XVIII

[570] Marja Dmitrijewna hatte die verweinte Sonja auf dem Korridor getroffen und sie gezwungen, ihr alles zu gestehen. Nachdem sie ein Billett Nataschas aufgefangen und gelesen hatte, ging sie mit dem Billett in der Hand zu Natascha in deren Zimmer.

»Schändliche, Schamlose!« sagte sie zu ihr. »Ich will gar nichts weiter hören!«

Sie stieß Natascha, die sie mit erschrockenen, aber tränenlosen Augen ansah, zurück, schloß sie ein, befahl dem Hausknecht, die Männer, die heute abend kommen würden, ins Tor herein-, aber nicht wieder hinauszulassen, und dem Diener, diese Männer zu ihr zu führen, und setzte sich dann im Salon hin und erwartete die Entführer.

Als Gawriil mit der Meldung zu ihr kam, daß die beiden angekommenen Männer entronnen seien, stand sie mit finster zusammengezogenen Brauen auf, ging, die Hände auf den Rücken gelegt, lange in den Zimmern auf und ab und überlegte, was nun zu tun sei. Um Mitternacht fühlte sie nach dem Schlüssel in ihrer Tasche und ging nach Nataschas Zimmer. Sonja saß schluchzend auf dem Korridor. »Marja Dmitrijewna«, bat sie, »um Gottes willen, lassen Sie mich zu ihr!« Marja Dmitrijewna schloß, ohne[570] ihr zu antworten, die Tür auf. »Eine garstige, widerwärtige Geschichte!« dachte sie. »In meinem Haus ... So eine schändliche Dirne ...! Mir tut nur der Vater leid!« Aber sie gab sich Mühe, ihren Zorn zu mäßigen. »So schwer es auch ist, werde ich doch allen befehlen, davon zu schweigen, und dem Grafen die ganze Sache verheimlichen.« Maria Dmitrijewna trat mit festen Schritten ins Zimmer. Natascha lag auf dem Sofa, das Gesicht mit den Händen verbergend, und rührte sich nicht. Sie lag noch in derselben Haltung da, in welcher Marja Dmitrijewna sie verlassen hatte.

»Eine nette Person bist du ja, eine sehr nette Person!« sagte Marja Dmitrijewna. »Gibt sich in meinem Haus Rendezvous mit Liebhabern! Daß du dich verstellst, hat keinen Zweck. Hör zu, wenn ich mit dir rede.« Marja Dmitrijewna faßte sie an den Arm. »Hör zu, wenn ich rede. Du hast dich entehrt wie die niedrigste Dirne. Ich würde mit dir verfahren, wie du es verdienst, wenn mir nicht dein Vater leid täte. Ich werde die Sache nicht bekanntwerden lassen.«

Natascha änderte ihre Lage nicht; nur begann ihr ganzer Körper infolge eines lautlosen, krampfhaften Schluchzens zu zucken, das sie zu ersticken drohte. Marja Dmitrijewna blickte sich nach Sonja um und setzte sich neben Natascha auf das Sofa.

»Sein Glück, daß er mir entgangen ist; aber ich werde ihn schon noch zu finden wissen«, sagte sie mit ihrer derben, kräftigen Stimme. »Hörst du auch wohl, was ich sage?«

Sie schob ihre große Hand unter Nataschas Kopf und drehte ihn mit dem Gesicht zu sich hin. Sowohl Marja Dmitrijewna als auch Sonja erschraken, als sie Nataschas Gesicht erblickten. Ihre Augen waren glänzend und trocken, die Lippen zusammengepreßt, die Wangen eingefallen.

»Lassen Sie mich ... was wollen Sie von mir ... ich sterbe ...«,[571] murmelte sie, riß sich mit einer heftigen Anstrengung von Marja Dmitrijewna los und nahm wieder ihre frühere Lage ein.

»Natalja ...!« sagte Marja Dmitrijewna. »Ich meine es gut mit dir. Bleib nur liegen; bleib meinetwegen so liegen, wie du liegst; ich will dich nicht anrühren; nur höre zu ... Ich will dir nicht vorhalten, wie schwer du dich vergangen hast. Das weißt du selbst. Na, aber morgen kommt dein Vater zurück; was soll ich dem sagen? Wie?«

Nataschas Körper krümmte sich wieder vor Schluchzen.

»Na, wenn er es nun erfährt und dein Bruder und dein Bräutigam ...«

»Ich habe keinen Bräutigam; ich habe ihm abgeschrieben«, rief Natascha.

»Ganz gleich«, fuhr Marja Dmitrijewna fort. »Na also, wenn die es erfahren, was meinst du, werden sie die Sache so hingehen lassen? Deinen Vater kenne ich ja; wenn der nun diesen Burschen zum Duell fordert, ist denn das schön und gut? Wie?«

»Ach, lassen Sie mich doch in Ruhe; warum haben Sie uns gehindert! Ja, warum? warum? Wer hat Sie darum gebeten?« rief Natascha, indem sie sich auf dem Sofa aufrichtete und Marja Dmitrijewna zornig anblickte.

»Aber was wolltest du denn eigentlich?« rief Marja Dmitrijewna, die nun wieder hitzig wurde. »Hielten wir dich denn etwa eingesperrt? Na, wer hinderte ihn denn, in unserem Haus einen Besuch zu machen? Wozu brauchte er dich denn wie so eine Zigeunerin zu entführen ...? Na, und wenn er dich nun entführt hätte, meinst du denn, daß sie ihn nicht gefunden hätten? Dein Vater oder dein Bruder oder dein Bräutigam. Aber er ist ein Schurke, ein Nichtswürdiger, das ist die Sache!«

»Er ist besser als ihr alle!« schrie Natascha, sich wieder aufrichtend.[572] »Wenn ihr uns nicht in den Weg gekommen wäret ... Ach, mein Gott, warum, warum! Sonja, womit habe ich das um dich verdient? Geht hinaus ...!«

Und sie begann so verzweifelt zu schluchzen, wie die Menschen nur bei solchem Leid weinen, daß sie sich bewußt sind, selbst verschuldet zu haben. Marja Dmitrijewna wollte noch etwas sagen; aber Natascha rief: »Geht hinaus, geht hinaus! Ihr haßt mich alle, ihr verachtet mich!« Und sie ließ sich wieder auf das Sofa zurücksinken.

Marja Dmitrijewna fuhr noch eine Weile fort, auf Natascha einzureden und ihr auseinanderzusetzen, daß die ganze Sache vor dem Grafen geheimgehalten werden müsse, und daß niemand etwas davon erfahren werde, wenn sich nur Natascha anheischig mache, alles aus ihrem Gedächtnis auszulöschen und sich allen zu zeigen, als ob nichts vorgefallen sei. Natascha antwortete nicht. Sie schluchzte auch nicht mehr; aber sie hatte Fieberfrost und Zittern. Marja Dmitrijewna schob ihr ein Kissen unter den Kopf, deckte sie mit zwei Decken zu und brachte ihr selbst Lindenblütentee; oder Natascha blieb alledem gegenüber völlig teilnahmslos.

»Na, mag sie schlafen!« sagte Marja Dmitrijewna und ging aus dem Zimmer in der Meinung, daß sie eingeschlafen sei.

Aber Natascha schlief nicht und blickte mit starren, weitgeöffneten Augen aus dem blassen Gesicht gerade vor sich hin. Diese ganze Nacht über fand sie keinen Schlaf und weinte nicht und redete nicht mit Sonja, die mehrmals aufstand und zu ihr herankam.

Am anderen Tag zur Frühstückszeit kam Graf Ilja Andrejewitsch, wie er versprochen hatte, von seinem Landhaus vor der Stadt zurück. Er war sehr vergnügt: das Geschäft mit dem Käufer war glücklich erledigt, und nichts hielt ihn jetzt mehr in[573] Moskau zurück, wo er die Trennung von seiner Gattin recht schmerzlich empfand. Marja Dmitrijewna begrüßte ihn und teilte ihm mit, Natascha sei am vorhergehenden Tag ernstlich erkrankt; sie hätten den Arzt holen lassen; aber heute gehe es ihr besser. Natascha blieb den ganzen Vormittag in ihrem Zimmer. Mit zusammengepreßten, aufgesprungenen Lippen und trockenen, starren Augen saß sie am Fenster, blickte unruhig nach den Passanten auf der Straße und wendete sich hastig um, wenn jemand zu ihr ins Zimmer trat. Augenscheinlich wartete sie auf Nachrichten von ihm; sie wartete darauf, daß er entweder selbst kommen oder ihr schreiben werde.

Als der Graf zu ihr hereinkam, drehte sie sich beim Klang seiner Männerschritte unruhig um, und ihr Gesicht nahm den früheren kalten, ja bösen Ausdruck wieder an. Sie stand nicht einmal auf, um ihm entgegenzugehen.

»Was ist dir, mein Engel? Bist du krank?« fragte der Graf.

Natascha schwieg eine Weile.

»Ja, ich bin krank«, antwortete sie dann.

Auf die besorgten Fragen des Grafen, warum sie so niedergeschlagen sei, und ob auch nichts mit dem Bräutigam vorgefallen wäre, versicherte sie ihm, es sei nichts geschehen, und bat ihn, sich nicht zu beunruhigen. Marja Dmitrijewna bestätigte dem Grafen Nataschas Angabe, daß nichts vorgefallen sei. Der Graf zog zwar aus der angeblichen Krankheit und dem verstörten Gemütszustand seiner Tochter sowie aus Sonjas und Marja Dmitrijewnas verlegenen Gesichtern seine Schlüsse und sah klar, daß sich doch in seiner Abwesenheit etwas zugetragen haben müsse; aber der Gedanke, es könne sich mit seiner geliebten Tochter etwas Schimpfliches ereignet haben, war ihm so furchtbar und er liebte so sehr seine heitere Ruhe, daß er es vermied, weitere Fragen zu stellen, sich Mühe gab zu glauben, es sei nichts[574] Besonderes geschehen, und nur bedauerte, daß sie wegen Nataschas Unpäßlichkeit die Rückreise nach ihrem Gut aufschieben mußten.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 570-575.
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