32

[275] Die Einzelheiten, die die Fürstin über Warjenkas Vergangenheit und über ihre Beziehungen zu Madame Stahl in Erfahrung gebracht hatte, waren folgende.

Madame Stahl, von der die einen sagten, sie habe ihren Mann zu Tode gequält, die andern, er habe sie durch seinen sittenlosen Lebenswandel unglücklich gemacht, war immer eine kränkliche, überspannte Frau gewesen. Als sie, bereits nach der Scheidung von ihrem Manne, ihr erstes Kind gebar, starb dieses gleich nach der Geburt, und ihre Verwandten, die ihre hochgradige Erregbarkeit kannten und fürchteten, daß diese Nachricht ihr den Tod bringen könne, schoben ihr ein anderes Kind unter; sie wählten dazu das in derselben Nacht und in demselben Hause in Petersburg geborene Töchterchen eines Hofkoches. Dies war Warjenka. Madame Stahl erfuhr in der Folge, daß Warjenka nicht ihre[275] Tochter sei; aber sie zog sie dennoch weiter auf, um so mehr, da Warjenka bald darauf ihre beiden Eltern verlor und auch sonst keine nahen Verwandten hatte.

Madame Stahl lebte nun schon mehr als zehn Jahre ununterbrochen im Auslande, im Süden, und verließ fast nie das Bett. Manche sagten, Madame Stahl habe sich geflissentlich eine Stellung in der Gesellschaft als tugendhafte, tief religiöse Frau geschaffen; andere waren überzeugt, daß sie wirklich im Grunde ihres Herzens jenes sittlich hochstehende, nur für das Wohl der Mitmenschen lebende Wesen sei, als das sie sich darstellte. Niemand wußte, welcher Konfession sie angehörte, ob der katholischen oder der protestantischen oder der rechtgläubigen; aber eins war unzweifelhaft: sie stand in freundschaftlichen Beziehungen zu den höchsten Persönlichkeiten aller Kirchen und Bekenntnisse.

Warjenka lebte mit ihr beständig im Auslande, und alle, die Madame Stahl kannten, kannten auch Mademoiselle Warjenka, wie alle sie nannten, und hatten sie gern.

Nachdem die Fürstin alle diese Einzelheiten erfahren hatte, fand sie in einer Annäherung ihrer Tochter an Warjenka nichts Bedenkliches, um so weniger, da Warjenka gute Manieren und eine vortreffliche Bildung besaß; sie sprach ausgezeichnet Französisch und Englisch. Und was die Hauptsache war: sie überbrachte von Frau Stahl den Ausdruck ihres Bedauerns, daß sie wegen ihrer Krankheit das Vergnügen entbehren müsse, die Bekanntschaft der Fürstin zu machen.

Nachdem Kitty so mit Warjenka einmal bekannt geworden war, fühlte sie sich von ihrer Freundin immer mehr und mehr bezaubert und entdeckte an ihr alle Tage neue Vorzüge.

Die Fürstin, die gehört hatte, Warjenka singe sehr gut, bat sie, ob sie nicht am Abend zu ihnen kommen und etwas vorsingen wolle.

»Kitty spielt, und wir haben hier ein Klavier, allerdings kein sehr gutes; aber Sie würden uns eine so große Freude damit machen«, sagte die Fürstin mit einem gemachten Lächeln, durch das sich Kitty jetzt besonders unangenehm berührt fühlte, da sie schon gemerkt hatte, daß Warjenka überhaupt nicht gern sang. Indessen kam Warjenka am Abend und brachte ein Notenheft mit. Die Fürstin hatte auch Marja Jewgenjewna mit ihrer Tochter und den Oberst eingeladen.

Warjenka schien in keiner Weise darüber verlegen zu sein, daß auch Personen, die sie nicht kannte, zugegen waren, und trat sogleich ans Klavier. Sie konnte sich nicht selbst begleiten, sang aber sehr gut vom Blatte. Kitty, die gut spielte, begleitete sie.[276]

»Sie besitzen ein ungewöhnliches Talent«, sagte die Fürstin zu Warjenka, nachdem diese das erste Lied sehr schön vorgetragen hatte.

Auch Marja Jewgenjewna und ihre Tochter bedankten sich bei ihr und lobten ihren Gesang.

»Sehen Sie nur«, sagte der Oberst bei einem Blick durch das Fenster, »welch ein Publikum sich angesammelt hat, um Ihnen zuzuhören.«

In der Tat hatte sich eine ziemlich große Menschenmenge unter den Fenstern zusammengeschart.

»Ich freue mich sehr, daß es Ihnen Vergnügen macht«, erwiderte Warjenka schlicht.

Kitty blickte mit Stolz auf ihre Freundin. Sie war entzückt über Warjenkas Kunst und über ihre Stimme und über ihre Miene, am allermeisten aber über ihr ganzes Wesen, darüber, daß Warjenka sich offenbar auf ihren Gesang nichts einbildete und den Lobsprüchen gegenüber vollständig gleichmütig blieb. In ihrer Haltung schien nur die Frage zu liegen: ›Soll ich noch mehr singen, oder ist's nun genug?‹

›Wenn ich das wäre‹, dachte Kitty im stillen, ›wie stolz würde ich darauf sein! Wie würde ich mich freuen, auf diese Menschenmenge unter den Fenstern hinabzublicken! Aber ihr ist das alles ganz gleichgültig. Sie läßt sich nur von dem Wunsche leiten, meiner maman keine abschlägige Antwort zu geben, sondern ihr einen Gefallen zu tun. Was hat sie nur für eine eigenartige Seele? Woher nimmt sie die Kraft, auf alles mit Gleichmut hinzublicken und eine sichere Ruhe zu bewahren? Ach, wenn ich das doch auch verstände, wenn ich doch das von ihr lernen könnte!‹ So dachte Kitty, während sie dieses stille Gesicht betrachtete. Die Fürstin bat Warjenka, noch etwas zu singen, und Warjenka sang ein anderes Lied, ebenso fließend, untadelig und schön, während sie in gerader Haltung neben dem Klaviere stand und mit ihrer mageren, gebräunten Hand den Takt darauf angab.

Die folgende Nummer im Hefte war ein italienisches Lied. Kitty spielte das Vorspiel und blickte Warjenka an.

»Wir wollen dieses Lied weglassen«, sagte Warjenka errötend.

Erschrocken und fragend hielt Kitty ihre Augen auf Warjenkas Gesicht geheftet.

»Nun, dann also ein anderes«, versetzte sie hastig und schlug die Blätter um; sie hatte sofort durchschaut, daß mit diesem Liede für Warjenka irgendeine Erinnerung verknüpft sein mußte.

»Nein«, antwortete Warjenka und legte lächelnd ihre Hand auf die Noten, »nein, wir wollen es doch singen.« Und sie sang[277] dieses Lied ebenso schön und mit der gleichen kühlen Ruhe wie die vorhergehenden.

Als sie geendet hatte, bedankten sich wieder alle bei ihr und gingen dann zum Tee. Kitty und Warjenka aber begaben sich in das Gärtchen neben dem Hause.

»Nicht wahr, mit diesem Liede verknüpft sich für Sie irgendeine Erinnerung?« fragte Kitty. »Teilen Sie mir nichts darüber mit«, fügte sie hastig hinzu, »sagen Sie mir nur, ob es der Fall ist.«

»Warum sollte ich es Ihnen nicht mitteilen? Ich will es Ihnen sagen«, erwiderte Warjenka schlicht und einfach, und ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: »Ja, es ist eine Erinnerung damit verbunden, und sie ist mir früher sehr schmerzlich gewesen. Ich habe einen Mann geliebt und ihm dieses Lied oft gesungen.«

Kitty blickte sie, ohne ein Wort zu sagen, mit großen, weit geöffneten Augen gerührt an.

