XIX

[575] Schon seit dem Tag, wo seine Frau nach Moskau gekommen war, hatte Pierre vorgehabt, irgendwohin zu verreisen, nur um nicht mit ihr zusammenzusein. Bald nach der Ankunft der Rostows in Moskau veranlaßte ihn der Eindruck, welchen Natascha auf ihn machte, die Ausführung seiner Absicht zu beschleunigen. Er fuhr nach Twer zu Osip Alexejewitschs Witwe, die schon vor längerer Zeit versprochen hatte, ihm die Papiere ihres verstorbenen Gatten zu übergeben.

Als Pierre nach Moskau zurückkehrte, fand er in seiner Wohnung einen Brief von Marja Dmitrijewna vor, die ihn ersuchte, in einer sehr wichtigen, den Fürsten Andrei und dessen Braut betreffenden Angelegenheit zu ihr zu kommen. Pierre hatte bisher ein Zusammentreffen mit Natascha vermieden. Er war der Meinung, daß er für sie eine stärkere Zuneigung empfinde, als sie ein verheirateter Mann für die Braut seines Freundes hegen dürfe. Und nun führte eine Art von Schicksalsfügung ihn doch beständig mit ihr zusammen.

»Was mag nur vorgefallen sein? Und warum wenden sie sich gerade an mich?« fragte er sich, während er sich anzog, um zu Marja Dmitrijewna zu fahren. »Wenn nur Fürst Andrei recht bald ankäme und sie heiratete!« dachte er auf der Fahrt zu Frau Achrosimowa.

Auf dem Twerskoi-Boulevard rief ihn jemand an.

»Pierre! Bist du schon lange wieder hier?« rief ihm eine bekannte Stimme zu. Pierre hob den Kopf in die Höhe. In einem Schlitten mit zwei grauen Trabern, die das Vorderteil des Schlittens mit Schnee bewarfen, flog Anatol mit seinem steten[575] Begleiter Makarin vorüber. Anatol saß gerade aufgerichtet, in der von der Mode vorgeschriebenen Haltung eines militärischen Elegants: den unteren Teil des Gesichtes vom Biberkragen verhüllt und den Kopf ein wenig nach vorn geneigt. Sein Gesicht war frisch und rosig; der Hut mit dem weißen Federbusch war schräg aufgesetzt und ließ das gekräuselte, pomadisierte und mit feinem Schnee bestreute Haar sehen.

»Wahrhaftig, der da, das ist der wahre Weise!« fuhr es Pierre durch den Kopf. »Er richtet seinen Blick lediglich auf das Vergnügen des gegenwärtigen Augenblicks, ohne darüber hinauszusehen; durch nichts läßt er sich aufregen, und daher ist er immer heiter, zufrieden und ruhig. Was würde ich darum geben, ein solcher Mensch zu sein wie er!« dachte Pierre nicht ohne Neid.

In Marja Dmitrijewnas Vorzimmer sagte der Diener, der ihm den Pelz abnahm, die gnädige Frau lasse ihn zu sich in ihr Schlafzimmer bitten.

Als Pierre die Tür nach dem Saal öffnete, erblickte er Natascha, die mit hagerem, blassem, finsterem Gesicht am Fenster saß. Sie sah sich nach ihm um, zog die Augenbrauen zusammen und verließ mit einer Miene kalter Würde das Zimmer.

»Was ist denn geschehen?« fragte Pierre, als er zu Marja Dmitrijewna hereintrat.

»Nette Geschichten!« antwortete Marja Dmitrijewna. »Achtundfünfzig Jahre bin ich schon auf der Welt; aber eine solche Schande habe ich noch nicht erlebt.«

Und nachdem sie Pierre das Ehrenwort abgenommen hatte, über alles, was er erfahren werde, zu schweigen, teilte ihm Marja Dmitrijewna mit, daß Natascha ihrem Bräutigam ohne Wissen ihrer Eltern abgeschrieben habe, und daß die Ursache dieser Absage Anatol Kuragin sei, mit dem Pierres Frau sie zusammengebracht habe und mit dem sie während der Abwesenheit[576] ihres Vaters habe entfliehen wollen, um sich heimlich mit ihm trauen zu lassen.

Mit offenem Mund und mit hinaufgezogenen Schultern hörte Pierre an, was ihm Marja Dmitrijewna erzählte, und wollte seinen Ohren nicht trauen. Die Braut des Fürsten Andrei, die die leidenschaftliche Liebe ihres Bräutigams besaß, diese früher so allerliebste Natascha Rostowa, gibt einen solchen Bräutigam hin für den Narren Anatol, der schon verheiratet ist (Pierre wußte von dieser geheimen Ehe), und verliebt sich in ihn so, daß sie einwilligt, mit ihm davonzugehen – das konnte Pierre sich nicht vorstellen und nicht begreifen.

Das liebliche Bild, das er von der ihm seit ihrer Kindheit bekannten Natascha in seiner Seele getragen hatte, vermochte er mit der neuen Vorstellung von ihrer niedrigen Denkart, ihrer Torheit und Herzlosigkeit nicht zu vereinigen. Er mußte an seine Frau denken. »Sie sind doch alle von derselben Sorte!« urteilte er im stillen und sagte sich, daß er nicht der einzige sei, dem das unglückliche Los zuteil geworden wäre, mit einer unwürdigen Frau verbunden zu sein. Aber dennoch bemitleidete er den Fürsten Andrei so tief, daß er hätte weinen mögen; wie schwer mußte sich dieser in seinem Stolz verletzt fühlen! Und je mehr er seinen Freund bemitleidete, mit um so größerer Geringschätzung, ja Empörung dachte er an diese Natascha, die mit einem solchen Ausdruck kalter Würde soeben an ihm vorbei durch den Saal gegangen war. Er wußte nicht, daß Nataschas Seele übervoll war von den Gefühlen der Verzweiflung, Scham und Zerknirschung, und daß sie nichts dafür konnte, wenn ihr Gesicht wider ihren Willen den Ausdruck starrer, kalter Würde zeigte.

»Wie hätte sie sich denn mit ihm trauen lassen können?« erwiderte Pierre auf Marja Dmitrijewnas Mitteilungen. »Trauen lassen konnte er sich nicht; er ist schon verheiratet.«[577]

»Immer besser, immer großartiger!« rief Marja Dmitrijewna. »Ein nettes Bürschchen! So ein Schurke! Und sie wartet auf Nachricht von ihm, wartet seit zwei Tagen! Wenigstens wird sie nun aufhören zu warten; das muß ich ihr mitteilen.«

Nachdem Marja Dmitrijewna von Pierre Näheres über Anatols Heirat gehört und ihrem Zorn über diesen Menschen durch kräftige Schimpfworte Luft gemacht hatte, eröffnete sie ihm, warum sie ihn habe rufen lassen. Sie fürchtete, der Graf oder Bolkonski, der jeden Augenblick eintreffen konnte, würden die Sache, obgleich sie sie ihnen zu verheimlichen beabsichtigte, doch erfahren und dann Kuragin zum Duell fordern; und darum richtete sie an Pierre die Bitte, er möchte in ihrem Namen seinem Schwager befehlen, aus Moskau zu verschwinden und es nicht zu wagen, ihr wieder unter die Augen zu kommen. Pierre versprach ihr, ihren Wunsch zu erfüllen; er hatte erst jetzt die Gefahr begriffen, die sowohl dem alten Grafen als auch Nikolai und dem Fürsten Andrei drohte. Kurz und klar setzte Marja Dmitrijewna ihm auseinander, was sie von Anatol Kuragin verlangte, und entließ ihn dann mit der Aufforderung, in den Salon zu gehen.

»Nimm dich nur recht in acht; der Graf weiß nichts von der Geschichte. Tu, als ob du nichts wüßtest«, sagte sie zu ihm. »Und ich werde jetzt hingehen und ihr sagen, daß das Warten keinen Zweck hat. Bleib doch zum Mittagessen hier, wenn du magst!« rief sie ihm noch nach.

Pierre fand im Salon den alten Grafen. Dieser war verlegen und verstört. An diesem Vormittag hatte ihm Natascha gesagt, daß sie die Verlobung mit Bolkonski aufgelöst habe.

»Es ist ein Leiden, ein wahres Leiden, lieber Freund!« sagte er zu Pierre. »Es ist ein Leiden mit solchen jungen Mädchen, wenn die Mutter nicht dabei ist; es tut mir schon leid, sehr leid, daß ich mit ihnen hergereist bin. Ich will gegen Sie ganz offenherzig[578] sein. Haben Sie es schon gehört: sie hat ihrem Bräutigam abgeschrieben, ohne irgend jemand vorher zu fragen. Nun ja, allerdings, ich habe mich über diese in Aussicht stehende Heirat nie sonderlich gefreut. Freilich, er ist ein guter, braver Mensch; na, aber gegen den Willen des Vaters wäre es doch kein Glück gewesen, und Natascha findet leicht andere Freier. Aber trotzdem, die Sache hatte nun schon so lange gedauert; und wie konnte sie überhaupt ohne Vorwissen ihres Vaters und ihrer Mutter einen solchen Schritt tun! Jetzt ist sie nun krank, und Gott weiß was sonst noch dahintersteckt! Ja, es ist eine schlimme Aufgabe für einen Vater, junge Mädchen zu hüten, wenn die Mutter abwesend ist ...«

Pierre sah, daß der alte Graf sehr niedergeschlagen war, und versuchte, das Gespräch auf einen andern Gegenstand zu lenken; aber der alte Mann kam doch wieder auf seinen Kummer zurück.

Sonja trat mit aufgeregter Miene in den Salon.

»Natascha ist nicht ganz wohl«, sagte sie. »Sie ist auf ihrem Zimmer und würde gern mit Ihnen sprechen. Marja Dmitrijewna ist bei ihr und bittet Sie ebenfalls, hinzukommen.«

»Ja, Sie sind ja mit Bolkonski gut befreundet; gewiß will sie Sie bitten, ihm etwas zu bestellen oder zu übergeben«, sagte der alte Graf. »Ach mein Gott, mein Gott! Wie schön und gut war doch alles vorher!«

Er griff mit den Händen in sein dünnes, graues Haar an den Schläfen und ging aus dem Zimmer.

Marja Dmitrijewna hatte Natascha davon in Kenntnis gesetzt, daß Anatol bereits verheiratet sei. Aber Natascha hatte ihr nicht glauben wollen und eine Bestätigung dieser Angabe aus Pierres eigenem Mund verlangt. Sonja teilte dies Pierre mit, während sie ihn über den Korridor zu Nataschas Zimmer führte.

Natascha saß mit bleichem, tiefernstem Gesicht neben Marja[579] Dmitrijewna und richtete auf Pierre, schon als dieser noch an der Tür war, aus ihren fieberhaft glänzenden Augen einen fragenden Blick. Sie lächelte nicht zur Begrüßung und winkte ihm nicht zu, sondern blickte ihn nur starr und unverwandt an, und in ihrem Blick lag nur die eine Frage, ob er in bezug auf ihr Verhältnis zu Anatol ihr Freund oder, wie die andern alle, ihr Feind sei. Als eigene Persönlichkeit existierte Pierre für sie offenbar gar nicht.

»Er weiß alles«, sagte Marja Dmitrijewna, zu Natascha gewendet, indem sie auf Pierre zeigte. »Mag er dir sagen, ob ich die Wahrheit gesprochen habe.«

Wie ein angeschossenes, verfolgtes Wild auf die sich nähernden Hunde und Jäger blickt, so blickte Natascha bald den einen, bald den andern an.

»Natalja Iljinitschna«, begann Pierre mit niedergeschlagenen Augen, da er ein tiefes Mitleid mit ihr und einen starken Widerwillen gegen die von ihm zu vollziehende Operation empfand, »ob das wahr oder unwahr ist, das sollte Ihnen eigentlich ganz gleich sein, da ...«

»Also ist es unwahr, daß er verheiratet ist!«

»Nein, es ist die Wahrheit.«

»Er ist verheiratet, und schon lange?« fragte sie. »Ihr Ehrenwort?«

Pierre gab ihr sein Ehrenwort.

»Ist er noch hier?« fragte sie schnell.

»Ja, ich habe ihn vorhin eben gesehen.«

Sie war offenbar außerstande zu sprechen und machte mit den Händen Zeichen, daß sie sie alleinlassen möchten.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 575-580.
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