VI

[502] Graf Ilja Andrejewitsch traf Ende Januar mit Natascha und Sonja in Moskau ein. Die Gräfin kränkelte dauernd und konnte nicht mitfahren; und auf ihre Genesung zu warten war nicht möglich: Fürst Andrei wurde täglich in Moskau erwartet; ferner mußte die Aussteuer eingekauft werden; es war notwendig, das Landhaus bei Moskau zu verkaufen, und endlich mußte die Anwesenheit des alten Fürsten in Moskau benutzt werden, um ihm seine künftige Schwiegertochter vorzustellen. Das Rostowsche Haus in Moskau war ungeheizt; auch kamen sie nur auf kurze Zeit, und die Gräfin war nicht dabei: aus diesen Gründen entschloß sich Ilja Andrejewitsch, in Moskau bei Marja Dmitrijewna Achrosimowa abzusteigen, die ihm schon lange ihre Gastfreundschaft angeboten hatte.

Spätabends kamen die vier Rostowschen Schlitten auf Marja Dmitrijewnas Hof in der Staraja-Konjuschennaja-Straße gefahren. Marja Dmitrijewna wohnte allein: ihre Tochter war schon verheiratet, und ihre Söhne befanden sich sämtlich in dienstlichen Stellungen.

Sie hielt sich immer noch ebenso aufrecht wie früher, sagte immer noch ebenso geradeheraus, laut und entschieden allen Leuten ihre Meinung und machte gewissermaßen durch ihr ganzes Wesen anderen Menschen Vorwürfe wegen all der Schwächen, Leidenschaften und törichten Neigungen, deren[502] Existenzberechtigung sie nicht anerkannte. Vom frühen Morgen an beschäftigte sie sich in einer bequemen Jacke mit der Hauswirtschaft. Darauf fuhr sie an Festtagen zur Messe und von der Messe nach den Gefängnissen und Kerkern, wo sie eine Tätigkeit ausübte, von der sie zu niemand sprach; an Werktagen empfing sie, nachdem sie sich angekleidet hatte, bei sich zu Hause Bittsteller der verschiedensten Lebensstellungen, deren sich täglich eine Menge bei ihr einfand. Dann aß sie zu Mittag; an ihrem kräftigen, wohlschmeckenden Mittagessen nahmen stets drei bis vier Gäste teil; nach dem Mittagessen spielte sie eine Partie Boston; vor dem Schlafengehen ließ sie sich die Zeitungen und neue Bücher vorlesen, während sie selbst strickte. Besuche machte sie nur ganz selten und ausnahmsweise, und wenn sie es tat, dann nur bei den vornehmsten Persönlichkeiten in der Stadt.

Sie hatte sich noch nicht hingelegt, als Rostows eintrafen und im Vorzimmer die Rolle der Tür knarrte, durch welche Rostows und deren Dienerschaft aus der kalten Luft hereinkamen. Marja Dmitrijewna stand mit ihrer Brille, die sie tief auf die Nase hinabgeschoben hatte, und mit zurückgelegtem Kopf in der Saaltür und blickte die Eintretenden mit ernster, strenger Miene an. Man hätte denken können, sie sei über die Ankömmlinge ärgerlich und werde sie sogleich wieder wegjagen, wenn sie nicht gleichzeitig ihren Dienstboten sorgfältige Anweisungen über die Unterbringung der Gäste und ihres Gepäckes gegeben hätte.

»Ist das hier das Gepäck des Grafen? Das trage dorthin«, sagte sie, ohne jemand zu begrüßen, indem sie auf die Koffer wies. »Die Fräulein kommen dorthin, nach links. Na, was macht ihr da für unnütze Komplimente!« rief sie den Dienstmädchen zu. »Zündet den Samowar an! Du bist voller und hübscher geworden«, bemerkte sie und zog die von der Kälte gerötete Natascha an der Pelzkappe zu sich heran. »Hu, wie kalt bist du!«[503] Und dem Grafen, der herantreten wollte, um ihr die Hand zu küssen, schrie sie zu: »So zieh dir doch nur schnell erst den Pelz aus! Du bist ja wohl ganz durchgefroren. Stellt zum Tee Rum auf den Tisch! Bon jour, Sonja!« sagte sie zu dieser und deutete durch diese französische Begrüßung ihre bei aller Freundlichkeit doch ein wenig geringschätzige Gesinnung gegen Sonja an.

Nachdem alle Ankömmlinge ihre winterlichen Reisehüllen abgelegt und sich von der Reise wieder in Ordnung gebracht hatten, erschienen sie zum Tee, und nun küßte Marja Dmitrijewna alle der Reihe nach.

»Ich freue mich von ganzem Herzen, daß ihr nach Moskau gekommen seid und daß ihr bei mir logiert«, sagte sie. »Es ist hohe Zeit«, fuhr sie mit einem bedeutsamen Blick auf Natascha fort. »Der Alte ist hier, und der Sohn wird von Tag zu Tag erwartet. Ihr müßt euch unter allen Umständen mit dem Alten bekanntmachen. Na, darüber reden wir später noch«, fügte sie hinzu, indem sie Sonja mit einem Blick streifte, welcher besagte, daß sie in deren Gegenwart nicht darüber reden möge. »Nun höre«, wandte sie sich an den Grafen, »was hast du denn für morgen für Wünsche? Wen soll ich dir einladen? Schinschin?« Sie bog einen Finger ein. »Die weinerliche Anna Michailowna? Zwei. Sie hat jetzt ihren Sohn hier bei sich und verschafft ihm eine Frau! Dann Besuchow, nicht wahr? Der ist auch mit seiner Frau hier. Er war ihr weggelaufen; aber sie ist ihm schleunigst nachgereist. Er ist Mittwoch bei mir zu Tisch gewesen. Na, und diese beiden«, sie zeigte auf die jungen Damen, »die werde ich morgen in die Iberische Kapelle führen, und dann wollen wir zu der Ober-Schelmin fahren. Ihr werdet euch ja doch wohl lauter neue Garderobe machen lassen? Nach mir könnt ihr euch darin nicht richten; jetzt werden Ärmel getragen – so! von der Größe! Neulich besuchte mich die junge Prinzessin Irina Wasiljewna: es[504] sah ganz verdreht aus; als ob sie sich zwei Fässer über die Arme gezogen hätte. Es ist ja jetzt alle Tage eine andere Mode. Na, und du, was hast du für Geschäfte?« wandte sie sich mit strenger Miene zum Grafen.

»Es ist auf einmal alles zusammengekommen«, antwortete der Graf. »Plunderzeug muß ich einkaufen, und dann habe ich hier einen Käufer für das Landhaus vor der Stadt und für das Stadthaus in Aussicht. Wenn Ihre Güte mit das gestatten sollte, so würde ich mir eine passende Zeit aussuchen und auf einen Tag nach Marinskoje hinausfahren und Ihnen solange meine Mädchen aufpacken.«

»Gut, gut; sie werden bei mir wohlbehütet sein. Bei mir sind sie wie im Vormundschaftsrat selbst. Ich werde sie ausführen, wohin es nötig ist, und werde sie nach Bedarf schelten und streicheln«, sagte Marja Dmitrijewna und tippte mit ihrer großen Hand Natascha, die ihr Liebling und Patenkind war, an die Wange.

Am andern Tag führte Marja Dmitrijewna vormittags die beiden jungen Mädchen in die Iberische Kapelle und zu Madame Auber-Chalmé, die vor Marja Dmitrijewna solche Angst hatte, daß sie ihr ihre Putzsachen und Kostüme immer mit Verlust abließ, nur um diese resolute Kundin möglichst schnell wieder loszuwerden. Marja Dmitrijewna bestellte dort fast die ganze Aussteuer. Als sie wieder nach Hause gekommen waren, trieb sie alle außer Natascha aus dem Zimmer und forderte ihren Liebling auf, sich dicht neben ihren Lehnstuhl zu setzen.

»Na, also jetzt wollen wir ein bißchen miteinander reden. Ich wünsche dir Glück zu deinem Bräutigam. Da hast du dir einen recht braven Menschen geangelt! Ich freue mich um deinetwillen; ich kenne ihn von der Zeit her, wo er noch so klein war.« Sie zeigte etwa zwei Fuß von der Erde. Natascha errötete vor[505] Freude. »Ich habe ihn und seine ganze Familie sehr gern. Nun höre zu. Du weißt ja, der alte Fürst Nikolai ist sehr dagegen, daß sein Sohn sich wieder verheiratet. Ein wunderlicher alter Mann! Es versteht sich von selbst: Fürst Andrei ist kein Kind und kann ohne Zustimmung seines Vaters tun, was er will; aber wenn du gegen den Willen des Vaters in die Familie einträtest, so wäre das doch ein übles Ding. Das muß in Frieden und Freundschaft geschehen. Du bist ja klug und wirst wissen, wie du dich zu benehmen hast. Benimm dich herzlich und verständig. Dann wird schon alles gut werden.«

Natascha schwieg, wie Marja Dmitrijewna meinte, aus Schüchternheit; aber in Wirklichkeit war es ihr unangenehm, daß sich jemand in ihr und des Fürsten Andrei Liebesverhältnis einmischte. Dieses Verhältnis erschien ihr als etwas von allen andern menschlichen Verhältnissen derart Verschiedenes, daß, nach ihrer Auffassung, niemand dafür ein Verständnis haben konnte. Sie liebte und kannte nur den Fürsten Andrei, und er liebte sie und mußte in den nächsten Tagen eintreffen und sie holen. Von weiteren Dingen wollte sie nichts wissen.

»Siehst du wohl, ich kenne ihn schon lange, und auch deine Schwägerin Marja habe ich sehr gern. Man sagt sonst: Schwägerin, Verklägerin; aber diese tut keiner Fliege etwas zuleide. Sie hat mich gebeten, sie mit dir bekanntzumachen. Du wirst morgen mit deinem Vater zu ihr fahren; da schmeichle dich nur recht artig ein: du bist jünger als sie. Wenn dann dein Bräutigam kommt, so sieht er, daß du schon mit seiner Schwester und mit seinem Vater bekannt bist und sie dich liebgewonnen haben. Hab ich recht oder nicht? So ist es doch wohl am besten?«

»Gewiß, so ist es am besten«, antwortete Natascha ohne rechte Herzensfreudigkeit.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 502-506.
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