, da bin ich wieder im Wagen! Jetzt verstehe ich wieder alles!‹ sagte Anna zu sich, sobald der Wagen sich in Bewegung gesetzt hatte und schaukelnd über die kleinen Steine des Straßenpflasters dahinrasselte. Und wieder begannen allerlei Eindrücke sich in ihrem Geiste abzulösen.
›Ja, ich dachte doch zuletzt noch an etwas Hübsches; was war das nur?‹ fragte sie sich und gab sich Mühe, sich zu erinnern. ›Tjutkin, coiffeur? Nein, das war es nicht. Ach ja, ich dachte an das, was Jaschwin sagte: »Der Kampf ums Dasein und der Haß, das ist das einzige, was die Menschen miteinander verbindet.« Ach, es ist ganz zwecklos, daß ihr da hinausfahrt‹, sagte sie in Gedanken zu einer Gesellschaft in einem Vierspänner, die offenbar nach irgendeinem Lokale vor dem Tore fuhr, um sich dort zu vergnügen. ›Auch der Hund, den ihr mitgenommen habt, wird euch nichts nützen. Euch selbst könnt ihr doch nicht entfliehen.‹ Als sie einen Blick nach der Seite warf, wohin sich Peter umdrehte, sah sie einen sinnlos betrunkenen Fabrikarbeiter, der seinen Kopf kraftlos hin und her wackeln ließ und von einem Schutzmann weggeführt wurde. ›Da, von dem könnte man noch am ehesten sagen, daß er sich selbst entflohen ist‹, dachte sie. ›Aber ich und Graf Wronski, wir haben dieses Vergnügen ebensowenig kennengelernt wie die meisten anderen Menschen; und[261] doch hatten wir uns soviel davon versprochen.‹ Und Anna richtete jetzt zum ersten Male die scharfe Beleuchtung, in der sie nun alles sah, auf ihr Verhältnis zu ihm, über das sie früher vermieden hatte nachzudenken. ›Was hat er bei mir gesucht? Nicht sosehr Liebe wie Befriedigung seiner Eitelkeit.‹ Sie rief sich sein Benehmen in der ersten Zeit ihrer Beziehungen ins Gedächtnis zurück: seine Worte, seinen Gesichtsausdruck, der sie an einen gehorsamen Hühnerhund erinnert hatte. Und in allem fand sie eine Bestätigung ihrer jetzigen Auffassung. ›Ja, seine Eitelkeit war stolz auf den errungenen Sieg. Natürlich, es war auch Liebe dabei; aber das Hauptstück seiner Empfindung war Stolz auf den Erfolg. Er prahlte mit ihr. Das ist jetzt vorüber. Es ist nichts da, worauf er stolz sein könnte. Da ist kein Anlaß mehr, auf mich stolz zu sein, wohl aber sich meiner zu schämen. Er hat mir alles genommen, was er mir nehmen konnte, und jetzt hat er mich nicht mehr nötig. Er empfindet mich als Last und ist nur noch darauf bedacht, in seinem Verhältnis zu mir nicht zu einem Ehrlosen zu werden. Gestern sagte er unversehens ein Wort zuviel: er wünschte die Scheidung und die Ehe, um seine Schiffe hinter sich zu verbrennen. Er liebt mich; aber wie? The zest is gone.1 Der da will alle Leute in Staunen versetzen und ist mit sich selbst sehr zufrieden‹, dachte sie beim Anblick eines rotbackigen Kommis, der auf einem Mietgaul ritt. ›Ja, ich sage ihm nicht mehr sonderlich zu. Wenn ich von ihm weggehe, wird er im Grunde seines Herzens darüber froh sein.‹
Und das war keine bloße Vermutung für sie, sondern sie erkannte das mit aller Klarheit in der scharfen Beleuchtung, in der sich ihr jetzt der Sinn des Lebens und der menschlichen Wechselbeziehungen erschloß.
›Meine Liebe wird immer leidenschaftlicher und selbstsüchtiger, und die seinige schwindet immer mehr dahin, und das ist der Grund, weshalb wir auseinandergeraten‹, fuhr sie in ihren Überlegungen fort. ›Und da ist nicht zu helfen. Mir ist er mein ein und alles, und ich verlange auch von ihm völlige Hingabe an mich. Sein Streben dagegen ist darauf gerichtet, sich immer mehr von mir loszulösen. Vor unserer Verbindung kamen wir einander entgegen; aber seitdem gehen wir unaufhaltsam nach entgegengesetzten Seiten auseinander. Und eine Änderung läßt sich darin nicht herbeiführen. Er sagt mir, ich sei von einer sinnlosen Eifersucht, und dasselbe habe auch ich mir gesagt. Aber es ist nicht wahr: ich bin nicht eifersüchtig, sondern unzufrieden. Aber ...‹ Sie öffnete den Mund und setzte sich im Wagen auf einen anderen Platz infolge der Aufregung, in die ein plötzlich in ihr auftauchender Gedanke sie versetzte. ›Ja, wenn ich[262] imstande wäre, etwas anderes zu sein als die Geliebte, die nur nach seinen Liebkosungen leidenschaftlich verlangt! Aber ich kann und will nichts anderes sein. Und durch dieses Verlangen nach Liebe errege ich bei ihm ein Gefühl der Abneigung, und dadurch wächst bei mir ein Ingrimm heran, und das ist gar nicht anders möglich. Ich weiß ja, daß er mich nicht hintergehen würde, daß er keine Absichten auf die Prinzessin Sorokina hat, daß er nicht in Kitty verliebt ist, daß er mir nicht untreu werden wird. Das weiß ich alles; aber dadurch wird mir nicht leichter ums Herz. Ist er, ohne mich zu lieben, zwar aus Pflichtgefühl gut und zärtlich gegen mich, fehlt aber dabei eben das, wonach ich verlange, so ist das schlimmer, tausendmal schlimmer als wechselseitiger Groll! Das ist die Hölle! Und geradeso ist es bei uns. Er liebt mich schon längst nicht mehr. Wo aber die Liebe aufhört, da beginnt der Haß ... Diese Straßen kenne ich ja gar nicht. Bergauf, bergab, und überall Häuser und Häuser ... Und in den Häusern überall Menschen und Menschen ... Wie viele Menschen gibt es da, endlos viele, und alle hassen sie einander. Nun, ich könnte mir ja einmal überlegen, was ich mir wohl wünschen möchte, um glücklich zu sein. Nun, was denn also? Ich erlange die Scheidung; Alexei Alexandrowitsch überläßt mir Sergei, und ich heirate Wronski.‹ Bei der Erinnerung an Alexei Alexandrowitsch glaubte sie ihn auf einmal mit außerordentlicher Deutlichkeit wie lebend vor sich zu sehen, mit seinen sanften, matten, halb erloschenen Augen, mit den blauen Adern auf den weißen Händen, mit dem eigentümlichen Tonfall seiner Stimme und dem Knacken seiner Finger; und als sie dabei an das Gefühl dachte, das zwischen ihnen bestanden hatte und das gleichfalls Liebe genannt worden war, da zuckte sie vor Ekel zusammen. ›Also ich erlange die Scheidung und werde Wronskis Frau. Ob mich Kitty dann wohl mit anderen Augen ansehen wird als heute? Nein. Und wird Sergei dann aufhören, sich danach zu erkundigen und darüber nachzudenken, welche Bewandtnis es mit meinen beiden Männern hat? Und welches neue Gefühl könnte ich mir dann zwischen mir und Wronski aussinnen? Ist denn irgendein, ich will gar nicht sagen Glück, sondern auch nur Freisein von Qual möglich? Nein und abermals nein!‹ gab sie sich selbst ohne das leiseste Schwanken zur Antwort. ›Es ist unmöglich! Wir werden lebenslänglich nach verschiedenen Seiten gehen, und ich werde ihn unglücklich machen und er mich, und weder er wird sich ändern lassen noch ich mich. Alle möglichen Versuche sind bereits angestellt; die Schraube ist überdreht ... Da sitzt eine Bettlerin mit einem kleinen Kinde; sie meint, sie werde Mitleid[263] erregen. Aber sind wir denn nicht allesamt in diese Welt hineingeworfen, nur um einander zu hassen und dadurch uns und anderen Qual zu bereiten? Da gehen Gymnasiasten; sie lachen. Und mein Sergei?‹ dachte sie dabei. ›Den habe ich ebenfalls zu lieben geglaubt und war ordentlich gerührt über meine eigene Zärtlichkeit. Und doch habe ich auch ohne ihn gelebt und habe ihn gegen eine andere Liebe hingegeben und diesen Tausch nicht bereut, solange mich jene andere Liebe befriedigte.‹ Und mit Abscheu erinnerte sie sich an das, was sie jene andere Liebe nannte. Und die Klarheit, mit der sie jetzt ihr eigenes Leben und das Leben aller Menschen sah und durchschaute, bereitete ihr Freude. ›So geht es mit mir, und mit Peter, und mit dem Kutscher Fjodor, und mit diesem Kaufmann da, und mit all den Menschen, die dort an der Wolga wohnen, auf der zu fahren diese Plakate der Dampfschiffahrtsgesellschaften einladen, und so geht es überall, überall‹, dachte sie, als sie bei dem niedrigen Bahnhofsgebäude der Nischegoroder Bahn vorfuhr und die Gepäckträger aus dem Bahnhof heraus an den Wagen gelaufen kamen.
»Befehlen Sie eine Fahrkarte nach Obiralowka?« fragte Peter.
Sie hatte ganz vergessen, wohin sie reisen wollte und zu welchem Zweck, und vermochte nur mit Anstrengung die Frage zu verstehen.
»Ja«, antwortete sie und reichte ihm ihr Geldtäschchen; dann nahm sie ihre kleine rote Reisetasche und stieg aus dem Wagen.
Während sie sich durch den Menschenschwarm hindurch nach dem Wartesaal erster Klasse begab, erinnerte sie sich nach und nach wieder an alle Einzelheiten ihrer Lage und an die Pläne, zwischen denen sie geschwankt hatte. Und wiederum wechselten in ihrem gequälten, entsetzlich zuckenden Herzen Hoffnung und Verzweiflung, und die alten, schmerzhaften Wunden wurden immer von neuem gereizt. Während sie in Erwartung des Zuges auf dem sternförmigen Sofa saß und die Ein- und Ausgehenden voll Widerwillen betrachtete (sie erschienen ihr alle abstoßend), dachte sie bald daran, wie sie auf dem Bahnhof ankommen, wie sie ihm ein paar Zeilen schreiben und was sie ihm schreiben werde, bald daran, wie er sich jetzt bei seiner Mutter über seine Lage beklage (er, der doch gar nicht wußte, was leiden heißt), und wie sie dann ins Zimmer treten und was sie ihm sagen werde. Bald wieder dachte sie daran, wie glücklich ihr Leben sich noch gestalten könne, und wie qualvoll sie ihn liebe und hasse, und wie furchtbar ihr Herz poche.
1 (engl.) Der Eifer ist erloschen.
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