XVI

[558] Anatol war vor einiger Zeit zu Dolochow übergesiedelt. Der Plan, die Komtesse Rostowa zu entführen, war schon vor einigen Tagen von Dolochow entworfen und vorbereitet worden, und an dem Tag, als Sonja an Nataschas Tür gelauscht und beschlossen hatte, ihre Freundin zu überwachen, sollte dieser Plan zur Ausführung gebracht werden. Natascha hatte versprochen, um zehn Uhr zu Kuragin an die Hintertür hinauszukommen. Kuragin sollte sie in einen bereitstehenden dreispännigen Schlitten setzen und mit ihr sechzig Werst weg von Moskau nach dem Dorf Kamenka fahren, wo ein abgesetzter Pope bereitstand, der sie beide trauen sollte. In Kamenka waren Relaispferde bestellt, mit denen sie an die Warschauer Chaussee[558] fahren wollten, und von dort wollten sie sich mit Postpferden so schnell wie möglich ins Ausland begeben.

Anatol besaß einen Paß und einen Reiseschein für die Post, ferner zehntausend Rubel, die ihm seine Schwester gegeben, und zehntausend, die er sich durch Dolochows Vermittlung geborgt hatte.

Die beiden Trauzeugen, ein ehemaliger Gerichtsschreiber Chwostikow, von dessen Beihilfe Dolochow beim Spiel Gebrauch machte, und ein entlassener Husar namens Makarin, ein gutmütiger, schwacher Mensch, der mit grenzenloser Liebe an Kuragin hing, saßen im vordersten Zimmer und tranken Tee.

In seinem großen Wohnzimmer, dessen Wände von unten bis oben mit persischen Teppichen, Bärenfellen und Waffen geschmückt waren, saß Dolochow, mit Stiefeln und in einer Reisejoppe, vor dem offenen Schreibtisch, auf welchem ein Blatt mit Zahlen und mehrere Banknotenpäckchen lagen. Anatol kam in aufgeknöpfter Uniform aus dem Zimmer, in welchem die Trauzeugen saßen, und ging durch das Wohnzimmer hindurch nach der Hinterstube, wo sein französischer Kammerdiener mit Hilfe anderer Bedienter die letzten Sachen einpackte. Dolochow zählte Geld und machte Notizen.

»Na also«, sagte er. »Diesem Chwostikow müssen wir zweitausend Rubel geben.«

»Na, dann gib sie ihm«, erwiderte Anatol.

»Makarin geht ohne Entgelt für dich durchs Feuer. Na, dann ist die Berechnung fertig«, sagte Dolochow und hielt ihm das Blatt mit den Zahlen hin. »Einverstanden?«

»Ja, selbstverständlich einverstanden«, antwortete Anatol, der offenbar gar nicht auf Dolochow hörte und mit einem steten, unveränderlichen Lächeln vor sich hinblickte.[559]

Dolochow schlug die Klappe des Schreibtisches zu und wandte sich mit einem spöttischen Lächeln zu Anatol.

»Weißt du was?« sagte er. »Gib diese ganze Geschichte auf. Noch ist es Zeit!«

»Du Dummkopf!« erwiderte Anatol. »Rede nicht solchen Unsinn. Wenn du wüßtest ... Weiß der Teufel, ich habe diesmal doch eine ganz eigene Empfindung!«

»Im Ernst, laß es bleiben«, sagte Dolochow. »Mein Rat ist vernünftig. Meinst du etwa, daß das, was du da eingefädelt hast, ein Spaß ist?«

»Ach, diese ewigen Hänseleien! Geh zum Teufel!« rief Anatol, ärgerlich die Stirn runzelnd. »Ich bin wirklich nicht in der Stimmung, deine albernen Späße anzuhören!« Er verließ das Zimmer.

Dolochow lächelte mit einer Art von nachsichtiger Geringschätzung, als Anatol hinausging.

»Warte mal«, rief er ihm nach, »ich scherze nicht; ich rede im Ernst. Komm mal her!«

Anatol kam wieder ins Zimmer und blickte, bemüht, seine Aufmerksamkeit auf diesen Gegenstand zu konzentrieren, Dolochow unverwandt an, dessen Willen er sich offenbar unwillkürlich fügte.

»Hör mir mal zu, ich sage es dir zum letztenmal. Warum sollte ich denn mit dir Scherz treiben? Habe ich dir etwa bei dieser Sache etwas in den Weg gelegt? Wer hat alles für dich arrangiert, einen Popen ausfindig gemacht, dir einen Paß besorgt und Geld beschafft? Alles habe ich getan, ich.«

»Na, dafür bin ich dir auch dankbar. Meinst du, daß ich das nicht anerkenne?« Anatol seufzte und umarmte Dolochow.

»Ich bin dir behilflich gewesen; aber bei alledem muß ich dir doch die Wahrheit sagen: es ist ein gefährliches und, genau besehen, ein dummes Unternehmen. Na also, du entführst sie, gut.[560] Wird man dir das so einfach durchgehen lassen? Es wird herauskommen, daß du schon verheiratet bist. Vors Kriminalgericht wirst du gestellt werden ...«

»Ach, Dummheiten, Dummheiten!« rief Anatol und runzelte wieder die Stirn. »Ich habe dir die Sache ja doch schon auseinandergesetzt, nicht wahr?« Und mit jener besonderen Vorliebe, die beschränkte Menschen häufig für logische Schlüsse haben, zu denen ihr Verstand noch gerade ausreicht, wiederholte er die Beweisführung, die er seinem Freund Dolochow schon hundertmal vorgetragen hatte: »Ich habe dir die Sache ja doch schon auseinandergesetzt; ich sage so: wenn die jetzt zu schließende Ehe ungültig ist« (hier bog er einen Finger ein), »dann habe ich natürlich nichts zu verantworten; na, und wenn sie gültig ist, dann ist es auch ganz egal, denn im Ausland wird niemand etwas davon wissen. Na, das ist doch richtig? Dagegen ist doch nichts zu sagen!«

»Im Ernst, laß die Sache bleiben! Du bindest dich nur ...«

»Scher dich zum Teufel!« rief Anatol; sich in die Haare greifend ging er in das andere Zimmer, kam aber gleich wieder zurück und setzte sich Dolochow nahe gegenüber auf einen Lehnstuhl, auf den er auch die Beine hinaufzog. »Weiß der Teufel, was ich diesmal für eine Empfindung habe! Was meinst du dazu? Fühle mal, wie mein Herz schlägt!« Er faßte Dolochows Hand und legte sie sich auf das Herz. »Ach! Was für ein Füßchen, lieber Freund, und was für ein Blick! Eine Göttin!! Nicht wahr?«

Dolochow lächelte kalt, und seine schönen, frechen Augen begannen eigentümlich zu glänzen; so blickte er Anatol an, und es war klar, daß er sich noch weiter über ihn amüsieren wollte.

»Na, und wenn das Geld zu Ende ist, was dann?«

»Was dann?« wiederholte Anatol mit ungeheuchelter Verwunderung[561] bei diesem Gedanken an die Zukunft. »Ja, was dann? Das weiß ich nicht zu sagen ... Na, wozu sollen wir solchen Unsinn reden!« Er sah nach der Uhr. »Es ist Zeit!«

Er trat in die Tür nach der Hinterstube.

»Na, wird's bald? Ihr trödelt ja hier ewig!« schrie er die Diener an.

Dolochow räumte das Geld vom Tisch weg, gab einem Diener den Befehl, ihnen vor der Abfahrt noch etwas zu essen und zu trinken zu geben, und ging dann in das Zimmer, wo Chwostikow und Makarin saßen.

Anatol legte sich im Wohnzimmer auf das Sofa, stützte sich auf den Ellbogen, lächelte in Gedanken versunken und flüsterte mit seinen schönen Lippen zärtliche Worte vor sich hin.

»Komm her und iß etwas! Und trink auch einen Schluck!« rief ihm Dolochow vom andern Zimmer her zu.

»Ich mag nicht!« antwortete Anatol, ohne sein Lächeln zu unterbrechen.

»Komm nur! Balaga ist auch schon da.«

Anatol stand auf und ging in das Eßzimmer. Balaga war ein bekannter Fuhrherr, der schon seit sechs Jahren mit Dolochow und Anatol in Geschäftsverbindung stand und ihnen mit seinen Wagen zu Diensten war. Oftmals war er mit Anatol, als dessen Regiment noch in Twer stand, abends aus Twer abgefahren, hatte ihn um die Morgendämmerung nach Moskau gebracht und ihn dann in der folgenden Nacht wieder zurückgefahren. Oftmals hatte er Dolochow durch schnelle Fahrt vor Verfolgung in Sicherheit gebracht. Oftmals hatte er sie mit Zigeunern und »sonen Damen«, wie Balaga sich ausdrückte, in der Stadt herumkutschiert. Oftmals hatte er bei solchen Fahrten Menschen überfahren und Droschken umgestoßen, und immer hatten ihm dann »seine Herren«, wie er sie nannte, aus der Klemme geholfen.[562] Gar manches Pferd hatte er, wenn er sie fuhr, zu Tode gejagt. Oftmals hatten sie ihn geprügelt, oftmals ihm Champagner und (sein Lieblingsgetränk!) Madeira zu trinken gegeben, und er wußte von jedem der beiden manchen schlimmen Streich, der einem gewöhnlichen Menschen schon längst die Verbannung nach Sibirien eingetragen hätte. Zu ihren Gelagen zogen sie Balaga häufig mit heran und ließen ihn bei den Zigeunern mittrinken und mittanzen; sie behandelten ihn dabei als Vertrauensmann, und manches Tausend Rubel ihres Geldes war schon durch seine Hände gegangen. Wenn er sie fuhr, riskierte er zwanzigmal im Jahr seine Haut und sein Leben, und die Pferde, die er in ihrem Dienst zugrunde richtete, waren mehr wert, als was sie ihm für die Fahrten bezahlten. Aber er hatte die beiden Herren gern und liebte dieses unsinnige Fahren, achtzehn Werst in der Stunde, und hatte seine Freude daran, eine Droschke umzustoßen und einen Fußgänger zu überfahren und in vollem Galopp durch die Straßen Moskaus dahinzujagen. Es machte ihm Vergnügen, hinter sich den wilden Ruf seiner betrunkenen Fahrgäste: »Schneller, schneller!« zu hören, wo doch eine Steigerung der Geschwindigkeit überhaupt nicht mehr möglich war; es war ihm eine Lust, dem Bauer, der so schon halbtot vor Schreck zur Seite sprang, einen kräftigen Peitschenhieb über den Nacken zu versetzen. »Echte Herren!« dachte er.

Anatol und Dolochow ihrerseits hatten Balaga ebenfalls gern, sowohl wegen seines meisterhaften Fahrens, als auch weil er dieselben Passionen hatte wie sie. Mit anderen Leuten einigte sich Balaga vorher über den Preis, nahm fünfundzwanzig Rubel für eine zweistündige Fahrt und fuhr mit anderen nur selten persönlich, sondern schickte meistens seine Kutscher. Aber mit seinen Herren, wie er sie nannte, fuhr er immer selbst und stellte nie eine Forderung für seine Leistung. Nur kam er so etwa alle paar[563] Monate einmal, wenn er durch die Kammerdiener erfahren hatte, daß Geld vorhanden war, frühmorgens in nüchternem Zustand zu ihnen und bat unter tiefen Verbeugungen, ihm aus der Not zu helfen. Die Herren nötigten ihn dabei immer zum Sitzen.

»Helfen Sie mir, Väterchen Fjodor Iwanowitsch«, oder: »Euer Durchlaucht«, sagte er. »Ich habe so gut wie gar keine Pferde mehr. Schießen Sie mir vor, soviel Sie gerade können, damit ich auf dem Jahrmarkt welche kaufen kann.«

Und dann gaben ihm Anatol und Dolochow, wenn sie bei Geld waren, jeder tausend oder zweitausend Rubel.

Balaga hatte dunkelblondes Haar, ein rotes Gesicht und namentlich einen roten, dicken Hals, eine untersetzte Gestalt, eine aufgestülpte Nase, glänzende kleine Augen und ein kleines Bärtchen; sein Lebensalter mochte etwa siebenundzwanzig Jahre betragen. Er trug einen feinen, blauen, mit Seide gefütterten langen Rock, den er über seinen Halbpelz angezogen hatte.

Er bekreuzte sich vor dem Heiligenbild in der Ecke des Zimmers und trat auf Dolochow zu, indem er ihm seine kleine, schwarze Hand entgegenstreckte.

»Ergebenster Diener, Fjodor Iwanowitsch«, sagte er mit einer Verbeugung.

»Guten Abend, Bruder. Nun, da ist er ja auch.«

»Guten Abend, Euer Durchlaucht«, sagte Balaga zu dem eintretenden Anatol und reichte ihm ebenfalls die Hand.

»Ich frage dich, Balaga«, begann Anatol, indem er ihm die Hand auf die Schulter legte. »Hast du mich lieb oder nicht? Wie? Du sollst mir jetzt einen großen Dienst erweisen ... Mit welchen Pferden bist du hergekommen?«

»Wie der Bote bestellt hat, mit euren, mit den wilden Durchgängern«, antwortete Balaga.[564]

»Na, dann höre mal, Balaga! Peitsche das ganze Dreigespann zu Tode; aber sorge dafür, daß wir in drei Stunden da sind. Verstanden?«

»Wenn ich die Pferde totpeitsche, womit sollen wir dann fahren?« erwiderte Balaga, mit den Augen zwinkernd.

»Na, mach keine Späße, sonst zerschlage ich dir die Schnauze!« schrie Anatol auf einmal, ihn grimmig anblickend.

»Wie werde ich denn Späße machen!« sagte der Fuhrherr lächelnd. »Habe ich denn jemals für meine Herren die Pferde geschont? Wir werden fahren, so schnell sie nur irgend laufen können.«

»So ist's recht!« erwiderte Anatol. »Na, setz dich.«

»Jawohl, setz dich hin!« sagte auch Dolochow.

»Ich kann ja stehen, Fjodor Iwanowitsch.«

»Unsinn, setz dich hin und trink!« sagte Anatol und goß ihm ein großes Glas Madeira ein.

Mit glitzernden Augen sah der Fuhrherr nach dem Wein hin. Nachdem er zuerst um des Anstandes willen abgelehnt hatte, trank er ihn aus und wischte sich mit einem rotseidenen Taschentuch, das er in seiner Mütze liegen hatte, den Mund ab.

»Nun also, wann fahren wir, Euer Durchlaucht?«

»Wir wollen jetzt gleich fahren«, erwiderte Anatol nach einem Blick auf die Uhr. »Gib dir rechte Mühe, Balaga. Wirst du auch zur bestimmten Zeit hinkommen?«

»Das kommt auf die Abfahrt an; wenn wir glücklich abfahren, warum sollten wir nicht zur rechten Zeit hinkommen? Als wir einmal von hier nach Twer fuhren, habe ich dich in sieben Stunden hingebracht. Erinnerst du dich wohl noch, Euer Durchlaucht?«

»Weißt du, ich fuhr einmal zu Weihnachten von Twer nach einem Gut«, sagte Anatol, dessen Gesicht bei dieser Erinnerung[565] ein Lächeln überzog, zu Makarin, der ihn voller Rührung unverwandt anblickte. »Kannst du es glauben, Makarin, der Atem verging uns, so schnell flogen wir dahin. Wir fuhren in einen Zug Bauernschlitten hinein; über zwei Fuhren setzten wir hinüber. Was sagst du dazu?«

»Ja, das waren mal Pferde!« setzte Balaga die Erzählung fort. »Ich hatte damals zwei junge Seitenpferde zu dem hellbraunen Deichselpferd eingespannt«, wandte er sich an Dolochow. »Kannst du es glauben, Fjodor Iwanowitsch, sechzig Werst sausten die Biester nur so dahin; gar nicht zu halten waren sie; die Hände wurden mir starr, denn es war kalt. Ich warf die Zügel hin. ›Halte du sie, Euer Durchlaucht!‹ sagte ich; ich selbst fiel nur so in den Schlitten zurück. Von Antreiben war gar nicht die Rede: bis zum Ziel waren sie nicht zu halten. In drei Stunden brachten sie uns hin, die Teufelskanaillen. Nur das linke Seitenpferd krepierte daran.«

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 558-566.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Jean Paul

Die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht / Des Feldpredigers Schmelzle Reise nach Flätz. Zwei Erzählungen

Die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht / Des Feldpredigers Schmelzle Reise nach Flätz. Zwei Erzählungen

Zwei satirische Erzählungen über menschliche Schwächen.

76 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon