[475] Zu Anfang des Winters war Fürst Nikolai Andrejewitsch Bolkonski mit seiner Tochter nach Moskau übergesiedelt. Wegen seiner Vergangenheit, seines Verstandes und seiner Originalität,[475] besonders aber infolge des damaligen Abflauens der Begeisterung für die Regierung Kaiser Alexanders und infolge der franzosenfeindlichen, patriotischen Richtung, die damals in Moskau herrschte, wurde Fürst Nikolai Andrejewitsch alsbald ein Gegenstand besonderer Verehrung für die Moskauer und der eigentliche Mittelpunkt der Moskauer Opposition gegen die Regierung.
Der Fürst war im letzten Jahr recht alt geworden. Es traten bei ihm in scharfer Deutlichkeit die Anzeichen des Greisenalters hervor: häufiges, unerwartetes Einschlafen, Vergeßlichkeit für zeitlich ganz naheliegende Ereignisse und ein gutes Gedächtnis für weit zurückliegende, dazu die kindische Eitelkeit, mit der er die Rolle eines Führers der Moskauer Opposition übernommen hatte. Aber trotz alledem: wenn der alte Mann, namentlich bei Abendgesellschaften in seinem Haus, zum Tee in seinem Pelz und mit seiner gepuderten Perücke erschien und, von jemand dazu angeregt, in bruchstückartiger, zerhackter Manier aus der Vergangenheit erzählte oder in noch kürzerer Form scharf tadelnde Urteile über die Gegenwart abgab, so rief er bei all seinen Gästen das gleiche Gefühl respektvoller Verehrung hervor. Den Besuchern bot dieses gesamte altertümliche Haus ein Schauspiel dar, das ebenso großartig wie angenehm wirkte: mit den gewaltigen Wandspiegeln, mit dem aus einer längst vergangenen Zeit stammenden Mobiliar, mit diesen gepuderten Dienern, mit ihm selbst, diesem barschen, klugen Greis, der dem vorigen Jahrhundert angehörte, und mit seiner sanften Tochter und der hübschen Französin, die in Ehrerbietung vor ihm vergingen. Aber die Besucher bedachten nicht, daß außer den zwei bis drei Stunden, während deren sie mit den Hausgenossen zusammen waren, der Tag noch etwa zweiundzwanzig Stunden hatte, in denen das verborgene, innere Leben des Hauses weiterging.
Dieses innere Leben war in der letzten Zeit, während des Aufenthalts[476] in Moskau, für die Prinzessin Marja recht drückend geworden. Sie entbehrte hier in Moskau ihre beiden besten Freuden: die Gespräche mit den Gottesleuten und die Einsamkeit. Beides hatte in Lysyje-Gory dazu geholfen, sie frisch zu erhalten; von dem hauptstädtischen Leben dagegen hatte sie keinen Vorteil und keine Freude. In Gesellschaft ging sie nicht: alle wußten, daß ihr Vater sie nicht von sich ließ, selbst aber wegen seiner Kränklichkeit keine Gesellschaften außer dem Haus besuchen konnte; und so lud man sie denn gar nicht mehr zu Diners und Soupers ein. Die Hoffnung, sich zu verheiraten, hatte Prinzessin Marja ganz aufgegeben. Sie sah, wie kalt und grimmig Fürst Nikolai Andrejewitsch die jungen Männer aufnahm und abfertigte, die manchmal in ihrem Haus erschienen und vielleicht als Bewerber auftreten konnten. Freundinnen hatte Prinzessin Marja keine: während dieses Aufenthalts in Moskau hatte sie an den beiden, die ihr am nächsten gestanden hatten, Enttäuschungen erlebt. Mademoiselle Bourienne, mit der sie auch früher schon nicht völlig offenherzig hatte verkehren können, war ihr jetzt geradezu zuwider geworden, und sie zog sich aus gewissen Gründen immer mehr von ihr zurück. Und was Julja betraf, die in Moskau wohnte und mit welcher Prinzessin Marja fünf Jahre lang einen ununterbrochenen Briefwechsel unterhalten hatte, so stellte sich jetzt, als Prinzessin Marja wieder persönlich mit ihr zusammenkam, heraus, daß sie ihr ganz fremd, ein grundverschiedenes Wesen geworden war. Julja, die nun infolge des Todes ihrer Brüder eine der reichsten Partien in ganz Moskau geworden war, überließ sich ganz und gar dem Strudel der gesellschaftlichen Vergnügungen. Sie sah sich stets von jungen Männern umringt, die, wie sie meinte, auf einmal zur Erkenntnis ihres wahren Wertes gelangt waren. Julja befand sich in jener Lebensperiode eines bereits alternden Mädchens, in welcher ein[477] solches fühlt, daß jetzt die letzte Möglichkeit einer Verheiratung da ist, und daß sich sein Schicksal jetzt oder nie entscheiden muß. Mit trübem Lächeln dachte Prinzessin Marja an jedem Donnerstag daran, daß sie jetzt an niemand zu schreiben hatte, da Julja (diese Julja, von deren Anwesenheit sie keine Freude hatte) mit ihr an demselben Ort war und sie einander jede Woche sahen. Es ging ihr ähnlich wie jenem alten Emigranten, der darauf verzichtete, die Dame zu heiraten, bei der er mehrere Jahre lang seine Abende verlebt hatte: Prinzessin Marja bedauerte, daß Julja mit ihr in derselben Stadt wohnte und sie nun niemand hatte, an den sie schreiben konnte. Prinzessin Marja hatte in Moskau niemand, mit dem sie hätte offen reden und dem sie ihr Leid hätte anvertrauen können, und es war damals viel neues Leid zu dem alten noch hinzugekommen.
Der in Aussicht genommene Termin für die Rückkehr des Fürsten Andrei und für seine Verheiratung rückte heran, und der Auftrag, den er ihr erteilt hatte, den Vater darauf vorzubereiten, war nicht ausgeführt worden; ja, die Sache schien im Gegenteil ganz schlimm zu stehen, da schon die bloße Erwähnung der Komtesse Rostowa ausreichte, um den alten Fürsten, der sowieso schon fast immer übler Laune war, ganz außer sich zu bringen.
Als eine neue Quelle des Leides waren in letzter Zeit für die Prinzessin Marja noch die Unterrichtsstunden hinzugekommen, die sie ihrem sechsjährigen Neffen erteilte. Bei ihrem Verkehr mit Nikolenka nahm sie mit Schrecken an sich selbst jene Reizbarkeit wahr, die ein Charakterzug ihres Vaters war. Sie sagte sich immer von neuem, sie müsse sich beim Unterricht ihres Neffen beherrschen und dürfe nicht hitzig werden; aber fast jedesmal, wenn sie sich mit der französischen Fibel und dem Zeigestift hingesetzt hatte, geriet sie in einen solchen Eifer, ihr eigenes Wissen[478] möglichst schnell und möglichst leicht gleichsam in das Kind hineinzugießen, das von vornherein in Angst war, die Tante würde im nächsten Augenblick zornig werden – sie geriet in einen solchen Eifer, daß sie bei der geringsten Unaufmerksamkeit von seiten des Knaben zusammenzuckte, hastig und hitzig wurde, die Stimme erhob und ihn manchmal am Ärmchen schüttelte und in die Ecke stellte. Wenn sie ihn nun in die Ecke gestellt hatte, so begann sie selbst über ihren bösen, schlechten Charakter zu weinen, und Nikolenka, der in unwillkürlichem Nachahmungstrieb ebenfalls schluchzte, kam dann ohne Erlaubnis aus seiner Ecke heraus, ging zu ihr hin, zog ihr die tränenfeuchten Hände vom Gesicht und tröstete sie.
Aber den größten, allergrößten Kummer bereitete der Prinzessin die Reizbarkeit ihres Vaters, die sich immer gegen die Tochter richtete und in der letzten Zeit geradezu zur Grausamkeit ausgeartet war. Hätte er sie gezwungen, ganze Nächte lang vor den Heiligenbildern unter tiefen Verbeugungen zu beten, hätte er sie geschlagen, hätte er ihr befohlen, Holz und Wasser zu schleppen, so wäre es ihr nicht in den Sinn gekommen, ihre Lage für drückend zu halten; aber dieser liebende Peiniger, dessen Grausamkeit eben daher rührte, daß er sie liebte und zur Strafe dafür sich und sie peinigte, legte es nicht nur absichtlich darauf an, sie zu kränken und zu demütigen, sondern er suchte ihr auch noch jedesmal zu beweisen, daß sie immer und an allem schuld sei. In der letzten Zeit war bei ihm eine neue Absonderlichkeit hervorgetreten, die der Prinzessin Marja mehr Qual bereitete als alles andere: das war seine immer mehr wachsende Zuneigung zu Mademoiselle Bourienne. Als er seinerzeit zuerst von der Absicht seines Sohnes, sich wieder zu verheiraten, gehört hatte, da war ihm im ersten Augenblick wie eine Art von Witz der Gedanke gekommen, wenn Andrei heirate, so könne auch er selbst Mademoiselle[479] Bourienne zu seiner Frau machen; aber dieser Gedanke gefiel ihm offenbar mit der Zeit immer besser, und in der letzten Zeit legte er mit einer gewissen Hartnäckigkeit und, wie es der Prinzessin Marja schien, lediglich mit der Absicht, sie zu kränken, eine ganz besondere Freundlichkeit gegen Mademoiselle Bourienne an den Tag und brachte seine Unzufriedenheit mit seiner Tochter dadurch zum Ausdruck, daß er dieser Frau seine Zuneigung bezeigte.
Eines Tages während des Aufenthalts in Moskau küßte der alte Fürst in Gegenwart der Prinzessin Marja (sie war der Ansicht, der Vater tue es absichtlich in ihrer Gegenwart) der Mademoiselle Bourienne die Hand, zog sie an sich heran und umarmte sie zärtlich. Prinzessin Marja wurde dunkelrot und lief aus dem Zimmer. Einige Minuten darauf trat Mademoiselle Bourienne lächelnd bei ihr ein und erzählte mit ihrer wohlklingenden Stimme irgend etwas Lustiges. Prinzessin Marja wischte sich schnell die Tränen ab, ging festen Schrittes auf die Französin zu und schrie sie, offenbar ohne sich dessen selbst bewußt zu werden, mit zorniger Stimme und in einer sich überstürzenden Hast an: »Das ist gemein, unwürdig, herzlos, eine Schwäche so zu mißbrauchen ...« Sie ließ ihre Scheltrede unvollendet. »Gehen Sie hinaus aus meinem Zimmer!« schrie sie und brach in Schluchzen aus.
Am andern Tag sagte der Fürst zu seiner Tochter kein einziges Wort; aber es fiel ihr auf, daß er beim Mittagessen befahl, die Speisen sollten zuerst der Mademoiselle Bourienne präsentiert werden. Und als zu Ende des Mittagessens der Diener den Kaffee herumreichte und nach früherer Gewohnheit wieder bei der Prinzessin anfing, geriet der Fürst plötzlich in Wut, warf mit seinem Krückstock nach Philipp und ordnete an, er solle sofort unter die Soldaten gesteckt werden.[480]
»Er hört nicht ... zweimal habe ich es gesagt ...! er hört nicht! Sie ist die Erste in diesem Haus; sie ist meine beste Freundin«, schrie der Fürst. »Und wenn du«, schrie er zornig, indem er zum erstenmal an diesem Tag Prinzessin Marja anredete, »und wenn du dir noch einmal erlaubst, wie du dich gestern erdreistet hast, dich ihr gegenüber zu vergessen, so werde ich dir zeigen, wer Herr im Haus ist. Hinaus! Ich will dich nicht eher wiedersehen, ehe du sie nicht um Verzeihung gebeten hast!«
Prinzessin Marja bat ihre Gesellschafterin, ihr zu vergeben, und ebenso bat sie den Vater um Verzeihung für sich und den Diener Philipp, der sie angefleht hatte, ein gutes Wort für ihn einzulegen.
In solchen Augenblicken bildete sich in der Seele der Prinzessin Marja ein Gefühl heraus, das wie eine Art von Stolz auf das von ihr gebrachte Opfer aussah. Und dann traf es sich plötzlich, daß unmittelbar nach einer solchen Szene in ihrer Gegenwart dieser Vater, dessen Benehmen sie innerlich als hart und ungerecht verurteilte, seine Brille suchte, indem er neben ihr umhertastete, ohne sie zu sehen, oder etwas vergaß, was soeben geschehen war, oder mit seinen schwach gewordenen Beinen einen unsicheren Schritt tat und sich umsah, ob auch niemand seine Schwäche bemerkt habe, oder, was das Schlimmste war, beim Mittagessen, wenn keine Gäste da waren, die ihn sonst munter erhielten, plötzlich einschlummerte, die Serviette hinfallen ließ und sich mit seinem zitternden Kopf über den Teller neigte. »Er ist alt und schwach, und ich erdreiste mich, ihn zu verurteilen!« dachte sie in solchen Augenblicken, mit Abscheu gegen sich selbst.
Buchempfehlung
Beate Heinold lebt seit dem Tode ihres Mannes allein mit ihrem Sohn Hugo in einer Villa am See und versucht, ihn vor möglichen erotischen Abenteuern abzuschirmen. Indes gibt sie selbst dem Werben des jungen Fritz, einem Schulfreund von Hugo, nach und verliert sich zwischen erotischen Wunschvorstellungen, Schuld- und Schamgefühlen.
64 Seiten, 5.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.
456 Seiten, 16.80 Euro