XII

[535] Am Tag nach diesem Theaterbesuch fuhren Rostows nirgendwohin, und es kam auch niemand zu ihnen. Marja Dmitrijewna hatte mit dem Grafen Ilja Andrejewitsch eine Unterredung, deren Gegenstand sie vor Natascha zu verheimlichen suchte. Indes erriet diese, daß sie von dem alten Fürsten gesprochen und irgendeinen Plan ersonnen hatten, und dies beunruhigte sie und verletzte ihr Ehrgefühl. Sie erwartete jeden Augenblick den Fürsten Andrei und schickte zweimal im Laufe dieses Tages den Hausknecht nach der Wosdwischenka-Straße, um in Erfahrung zu bringen, ob er nicht vielleicht schon angekommen sei. Er war nicht angekommen. Ihre Stimmung war jetzt bedrückter als in den ersten Tagen nach ihrer Ankunft. Zu der Ungeduld und dem trüben Sehnen nach ihrem Bräutigam gesellten sich noch die unangenehme Erinnerung an die Begegnung mit der Prinzessin Marja und mit dem alten Fürsten, sowie eine Angst und Unruhe, deren Ursache ihr nicht bekannt war. Sie hatte immer die Empfindung, als ob entweder ihr Bräutigam überhaupt nie wiederkommen oder ihr noch vor seiner Ankunft irgend etwas Schlimmes widerfahren werde. Sie war nicht wie früher[535] imstande, wenn sie für sich allein war, ruhig und lange an ihn zu denken.

Sobald sie ihre Gedanken auf ihn richtete, mischten sich in die Erinnerung an ihn die Erinnerung an den alten Fürsten, an die Prinzessin Marja und an die letzte Opernvorstellung und an Kuragin. Es drängte sich ihr wieder die Frage auf, ob sie sich auch nicht etwas habe zuschulden kommen lassen, ob sie nicht bereits die Treue gegen den Fürsten Andrei verletzt habe, und immer wieder ertappte sie sich dabei, wie sie sich bis in die kleinsten Einzelheiten jedes Wort, jede Gestikulation, jede Nuance des Mienenspieles auf dem Gesicht dieses Mannes ins Gedächtnis zurückrief, der in ihrer Seele ein ihr unbegreifliches, furchtbares Gefühl zu erwecken verstanden hatte. Nach der Ansicht ihrer Hausgenossen zeigte sich Natascha jetzt lebhafter als sonst; aber in Wirklichkeit war sie bei weitem nicht so ruhig und glücklich wie früher.

Am Sonntag vormittag forderte Marja Dmitrijewna ihre Gäste auf, mit ihr zur Messe in ihre Pfarrkirche, die Kirche zu Mariä Himmelfahrt auf dem Gottesacker, zu gehen.

»Ich kann diese modernen Kirchen nicht leiden«, sagte sie, offenbar stolz auf ihr selbständiges Urteil. »Gott ist überall ein und derselbe. Wir haben bei uns einen sehr braven Popen, der den Gottesdienst in anständiger Art abhält, so recht würdig; und der Diakonus auch. Verleiht denn das der Sache eine größere Heiligkeit, wenn auf dem Chor ganze Gesangskonzerte veranstaltet werden? Ich kann das nicht leiden; das sind törichte Possen, weiter nichts!«

Marja Dmitrijewna hatte die Sonntage gern und verstand es, sie zu feiern. Sonnabends wurde ihr ganzes Haus gescheuert und gesäubert; am Sonntag arbeitete weder sie selbst noch das Gesinde; alle waren festtäglich gekleidet, und alle wohnten der Messe bei. Dem Mittagessen der Herrschaft wurden einige Gerichte[536] hinzugefügt, und das Gesinde erhielt Branntwein und Gänsebraten oder Ferkelbraten. Aber an nichts im ganzen Haus war der Feiertag so deutlich zu merken wie an Marja Dmitrijewnas breitem, ernstem Gesicht, das an diesem Tag einen unveränderlichen, feierlichen Ausdruck annahm.

Als sie nach der Messe im Salon, wo von den Möbeln die Überzüge abgenommen waren, Kaffee getrunken hatten, erhielt Marja Dmitrijewna von einem Diener die Meldung, daß der Wagen bereit sei. Mit ernster Miene erhob sie sich, legte ihr Gala-Umschlagetuch an, welches sie immer bei Visiten trug, und erklärte, sie fahre zu dem Fürsten Nikolai Andrejewitsch Bolkonski, um mit ihm eine Aussprache über Natascha zu haben.

Nachdem Marja Dmitrijewna weggefahren war, stellte sich bei Rostows eine Gehilfin von Madame Chalmé ein, und Natascha, sehr zufrieden über diese Ablenkung ihrer Gedanken, beschäftigte sich in dem Zimmer neben dem Salon mit dem Anprobieren neuer Kleider, nachdem sie die Verbindungstür nach dem Salon zugemacht hatte. Als sie gerade eine vorläufig nur zusammengeheftete, noch ärmellose Taille angezogen hatte und mit zurückgedrehtem Kopf im Spiegel prüfte, wie das Rückenteil saß, da hörte sie im Salon die Stimme ihres Vaters in lebhaftem Gespräch mit einer anderen, weiblichen Stimme, die ihr das Blut ins Gesicht trieb. Dies war Helenes Stimme. Natascha hatte noch nicht Zeit gehabt, die Taille, die sie anprobierte, auszuziehen, als die Tür aufging und die Gräfin Besuchowa ins Zimmer trat, mit einem strahlenden, freundlich-wohlwollenden Lächeln auf dem Gesicht, in einem dunkellila Samtkleid mit hohem Kragen.

»Ah, mein liebes Kind, wie entzückend!« sagte sie zu der errötenden Natascha. »Allerliebst! Nein, das wäre ja unerhört, mein lieber Graf«, wandte sie sich zu dem hinter ihr eintretenden[537] Ilja Andrejewitsch. »Wie kann man in Moskau wohnen und nirgends hingehen? Nein, ich lasse mir von Ihnen keine abschlägige Antwort geben! Heute abend deklamiert bei mir Mademoiselle Georges, und es kommen dazu ein paar Bekannte. Wenn Sie da nicht Ihre schönen jungen Damen zu mir bringen, von denen Mademoiselle Georges in den Schatten gestellt werden wird, dann kündige ich Ihnen die Freundschaft auf. Mein Mann ist nicht da; er ist nach Twer gefahren; sonst hätte ich den hergeschickt, um Sie einzuladen. Sie müssen unbedingt kommen, unbedingt; bitte zwischen acht und neun Uhr.«

Sie nickte der ihr bekannten Modistin zu, die ihr einen respektvollen Knicks machte, und setzte sich auf einen Sessel neben dem Spiegel, wobei sie dem Rock ihres Samtkleides einen malerischen Faltenwurf verlieh. Sie hörte nicht auf, freundlich und heiter zu plaudern, und erging sich fortwährend in Ausdrücken des Entzückens über Nataschas Schönheit. Sie musterte ihre Kleider und lobte sie; auch rühmte sie eines ihrer eigenen Kleider, ein Kleid aus Metallgaze, das sie sich aus Paris hatte kommen lassen, und riet Natascha, sich auch so eines machen zu lassen.

»Indessen, Ihnen steht ja alles gut, meine reizende Kleine«, sagte sie.

Ein Lächeln froher Befriedigung wich während dieses ganzen Gesprächs nicht von Nataschas Gesicht. Sie fühlte sich glücklich und blühte gleichsam auf unter den Lobsprüchen dieser liebenswürdigen Gräfin Besuchowa, die ihr früher als eine so unnahbare, große Dame erschienen war und die ihr jetzt so viel Wohlwollen bezeigte. Natascha war ganz vergnügt geworden und hatte sich beinahe verliebt in diese so schöne, so gutherzige Frau. Helene ihrerseits war wirklich von Natascha entzückt und wünschte ihr ein Vergnügen zu bereiten. Anatol hatte sie gebeten, ihm ein[538] Zusammensein mit Natascha in ihrem Haus zu ermöglichen, und zu diesem Zweck war sie zu Rostows gekommen. Der Gedanke, ihren Bruder mit Natascha zusammenzubringen, amüsierte sie.

Obwohl sie früher gegen Natascha von einem gewissen Groll erfüllt gewesen war, weil diese ihr in Petersburg den netten Boris abspenstig gemacht hatte, dachte sie jetzt daran überhaupt nicht mehr und wünschte in ihrer Weise Natascha von ganzem Herzen Gutes. Als sie von Rostows wieder wegfahren wollte, rief sie ihren Schützling beiseite.

»Gestern war mein Bruder bei uns zum Mittagessen«, sagte sie. »Mein Mann und ich, wir haben uns halb totgelacht: er aß nichts und seufzte immer nach Ihnen, mein reizendes Kind. Er ist närrisch, geradezu närrisch verliebt in Sie, meine Teure.«

Natascha wurde dunkelrot, als sie dies hörte.

»Wie sie rot wird, wie sie rot wird, die allerliebste Kleine!« fuhr Helene fort. »Sie müssen unbedingt kommen. Wenn Sie jemand lieben, Sie entzückendes Wesen, so ist das noch kein Grund, sich wie eine Nonne von der Welt abzuschließen. Und selbst wenn Sie verlobt sind, bin ich überzeugt, daß Ihr Bräutigam es lieber sehen würde, daß Sie in seiner Abwesenheit in Gesellschaft gehen, als daß Sie vor Langeweile umkommen.«

»Also weiß sie«, dachte Natascha, »daß ich verlobt bin; sie und ihr Mann, Pierre, dieser rechtlich denkende Pierre, haben also davon gesprochen und darüber gelacht. Also ist weiter nichts dabei.« Und wieder erschien ihr das, was ihr vorher schrecklich vorgekommen war, unter Helenes Einwirkung als etwas ganz Einfaches und Natürliches. »Und sie, eine so große Dame, ist so liebenswürdig gegen mich und hat mich offenbar ganz in ihr Herz geschlossen«, dachte Natascha. »Und warum sollte ich mir auch nicht ein Amüsement gönnen?« dachte sie weiter und blickte Helene mit bewundernden, weitgeöffneten Augen an.[539]

Zum Mittagessen kehrte Marja Dmitrijewna zurück, ernst und schweigsam: sie hatte augenscheinlich bei dem alten Fürsten eine Niederlage erlitten. Sie war von dem stattgefundenen Streit noch zu erregt, als daß sie imstande gewesen wäre, das Geschehene ruhig zu berichten. Auf die Frage des Grafen antwortete sie, es stehe alles gut und sie werde morgen das Nähere mitteilen. Als sie hörte, daß die Gräfin Besuchowa dagewesen sei und Rostows zum Abend eingeladen habe, bemerkte sie:

»Mit der Besuchowa verkehre ich nicht gern und rate auch euch nicht dazu; na aber«, fügte sie, zu Natascha gewendet, hinzu, »wenn du es einmal versprochen hast, dann fahre nur hin; es wird für dich eine Zerstreuung sein.«

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 535-540.
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