8

[174] Nachdem Ljewin vom Tische aufgestanden war, ging er mit Gagin durch die hohen Räume nach dem Billardzimmer und hatte beim Gehen das Gefühl, als ob seine Arme besonders regelmäßig und leicht schlenkerten.

Als er durch den großen Saal kam, stieß er auf seinen Schwiegervater.

»Nun, wie ist's? Wie gefällt dir unser Tempel des Müßiggangs?« fragte der Fürst, indem er ihn unter den Arm faßte. »Komm, wir wollen uns ein bißchen Bewegung machen.«

»Ich wollte sowieso schon ein bißchen umhergehen und mich umsehen. Es ist hier alles sehr reizvoll.«[174]

»Ja, dir ist das interessant. Aber meine Interessen sind hier schon ganz andere als die deinigen. Du, wenn du diese alten Männerchen ansiehst«, sagte er und wies auf einen alten Klubgenossen mit gekrümmtem Rücken und hängender Unterlippe, der in seinen weichen Stiefeln, kaum die Füße weiterrückend, ihnen entgegenkam, »du meinst wohl, die seien gleich von vornherein als Knickepeter geboren?«

»Was heißt das: als Knickepeter?«

»Na ja, du kennst nicht einmal diesen Ausdruck. Das ist hier bei uns im Klub ein Fachausdruck. Du weißt doch, wenn man Ostereier rollt und zuviel mit ihnen rollt, dann wird aus dem Ei ein sogenannter Knickepeter. So geht es auch unsereinem: man fährt in den Klub, immer und immer wieder, und wird auf die Art ein Knickepeter. Ja, du lachst; aber unsereiner denkt schon daran, wann er selbst zu den Knickepetern gehören wird. Kennst du den Fürsten Tschetschenski?« fragte der Fürst, und Ljewin sah ihm schon am Gesichte an, daß er etwas Spaßhaftes zu erzählen beabsichtigte.

»Nein, ich kenne ihn nicht.«

»Wundert mich. Der Fürst Tschetschenski ist eine sehr bekannte Persönlichkeit. Na, aber es kommt nicht darauf an. Er tut weiter nichts als Billard spielen. Also noch vor drei Jahren gehörte er nicht zu den Knickepetern und spielte sich als den Forschen auf. Und er selbst nannte andere Leute Knickepeter. So kommt er denn einmal hier an, und unser Pförtner ... du weißt wohl: Wasili; na, dieser Dicke; er ist groß in Witzen. Also da fragt ihn Fürst Tschetschenski: ›Na, Wasili, wer ist denn schon da? Sind Knickepeter da?‹ Und der antwortet ihm: ›Sie sind der dritte.‹ Ja, ja, mein Lieber, so geht es einem!«

Miteinander plaudernd und Bekannte, auf die sie trafen, begrüßend, wanderten der Fürst und Ljewin durch alle Zimmer: durch das große, wo schon die Spieltische standen und die gewohnten Partner um niedrigen Einsatz spielten; durch das Sofazimmer, wo Schach gespielt wurde und Sergei Iwanowitsch mit jemandem ein eifriges Gespräch führte; durch das Billardzimmer, wo sich in der Nische mit dem Sofa eine lustige Champagnergesellschaft niedergelassen hatte, zu der sich inzwischen auch Gagin gesellt hatte; auch in den Höllenpfuhl warfen sie einen Blick, wo sich eine Menge Herren, die pointieren wollten, um einen Tisch drängten, an dem Jaschwin bereits saß. Bemüht, kein Geräusch zu machen, traten sie auch in das verdunkelte Lesezimmer, wo unter den mit Lichtschirmen versehenen Hängelampen nur zwei Personen saßen: ein junger Mann, der mit ärgerlicher Miene eine Zeitschrift nach der andern zur Hand[175] nahm, und ein kahlköpfiger General, der ins Lesen vertieft war. Sie gingen auch in das Zimmer hinein, das der Fürst das kluge Zimmer nannte. In diesem Zimmer redeten drei Herren eifrig über die letzte politische Neuigkeit.

»Bitte, kommen Sie, Fürst, es ist alles bereit«, sagte ein dazukommender Herr, der zu der üblichen Kartenrunde des Fürsten gehörte und diesen nun hier gefunden hatte. Der Fürst ging mit ihm weg; Ljewin setzte sich und hörte ein Weilchen zu; aber da kamen ihm all die Gespräche in den Sinn, die er schon an diesem Vormittag über denselben Gegenstand gehört hatte, und es wurde ihm auf einmal ganz öde zumute. Eilig stand er auf und ging hinaus, um Oblonski und Turowzün zu suchen, in deren Gesellschaft man sich immer vergnügte.

Turowzün saß mit einem tönernen Trinkgefäß auf einem erhöht stehenden Sofa im Billardzimmer; Stepan Arkadjewitsch und Wronski redeten an der Tür, die in einer entfernten Ecke des Zimmers lag, miteinander.

»Nicht eigentlich, daß sie bekümmert wäre; aber das Unbestimmte, Unsichere der ganzen Lage«, hörte Ljewin sagen und wollte schnell zurücktreten; aber Stepan Arkadjewitsch rief ihn heran.

»Ljewin!« sagte Stepan Arkadjewitsch, und Ljewin bemerkte, daß er zwar nicht Tränen, aber einen feuchten Schimmer in den Augen hatte, was bei ihm stets eintrat, wenn er entweder reichlich getrunken hatte oder gerührt war. In diesem Augenblick traf sowohl das eine wie das andere zu. »Ljewin, geh nicht weg«, sagte er und drückte seinen Arm kräftig am Ellbogen, als wollte er ihn unter keinen Umständen weglassen.

»Das ist mein wahrer, ich kann beinah sagen, mein bester Freund«, sagte er zu Wronski. »Du bist mir gleichfalls teuer und stehst mir in einer Hinsicht noch näher. Und ich wünsche von Herzen, daß ihr beide einander nähertretet und Freunde werdet, und ich weiß, daß das möglich ist, weil ihr beide gute Menschen seid.«

»Na schön, da brauchen wir uns ja nur noch einen Kuß zu geben«, sagte Wronski mit gutmütigem Scherze und reichte Ljewin die Hand.

Dieser ergriff schnell die hingehaltene Hand und drückte sie kräftig.

»Ich bin sehr, sehr froh darüber«, sagte Ljewin.

»Kellner, eine Flasche Champagner!« rief Stepan Arkadjewitsch.

»Auch ich freue mich sehr«, sagte Wronski.

Aber obgleich Stepan Arkadjewitsch es gern gesehen hätte,[176] daß die beiden neuen Freunde nun miteinander sprächen, und obgleich diese den gleichen Wunsch hegten, hatten sie doch einander nichts zu sagen, und beide fühlten das.

»Weißt du, daß er mit Anna noch gar nicht bekannt ist?« sagte Stepan Arkadjewitsch zu Wronski. »Ich will ihn unbedingt zu ihr bringen. Komm, Ljewin, wir wollen hinfahren!«

»Kennen Sie sich wirklich nicht?« fragte Wronski. »Sie wird sich sehr freuen. Ich würde gleich mit nach Hause fahren«, fügte er hinzu, »aber ich beunruhige mich um Jaschwin und möchte hierbleiben, bis er zu spielen aufhört.«

»Wieso? Steht es denn schlimm mit ihm?«

»Er verliert immerzu, und ich bin der einzige, der ihn zurückzuhalten vermag.«

»Wie ist's? Was meint ihr zu einer Pyramide? Ljewin, magst du spielen? Nun, das ist ja schön«, sagte Stepan Arkadjewitsch. »Stell eine Pyramide auf«, wandte er sich an den Markör.

»Es ist schon alles bereit«, erwiderte der Markör, der bereits die Bälle zu einem Dreieck aufgestellt hatte und den roten zum Zeitvertreib hin und her rollte.

»Nun, dann zu!«

Nach Beendigung des Spiels setzten Wronski und Ljewin sich an Gagins Tisch, und Ljewin setzte nach Stepan Arkadjewitschs Rat auf die Asse. Wronski saß bald am Tische, wo ihn dann unaufhörlich allerlei Bekannte umringten, die zu ihm herankamen, bald ging er in den Höllenpfuhl, um nach Jaschwin zu sehen. Ljewin hatte, nach der geistigen Ermüdung vom Vormittag, jetzt ein höchst angenehmes Gefühl der Erfrischung. Die Beendigung seines feindseligen Verhältnisses zu Wronski war ihm eine große Freude, und die Empfindung der Ruhe, des Wohlseins und der Befriedigung über die ihn umgebende Wohlanständigkeit verließ ihn keinen Augenblick.

Als das Spiel beendet war, faßte Stepan Arkadjewitsch ihn unter den Arm.

»Nun, dann wollen wir also zu Anna fahren. Jetzt gleich, wie? Sie ist zu Hause. Ich habe ihr schon längst versprochen, dich einmal hinzubringen. Was hattest du denn für heute abend noch vor?«

»Nichts Besonderes. Ich hatte Swijaschski versprochen, in die Landwirtschaftliche Gesellschaft zu kommen. Wenn es dir recht ist, wollen wir zu deiner Schwester fahren«, sagte Ljewin.

»Sehr schön, also fahren wir! Sieh einmal nach, ob mein Wagen da ist«, wandte sich Stepan Arkadjewitsch an einen Diener.

Ljewin trat an den Tisch, bezahlte die vierzig Rubel, die er an den Assen verloren hatte, bezahlte dem alten Diener an der[177] Tür seine Klubrechnung, deren Posten diesem auf geheimnisvolle Weise bekannt geworden waren, und ging, in eigenartiger Weise mit den Armen schwenkend, dem Ausgang zu.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Anna Karenina. 3 Bde., Berlin 1957, Band 3, S. 174-178.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Der Weg ins Freie. Roman

Der Weg ins Freie. Roman

Schnitzlers erster Roman galt seinen Zeitgenossen als skandalöse Indiskretion über das Wiener Gesellschaftsleben. Die Geschichte des Baron Georg von Wergenthin und der aus kleinbürgerlichem Milieu stammenden Anna Rosner zeichnet ein differenziertes, beziehungsreich gespiegeltes Bild der Belle Époque. Der Weg ins Freie ist einerseits Georgs zielloser Wunsch nach Freiheit von Verantwortung gegenüber Anna und andererseits die Frage des gesellschaftlichen Aufbruchs in das 20. Jahrhundert.

286 Seiten, 12.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon