I

[468] Pierre hatte nach der Verlobung des Fürsten Andrei mit Natascha auf einmal ohne jeden sichtbaren Grund die Empfindung, daß er sein bisheriges Leben nicht fortsetzen könne. Wie fest er auch von den Wahrheiten überzeugt war, die ihm sein Freund und Wohltäter eröffnet hatte, wie freudenreich ihm auch jene erste Zeit der Begeisterung für die innerliche Arbeit der Selbstvervollkommnung gewesen war, eine Arbeit, der er sich mit dem größten Eifer gewidmet hatte: nach der Verlobung des Fürsten Andrei mit Natascha und nach dem Tod Osip Alexejewitschs (er erhielt beide Nachrichten fast zu gleicher Zeit) war der ganze Reiz dieses bisherigen Lebens für ihn plötzlich dahin. Was ihm vom Leben blieb, war gleichsam nur ein trockenes Skelett: sein Haus mit der schönen Frau, die eine so glänzende Stellung einnahm und sich jetzt der Gunst einer sehr hohen Persönlichkeit erfreute, die Bekanntschaft mit ganz Petersburg und der Kammerherrndienst mit seinen langweiligen Formalitäten. Und dieses bisherige Leben erschien ihm plötzlich und unerwartet als etwas Garstiges, Widerwärtiges. Er hörte auf, sein Tagebuch zu führen, mied die Gesellschaft seiner Brüder, der Freimaurer, begann wieder den Klub zu besuchen, fing wieder an stark zu trinken, verkehrte wieder in den Kreisen von Junggesellen und begann ein solches Leben zu führen, daß die Gräfin Jelena Wasiljewna für nötig hielt, ihm ernste Vorhaltungen zu machen. Pierre fühlte, daß sie recht hatte, und um seine Frau nicht zu kompromittieren, siedelte er nach Moskau über.

Sobald er in Moskau wieder in sein gewaltiges Haus mit den vertrockneten und vertrocknenden Prinzessinnen und der großen Dienerschaft eingezogen war; sobald er bei einer Fahrt durch[468] die Stadt die Iberische Kapelle mit den zahllosen brennenden Kerzen vor den goldstrotzenden Heiligenbildern und den Kremlplatz mit der unzerfahrenen Schneefläche und die Droschkenkutscher und die elenden, kleinen Hütten in der Siwzew-Wraschek-Straße gesehen hatte; als er die alten Moskauer Herren wiedersah, die nichts weiter wünschten und erstrebten und in größter Seelenruhe ihren Lebensabend verbrachten, und die betagten Moskauer adligen Damen und die Moskauer Bälle und den Moskauer Englischen Klub: da hatte er die Empfindung, daß er daheim sei, im stillen Hafen. Er fühlte sich in Moskau ruhig, warm und behaglich wie in einem alten, schmutzigen Schlafrock.

Die gesamte Moskauer Gesellschaft, von den alten Damen bis herunter zu den Kindern, nahm ihn wie einen altbekannten, längst erwarteten Gast auf, für den ein Platz immer reserviert und bereitgehalten war. Für die besseren Kreise Moskaus war Pierre ein sehr liebenswürdiger, braver, verständiger, heiterer, hochherziger Sonderling, ein zerstreuter, herzensguter russischer Edelmann vom alten Schlag. Seine Geldbörse war immer leer, weil sie für alle offen war.

Billetts zu Benefizvorstellungen, schlechte Gemälde und Statuen, Wohltätigkeitsvereine, Zigeuner, Schulen, Subskriptionslisten für Diners und Gelage, Freimaurer, Kirchen, Bücher: für niemand und für nichts hatte er eine abschlägige Antwort, und wenn nicht zwei seiner Freunde, die viel Geld von ihm borgten, ihn gewissermaßen unter ihre Vormundschaft genommen hätten, so hätte er alles weggegeben. Im Klub fand kein Diner und kein Abendessen statt, ohne daß er dabeigewesen wäre. Sobald er nach zwei Flaschen Margaux sich auf seinem gewöhnlichen Sofaplatz hingerekelt hatte, sammelte sich ein Kreis von Bekannten um ihn; man plauderte, disputierte und scherzte. Entstand ein ernstlicher Streit, so stellte er schon allein[469] durch sein gutmütiges Lächeln und durch ein wohlangebrachtes Scherzwort den Frieden wieder her. Die freimaurerischen Tafellogen waren öde und langweilig, wenn er nicht daran teilnahm.

Wenn er nach einem Junggesellensouper, den Bitten der lustigen Gesellschaft nachgebend, sich mit sei nem gutmütigen, angenehmen Lächeln erhob, um mit ihnen, man kann leicht denken, wohin, zu fahren, so brachen die jungen Leute in ein frohes Jubelgeschrei aus. Auf Bällen tanzte er, wenn es an Herren mangelte. Die jungen Frauen und Mädchen mochten ihn gern, weil er nicht einer einzelnen den Hof machte, sondern gegen alle in gleicher Weise liebenswürdig war, namentlich nach dem Souper. »Il est charmant; il n'a pas de sexe«, sagten sie von ihm.

Pierre war ein Kammerherr a.D., der in Moskau harmlos dahinlebte, ein Mann, wie es deren dort Hunderte gab.

Was hätte er für einen Schreck bekommen, wenn ihm sieben Jahre vorher, als er soeben aus dem Ausland heimgekehrt war, jemand gesagt hätte, er brauche gar nichts Neues zu suchen und zu ersinnen, er werde in dem längst ausgefahrenen, ihm von Ewigkeit her vorausbestimmten Geleis dahinleben und werde, wie auch immer er sich drehen und wenden möge, doch genau ebenso ein Mensch sein, wie alle in seiner Lage. Das wäre ihm ganz unglaublich erschienen! Hatte er denn nicht von ganzem Herzen gewünscht, in Rußland die Republik einzuführen, oder selbst ein Napoleon zu werden, oder ein Philosoph, oder ein Feldherr, der durch seine überlegene Taktik diesen Napoleon besiegte? Hatte er denn nicht den leidenschaftlichen, ihm erfüllbar scheinenden Wunsch gehegt, eine Wiedergeburt des lasterhaften Menschengeschlechts herbeizuführen und sich selbst zur höchsten Stufe der Vollkommenheit zu bringen? Hatte er denn nicht Schulen und Krankenhäuser gegründet und seinen Leibeigenen die Freiheit geschenkt?[470]

Und statt alles dessen, was war er nun? Der reiche Gatte einer untreuen Ehefrau, ein Kammerherr a.D., ein Mann, der gern gut aß und trank und, wenn er sich nach Tisch den Rock aufgeknöpft hatte, gern ein wenig über die Regierung schimpfte, Mitglied des Moskauer Englischen Klubs und allgemein beliebtes Mitglied der Moskauer Gesellschaft. Er konnte sich lange Zeit nicht mit dem Gedanken befreunden, daß er nun gerade so ein Moskauer Kammerherr a.D. sei wie andere, eine Menschenklasse, die er vor sieben Jahren so tief verachtet hatte.

Manchmal tröstete er sich mit dem Gedanken, daß er diese Lebensweise ja nur für eine kleine Weile, nicht für die Dauer, führen werde; aber dann erschreckte ihn ein anderer Gedanke: daß bereits unzählige Leute, genau so wie er, nur für eine kleine Weile, nicht für die Dauer, mit sämtlichen Zähnen im Mund und dichtem Haar auf dem Kopf in diese Lebensweise und in diesen Klub eingetreten und so lange darin geblieben waren, bis sie keine Zähne und keine Haare mehr hatten.

Wenn er in Augenblicken des Stolzes über seine Lage nachdachte, so wollte es ihm scheinen, daß er ein ganz andersartiger und von denjenigen, die er früher verachtet hatte, grundverschiedener Kammerherr a.D. sei; jenes seien geringwertige, dumme Menschen, die mit ihrer Lage zufrieden seien und sich in ihr ganz wohl befänden; »aber ich«, sagte er sich in solchen Augenblicken des Stolzes, »ich bin auch jetzt stets unzufrieden und habe stets den Wunsch, etwas für die Menschheit zu tun.« In Augenblicken der Bescheidenheit jedoch sagte er sich: »Aber vielleicht haben auch jene meine Schicksalsgenossen alle, ganz ebenso wie ich, gerungen und einen neuen, individuellen Lebensweg gesucht und sind dann, ebenso wie ich, durch die Gewalt der Umstände, der gesellschaftlichen Verhältnisse und ihrer Herkunft, durch jene elementare Gewalt, gegen die der Mensch[471] nichts auszurichten vermag, ebendahin geführt worden wie ich.« Und nachdem er eine Weile in Moskau gelebt hatte, verachtete er jene seine Schicksalsgenossen nicht mehr, sondern begann sie gern zu haben, sie zu achten und sie ebenso wie sich selbst zu bedauern.

Es kamen jetzt nicht mehr über ihn wie früher Augenblicke der Verzweiflung, der Schwermut und des Ekels vor dem Leben; aber jene Krankheit, die sich früher in scharfen Anfällen bekundet hatte, war nur nach innen zurückgedrängt und wich keinen Augenblick von ihm. »Wie geht es in der Welt zu? Warum und wozu das alles?« so fragte er sich verständnislos mehrmals im Laufe jedes Tages, wenn er unwillkürlich über Sinn und Wert der einzelnen Erscheinungen des Lebens nachzudenken anfing; aber da er aus Erfahrung wußte, daß es auf diese Fragen keine Antworten gab, so suchte er eilig von ihnen loszukommen, griff nach einem Buch oder machte, daß er in den Klub oder zu Apollon Nikolajewitsch kam, um dort Stadtklatsch anzuhören und darüber mitzureden.

»Jelena Wasiljewna, die niemals etwas anderes geliebt hat als ihren eigenen Körper und eines der dümmsten Frauenzimmer auf der ganzen Welt ist«, meditierte Pierre, »gilt den Leuten als der Gipfel der Klugheit und des feinen Geschmackes, und alles beugt sich vor ihr. Napoleon Bonaparte wurde von allen geringgeschätzt, solange er ein wahrhaft großer Mann war, und nachdem er ein kläglicher Komödiant geworden ist, beeifert sich Kaiser Franz, ihm seine Tochter als illegitime Gemahlin anzubieten. Die Spanier senden durch die katholische Geistlichkeit Dankgebete zu Gott empor, weil sie am vierzehnten Juni die Franzosen besiegt haben, und die Franzosen senden durch dieselbe katholische Geistlichkeit Dankgebete empor, weil sie am vierzehnten Juni die Spanier besiegt haben. Meine Brüder, die Freimaurer,[472] schwören einen feierlichen Eid, daß sie stets bereit sein werden, alles für den Nächsten zum Opfer zu bringen; aber bei den Kollekten für die Armen bezahlen sie pro Monat nicht einmal einen Rubel; und Asträa intrigiert gegen die Mannasucher, und sie reißen sich um einen echten schottischen Teppich und um ein Schriftstück, dessen Sinn nicht einmal der versteht, der es verfaßt hat, und von dem niemand einen Nutzen hat. Wir alle bekennen das christliche Gebot, das uns befiehlt, Beleidigungen zu verzeihen und unsern Nächsten zu lieben, ein Gebot, demzufolge wir in Moskau unzählige Kirchen errichtet haben; aber gestern ist ein Deserteur mit der Knute zu Tode geprügelt worden, und ein Diener eben dieses Gesetzes der Liebe und Vergebung, ein Geistlicher, hat dem Soldaten vor der Exekution das Kreuz zum Küssen hingehalten.« So meditierte Pierre; und diese ganze, allgemein verbreitete, von allen zugegebene Lüge und Unwahrhaftigkeit setzte ihn, wie sehr er auch an sie gewöhnt war, dennoch jedesmal wie etwas Neues in Erstaunen. »Ich erkenne diese Lüge und Verwirrung«, dachte er, »aber wie soll ich es anfangen, den Menschen alles das, was ich erkenne, darzulegen? Ich habe es versucht und habe dann immer gefunden, daß auch sie in der Tiefe ihrer Seele dasselbe erkennen wie ich, sich aber bemühen, diese Lüge und Unwahrhaftigkeit nicht zu sehen. Also ist da nichts zu ändern. Aber ich, wie soll ich mich nun dazu stellen?« fragte sich Pierre. Er besaß die unglückliche Eigenschaft vieler Menschen (und sie ist in Rußland besonders häufig): an die Möglichkeit des Guten und der Wahrheit zu glauben und das Böse und die Lüge im Leben zu deutlich zu erkennen, als daß man es über sich gewinnen könnte, an diesem Leben ernsthaften Anteil zu nehmen. Jedes Arbeitsgebiet war in seinen Augen mit Schlechtigkeit und Betrug verbunden. Was auch immer er zu sein versuchen mochte, zu welcher Tätigkeit auch immer er greifen mochte, Schlechtigkeit[473] und Lüge stießen ihn überall ab und versperrten ihm alle Wege des Wirkens. Aber dabei mußte er doch leben, mußte irgendwie beschäftigt sein. Es war eine gar zu schreckliche Empfindung, unter dem steten Druck dieser ungelösten Lebensfragen zu stehen, und so ergab er sich den ersten besten Vergnügungen, um nur jene Fragen zu vergessen. Er besuchte alle möglichen Gesellschaften, trank viel, kaufte Gemälde und baute; und vor allen Dingen las er viel.

Er las, und zwar las er alles, was ihm in die Hände kam, und las mit solcher Gier, daß, wenn er abends nach Hause kam und die Diener ihn noch auskleideten, er schon zum Buch griff und las. Und von der Lektüre ging er zum Schlaf über, und vom Schlaf zum Geplauder in den Salons und im Klub, vom Geplauder zum Schlemmen und zu den Weibern, vom Schlemmen wieder zum Geplauder, zur Lektüre und zum Wein. Das Weintrinken wurde ihm mehr und mehr zu einem physischen und zugleich zu einem geistigen Bedürfnis. Obwohl ihm die Ärzte sagten, daß ihm bei seiner Korpulenz der Weingenuß gefährlich sei, trank er sehr viel. Völlig wohl wurde ihm erst dann, wenn er, ohne sich dessen selbst recht bewußt zu werden, in seinen großen Mund mehrere Gläser Wein hineingestürzt hatte; dann empfand er eine angenehme Wärme im Körper, eine Zärtlichkeit gegen alle, mit denen er in Berührung kam, und eine Bereitwilligkeit, sich mit jedem Gedanken in oberflächlicher Weise abzufinden, ohne auf den eigentlichen Kern desselben einzugehen. Erst nachdem er eine und noch eine zweite Flasche Wein getrunken hatte, gelangte er zu der verschwommenen Vorstellung, daß jener wirre, furchtbare Knoten des Lebens, der ihn vorher erschreckt hatte, doch nicht so furchtbar sei, wie es ihm vorgekommen war. Er sah diesen Knoten zwar auch im Zustand leiser Berauschtheit unaufhörlich von der einen oder andern Seite, mochte er nun[474] plaudern oder Gespräche mitanhören oder nach dem Mittagessen und Abendessen lesen; aber unter der Einwirkung des Weines sagte er sich dann: »Das hat nichts weiter auf sich. Das werde ich schon entwirren. Ich weiß schon, wie ich alles lösen werde; aber jetzt habe ich keine Zeit; später werde ich das alles überdenken!« Aber dieses »Später« kam eben niemals.

Frühmorgens, ehe er etwas genossen hatte, erschienen ihm dann alle diese Fragen wieder ebenso unlösbar und furchtbar wie früher; und er griff eilig nach einem Buch und freute sich, wenn jemand zu ihm kam.

Manchmal erinnerte sich Pierre an eine eigentümliche Beobachtung, von der er früher einmal gehört hatte: daß im Krieg die Soldaten, wenn sie in einer Position beschossen werden und dagegen nichts tun können, sich absichtlich irgendeine Beschäftigung suchen, um die Gefahr leichter zu ertragen. Und es wollte ihm scheinen, daß es alle Menschen ähnlich machten wie solche Soldaten: sie suchten sich vor den schweren Fragen des Lebens zu retten, der eine durch Ehrgeiz, ein anderer durch Kartenspiel, ein anderer durch Abfassen von Gesetzen, ein anderer durch Weiber, ein anderer durch Spielereien, ein anderer durch Pferde, ein anderer durch die Politik, ein anderer durch den Wein, ein anderer durch Amtstätigkeit. »Da ist nichts wertlos und nichts wichtig; es ist alles gleich: wenn ich mich nur vor jenen schweren Fragen rette, so gut ich es vermag!« dachte Pierre. »Wenn ich sie nur nicht sehe, diese furchtbaren Dinge!«

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 468-475.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Der Weg ins Freie. Roman

Der Weg ins Freie. Roman

Schnitzlers erster Roman galt seinen Zeitgenossen als skandalöse Indiskretion über das Wiener Gesellschaftsleben. Die Geschichte des Baron Georg von Wergenthin und der aus kleinbürgerlichem Milieu stammenden Anna Rosner zeichnet ein differenziertes, beziehungsreich gespiegeltes Bild der Belle Époque. Der Weg ins Freie ist einerseits Georgs zielloser Wunsch nach Freiheit von Verantwortung gegenüber Anna und andererseits die Frage des gesellschaftlichen Aufbruchs in das 20. Jahrhundert.

286 Seiten, 12.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon