[531] Anatol Kuragin lebte in Moskau, weil ihn sein Vater aus Petersburg weggeschickt hatte, wo er die ihm gewährten zwanzigtausend Rubel jährlich verausgabt und noch ebensoviel Schulden dazu gemacht hatte, deren Bezahlung die Gläubiger dann vom Vater verlangten.
Der Vater hatte dem Sohn erklärt, er wolle zum letztenmal die Hälfte seiner Schulden bezahlen, aber nur unter der Bedingung, daß er nach Moskau gehe, dort eine Stellung als Adjutant des Oberkommandierenden übernehme, die er ihm durch seine Bemühungen verschafft hatte, und sich ebendort bemühe, endlich eine gute Partie zu machen. Er hatte ihn auf Prinzessin Marja und auf Julja Karagina hingewiesen.
Anatol hatte sich damit einverstanden erklärt, war nach Moskau gereist und hatte sich dort bei Pierre einquartiert. Pierre hatte ihn zwar zuerst nur ungern bei sich aufgenommen, sich aber dann an ihn gewöhnt. Manchmal fuhr er mit Anatol zu dessen Gelagen[531] mit und gab ihm auch, unter dem unzutreffenden Namen eines Darlehens, Geld.
Anatol hatte, wie Schinschin ganz richtig von ihm gesagt hatte, seit er nach Moskau gekommen war, allen Moskauer Damen die Köpfe verdreht, und zwar namentlich dadurch, daß er sie vernachlässigte und ihnen unverhohlen Zigeunerinnen und französische Schauspielerinnen vorzog, mit deren renommiertester, Mademoiselle Georges, er, wie es hieß, nähere Beziehungen unterhielt. Er ließ kein Gelage bei Danilow und anderen lebenslustigen Patronen Moskaus unbesucht, trank ganze Nächte hindurch, trank alle unter den Tisch und war auf allen Soireen und Bällen der vornehmsten Gesellschaftskreise zu finden. Es wurden mehrere pikante Liebesaffären erzählt, die er mit Moskauer verheirateten Damen gehabt hatte, und er machte auch auf den Bällen einigen den Hof; aber mit den jungen Mädchen, und namentlich mit den reichen in heiratsfähigem Alter, die größtenteils häßlich waren, ließ er sich nicht näher ein, um so weniger, da er, was nur seine nächsten Freunde wußten, sich vor zwei Jahren verheiratet hatte.
Vor zwei Jahren, als Anatols Regiment in Polen stand, hatte ihn ein unbemittelter polnischer Gutsbesitzer gezwungen, seine Tochter zu heiraten. Anatol hatte seine Frau sehr bald wieder verlassen; er hatte sich verpflichtet, seinem Schwiegervater zu bestimmten Terminen Geld zu schicken, und sich dafür das Recht ausbedungen, als ledig zu gelten.
Anatol war stets mit seiner Lage, mit sich selbst und mit den anderen Menschen zufrieden. Er war instinktiv in tiefster Seele davon überzeugt, daß es ihm unmöglich sei, anders zu leben, als er wirklich lebte, und daß er nie in seinem Leben etwas Schlechtes getan habe. Er war nicht imstande, zu überlegen, weder welche Wirkungen seine Handlungen auf andere Menschen[532] ausüben könnten, noch was aus der einen oder andern seiner Handlungen hervorgehen könne. Er war überzeugt, daß, wie die Ente für das Leben im Wasser geschaffen sei, so auch er von Gott so geschaffen sei, daß er eine Jahreseinnahme von dreißigtausend Rubeln haben und stets eine glänzende Stellung einnehmen müsse. Daran glaubte er so fest, daß auch andere, wenn sie ihn ansahen, derselben Überzeugung wurden und ihm weder eine glänzende Stellung in der Gesellschaft noch Geld verweigerten, das er, augenscheinlich ohne die Rückzahlung in Aussicht zu nehmen, dem ersten besten, der ihm in den Weg kam, borgte.
Er war kein Spieler; wenigstens kam es ihm nie darauf an zu gewinnen. Er war nicht eitel; mochte man von ihm denken, was man wollte: ihm war das völlig gleichgültig. Noch weniger konnte man ihn des Ehrgeizes beschuldigen; er hatte mehrmals seines Vaters Bemühungen zu dessen großem Verdruß dadurch vereitelt, daß er sich seine Karriere verdarb, und machte sich über alle Ehren und Würden lustig. Er war nicht geizig und schlug nie eine an ihn gerichtete Bitte um Geld ab. Das einzige, was er liebte, war das Vergnügen und die Frauen; und da nach seiner Anschauung in diesen Neigungen nichts Unedles lag und er nicht imstande war, zu erwägen, welche Folgen für andere Menschen die Befriedigung dieser seiner Neigungen hatte, so hielt er sich in seinem Herzen für einen tadellosen Menschen, hegte eine aufrichtige Verachtung gegen Schurken und schlechte Kerle und trug mit ruhigem Gewissen seinen Kopf hoch.
Die vergnügungssüchtigen Lebemänner, diese sozusagen männlichen Magdalenen, haben im stillen, gerade wie die weiblichen Magdalenen, die Vorstellung, daß sie frei von Schuld seien, und diese Vorstellung gründet sich bei beiden auf die Hoffnung, daß ihnen Vergebung werde zuteil werden. »Ihr wird alles vergeben, weil sie viel geliebt hat«, heißt es im Evangelium, und so denkt[533] auch der Lebemann, es werde ihm alles vergeben werden, weil er sich viel vergnügt habe.
Dolochow, der nach seiner Verbannung und seinen persischen Abenteuern im Laufe des letzten Jahres wieder in Moskau erschienen war und ein luxuriöses Leben führte, dessen wesentliche Bestandteile Hasardspiel und Gelage bildeten, war in nähere Beziehung zu seinem alten Petersburger Kameraden Kuragin getreten und bediente sich dieser Bekanntschaft zu seinen Zwecken.
Anatol hatte eine aufrichtige Zuneigung zu Dolochow, weil ihm dessen Klugheit und Bravour imponierten. Dolochow dagegen, welchem Anatols Name, Stand und Verbindungen sehr willkommen waren, um reiche junge Leute in seinen Spielzirkel hineinzulocken, nutzte die Bekanntschaft mit Kuragin aus, ohne es diesen merken zu lassen. Auch diente ihm Kuragin, von dem praktischen Zweck ganz abgesehen, als amüsantes Spielzeug; denn einen fremden Willen bald so bald so zu lenken, diese Tätigkeit war ihm schon an sich ein Genuß, eine Gewohnheit und ein Bedürfnis.
Natascha hatte auf Kuragin einen starken Eindruck gemacht. Als er nach dem Theater mit Dolochow soupierte, setzte er diesem in der kunstgemäßen Manier eines Kenners die Schönheit ihrer Arme, ihrer Schultern, ihrer Füße und ihres Haares auseinander und erklärte, er habe vor, eine regelrechte Attacke auf sie zu machen. Was ein solches Benehmen für Folgen haben konnte, das zu überlegen und zu begreifen war Anatol nicht imstande, wie er sich denn niemals darüber klar war, was aus dieser oder jener seiner Handlungen hervorgehen werde.
»Hübsch ist sie, Bruder; aber sie ist nichts für uns«, bemerkte Dolochow.
»Ich will meiner Schwester sagen, sie möchte sie zum Diner einladen«, sagte Anatol. »Was meinst du?«[534]
»Warte lieber, bis sie verheiratet ist ...«
»Du weißt«, erwiderte Anatol, »was man so ›ein junges Blut‹ nennt, ist meine besondere Passion; so eine ist immer gleich ganz hin.«
»Du bist schon einmal mit so einem jungen Blut hereingefallen«, entgegnete Dolochow, der von Anatols Heirat Kenntnis hatte. »Sieh dich vor!«
»Na, zweimal kann es ja doch nicht passieren! Nicht wahr?« sagte Anatol, gutmütig lachend.