»Ich liebte ihn, und er liebte mich; aber seine Mutter wollte es nicht, und so heiratete er eine andere. Er wohnt jetzt nicht weit von uns, und ich sehe ihn manchmal. Sie hätten wohl nicht gedacht, daß auch ich einen Roman erlebt habe?« sagte sie, und auf ihrem hübschen Gesichte flackerte flüchtig ein Rest von jenem Feuer auf, das – davon war Kitty überzeugt – einst gewiß ihr ganzes Inneres durchleuchtet und durchglüht hatte.

»Warum hätte ich glauben sollen, daß das nicht der Fall gewesen wäre? Wäre ich ein Mann, so würde ich, nachdem ich Sie kennengelernt hätte, keine andere mehr lieben können. Es ist mir unbegreiflich, wie er seiner Mutter zu Gefallen von Ihnen lassen und Sie unglücklich machen konnte; er muß kein Herz gehabt haben.«

»O nein, er ist ein sehr guter Mensch, und ich bin ja auch gar nicht unglücklich; im Gegenteil, ich bin sehr glücklich. Nun, wie ist's? Heute singen wir wohl nicht mehr?« fügte sie hinzu, indem sie sich nach dem Hause wandte.

»Wie gut Sie sind, wie gut Sie sind!« rief Kitty aus, hielt sie zurück und küßte sie. »Wenn ich Ihnen doch nur ein klein wenig ähnlich sein könnte!«

»Wozu brauchen Sie jemandem ähnlich zu sein? So wie Sie sind, sind Sie gut«, erwiderte Warjenka mit ihrem sanften, müden Lächeln.

»Nein, ich bin gar nicht gut. Aber sagen Sie mir doch ... Bitte, bleiben Sie noch einen Augenblick; wir wollen uns noch einmal hinsetzen«, sagte Kitty und zog sie neben sich auf die Bank nieder. »Sagen Sie mir doch, ist es Ihnen nicht kränkend, denken[278] zu müssen, daß ein Mann Ihre Liebe verschmäht hat, Ihre Liebe nicht hat haben mögen?«

»Aber er hat sie ja gar nicht verschmäht; ich glaube, daß er mich wirklich geliebt hat; aber er war ein gehorsamer Sohn ...«

»Das mag sein; aber wenn er es nun nicht auf den Wunsch seiner Mutter getan hätte, sondern einfach nach seinem eigenen Willen?« sagte Kitty und wurde sich bewußt, daß sie ihr Geheimnis verraten hatte und ihr vor Schamröte erglühendes Gesicht sie überführte.

»Dann hätte er schlecht gehandelt, und ich würde mich um ihn nicht grämen«, antwortete Warjenka, die offenbar durchschaute, daß es sich jetzt nicht mehr um sie, sondern um Kitty handelte.

»Aber die Kränkung?« sagte Kitty. »Die Kränkung kann man doch nicht vergessen, die kann man nicht vergessen.« Sie dachte an ihren Blick auf dem letzten Balle in dem Augenblick, da die Musik plötzlich aufgehört hatte.

»Worin liegt denn die Kränkung? Sie haben doch nicht schlecht gehandelt?«

»Schlimmer als schlecht – so daß ich mich schämen muß.«

Warjenka wiegte den Kopf hin und her und legte ihre Hand auf Kittys Arm.

»Schämen? Worüber?« fragte sie. »Sie werden doch einem Mann, dem Sie gleichgültig waren, nicht gesagt haben, daß Sie ihn liebten?«

»Selbstverständlich nicht; ich habe nie auch nur ein Wort gesagt; aber er wußte es doch. Aus Blicken, aus dem ganzen Benehmen. Nein, nein, und wenn ich hundert Jahre alt werde, kann ich es nicht vergessen.«

»Was meinen Sie denn eigentlich? Ich verstehe Sie nicht. Es kommt doch nur darauf an, ob Sie ihn jetzt noch lieben oder nicht«, sagte Warjenka, die alles beim richtigen Namen nannte.

»Ich hasse ihn; ich kann mir selbst nicht verzeihen.«

»Was können Sie sich denn nicht verzeihen?«

»Daß ich mir eine solche Beschämung, eine solche Kränkung zugezogen habe.«

»Ach, wenn alle so empfindlich sein wollten wie Sie«, erwiderte Warjenka. »Es gibt kein Mädchen, das nicht hätte so etwas durchmachen müssen. Und all das ist doch so unwichtig.«

»Ja, was ist denn dann aber wichtig?« fragte Kitty und blickte ihr mit neugieriger Verwunderung ins Gesicht.

»Ach, es gibt viel Wichtiges«, versetzte Warjenka lächelnd.

»Nun, was denn?«

»Ach, es gibt vieles, was weit wichtiger ist«, antwortete Warjenka,[279] wußte aber nicht recht, was sie sagen sollte. Aber in diesem Augenblicke hörten sie aus dem Fenster die Stimme der Fürstin:

»Kitty, es wird kühl! Nimm ein Tuch um oder komm ins Zimmer!«

»Es ist wirklich Zeit, daß ich gehe«, sagte Warjenka und stand auf. »Ich muß auch noch zu Madame Berthe gehen; sie hat mich darum gebeten.«

Kitty hielt ihre Hand gefaßt, und ihr stummer Blick fragte bittend mit leidenschaftlicher Neugier: ›Was ist es denn, was ist denn dieses Wichtigste, das einem solche Ruhe des Gemütes verleiht? Sie wissen es; sagen Sie mir es doch!‹ Aber Warjenka verstand gar nicht, wonach Kittys Blick sie fragte. Sie dachte nur daran, daß sie heute noch Madame Berthe besuchen und sich so einrichten müsse, daß sie rechtzeitig um zwölf Uhr zu Hause bei maman zum Tee sei. Sie ging ins Zimmer, nahm ihre Noten, verabschiedete sich von allen und schickte sich an zu gehen.

»Erlauben Sie, ich werde Sie begleiten«, sagte der Oberst.

»Gewiß, Sie können doch jetzt bei Nacht nicht allein gehen«, stimmte ihm die Fürstin zu. »Oder wenigstens möchte ich meine Parascha mit Ihnen mitschicken.«

Kitty sah, daß Warjenka nur mit Mühe ein Lächeln unterdrückte, als sie hörte, daß man für sie eine Begleitung als notwendig erachtete.

»Nicht doch; ich gehe immer allein, und es ist mir noch nie etwas zugestoßen«, sagte sie und griff nach ihrem Hute. Sie küßte Kitty noch einmal, und ohne gesagt zu haben, was denn nun jenes Wichtige sei, verschwand sie festen, flinken Schrittes, mit den Noten unter dem Arm, in dem Halbdunkel der Sommernacht und nahm ihr Geheimnis mit sich, was das Wichtige sei, dem sie diese beneidenswerte Ruhe und Würde zu verdanken hatte.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Anna Karenina. 3 Bde., Berlin 1957, Band 1, S. 275-280.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Diderot, Denis

Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

Im Jahre 1758 kämpft die Nonne Marguerite Delamarre in einem aufsehenerregenden Prozeß um die Aufhebung ihres Gelübdes. Diderot und sein Freund Friedrich Melchior Grimm sind von dem Vorgang fasziniert und fingieren einen Brief der vermeintlich geflohenen Nonne an ihren gemeinsamen Freund, den Marquis de Croismare, in dem sie ihn um Hilfe bittet. Aus dem makaberen Scherz entsteht 1760 Diderots Roman "La religieuse", den er zu Lebzeiten allerdings nicht veröffentlicht. Erst nach einer 1792 anonym erschienenen Übersetzung ins Deutsche erscheint 1796 der Text im französischen Original, zwölf Jahre nach Diderots Tod. Die zeitgenössische Rezeption war erwartungsgemäß turbulent. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der "Naturalismus" des Romans als "empörend" empfunden. Die Aufführung der weitgehend werkgetreuen Verfilmung von 1966 wurde zunächst verboten.

106 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon