VII

[506] Am folgenden Tag fuhr Graf Ilja Andrejewitsch auf Marja, Dmitrijewnas Rat mit Natascha zum Fürsten Nikolai Andrejewitsch. Der Graf schickte sich in recht mißvergnügter Stimmung zu diesem Besuch an: es war ihm bänglich zumute. Er mußte an seine letzte Begegnung mit dem Fürsten anläßlich der Einberufung der Landwehr denken, wo ihm als Antwort auf seine Einladung zum Diner von dem Fürsten ein sehr scharfer Verweis zuteil geworden war, weil er seine Mannschaften nicht gestellt hatte. Natascha dagegen, die ihr schönstes Kleid angelegt hatte, befand sich in heiterster Gemütsverfassung. »Es ist ja unmöglich, daß sie mich nicht liebgewinnen sollten«, dachte sie; »bis jetzt haben mich immer alle Leute gern gehabt. Und ich bin von Herzen bereit, ihnen alles zuliebe zu tun, was sie nur wünschen mögen, bin willens, ihn zu lieben, weil er der Vater, und sie, weil sie die Schwester ist, so daß sie keinen Grund haben werden, mir ihre Liebe zu verweigern!«

Sie fuhren bei dem alten, finsterblickenden Haus in der Wosdwischenka-Straße vor und traten in den Flur.

»Nun, Gott gebe uns seinen Segen!« sagte der Graf halb im Scherz, halb im Ernst; aber Natascha bemerkte, daß ihr Vater nicht mit seiner sonstigen Ruhe und Gemächlichkeit in das Vorzimmer trat und schüchtern mit leiser Stimme fragte, ob der Fürst und die Prinzessin zu Hause seien.

Nach der Meldung von ihrer Ankunft war bei der Dienerschaft des Fürsten eine gewisse Unruhe und Bestürzung wahrzunehmen. Der Diener, der hineingeeilt war, um die Meldung abzustatten, wurde auf dem Rückweg von einem andern, alten Diener im Saal angehalten, und sie flüsterten miteinander. Auch kam ein Stubenmädchen in den Saal gelaufen und sagte hastig etwas,[507] worin der Name der Prinzessin vorkam. Endlich kam der alte Diener mit ernster, strenger Miene in das Vorzimmer, in dem die beiden Rostows warteten, und meldete ihnen, der Fürst könne sie nicht empfangen, aber die Prinzessin lasse bitten, auf ihr Zimmer zu kommen.

Die erste, die die Gäste begrüßte, war Mademoiselle Bourienne. Sie befleißigte sich gegen Vater und Tochter ganz besonderer Höflichkeit und führte sie zu der Prinzessin. Die Prinzessin, mit aufgeregtem, erschrockenem, von roten Flecken überdecktem Gesicht, kam mit ihren schweren Schritten ihren Gästen entgegen, indem sie den vergeblichen Versuch machte, unbefangen und erfreut zu erscheinen. Natascha machte beim ersten Blick auf Prinzessin Marja keinen angenehmen Eindruck; sie kam ihr zu geputzt, leichtfertig und eitel vor. Prinzessin Marja war sich dessen nicht bewußt, daß sie schon, ehe sie ihre künftige Schwägerin noch erblickt hatte, aus mehreren Gründen schlecht gegen sie gestimmt gewesen war: weil sie sie unwillkürlich wegen ihrer Schönheit, ihrer Jugend und ihres Glückes beneidete, und weil sie ihr aus Eifersucht die Liebe ihres Bruders nicht gönnte. Abgesehen von diesem unüberwindlichen Gefühl der Abneigung gegen Natascha war Prinzessin Marja in diesem Augenblick auch noch dadurch aufgeregt, daß der Fürst bei der Meldung von der Ankunft der Rostows geschrien hatte, er wolle von ihnen nichts wissen; wenn Prinzessin Marja wolle, so möge sie sie empfangen; in sein Zimmer aber sollten sie nicht hereingelassen werden. Prinzessin Marja hatte bei der Meldung gesagt, sie wolle Rostows empfangen, fürchtete nun aber jeden Augenblick, der Fürst könne irgendeinen Akt der Unhöflichkeit und Feindseligkeit begehen, da ihn die Ankunft der beiden Rostows sehr aufgeregt zu haben schien.

»Nun, liebe Prinzessin, da habe ich Ihnen also meine kleine[508] Heidelerche gebracht«, sagte der Graf mit einer Verbeugung und blickte sich dabei unruhig um, als fürchtete er, der alte Fürst könnte eintreten. »Ich freue mich außerordentlich, daß Sie einander kennenlernen ... Schade, schade, daß der Fürst immer noch unpäßlich ist ...« Und nachdem er noch einige allgemeine Redensarten gemacht hatte, stand er auf. »Wenn Sie erlauben, Prinzessin, überlasse ich Ihnen meine Natascha auf ein Viertelstündchen; ich möchte gern hier ganz in der Nähe einen Besuch machen, auf dem Sobatschja-Platz, bei Anna Semjonowna, und hole meine Tochter dann wieder von hier ab.«

Ilja Andrejewitsch hatte diesen diplomatischen Trick ersonnen, um den künftigen Schwägerinnen eine bessere Möglichkeit zu geben, sich ungeniert miteinander auszusprechen (diesen Grund teilte er nachher seiner Tochter mit), und dann auch, um eine mögliche Begegnung mit dem Fürsten zu vermeiden, vor dem er sich fürchtete. Dies sagte er seiner Tochter nicht; aber Natascha merkte den Grund der ängstlichen Unruhe ihres Vaters und empfand das als eine Kränkung. Sie errötete über die Situation ihres Vaters, ärgerte sich noch mehr eben darüber, daß sie errötet war, und sah nun die Prinzessin mit einem dreisten, herausfordernden Blick an, welcher besagen sollte, sie fürchte sich vor niemand. Die Prinzessin sagte zu dem Grafen, sie freue sich sehr und bitte ihn, nur recht lange bei Anna Semjonowna zu bleiben. Ilja Andrejewitsch entfernte sich.

Prinzessin Marja, welche mit Natascha gern unter vier Augen gesprochen hätte, warf Mademoiselle Bourienne unruhige Blicke zu; aber diese ging trotzdem nicht aus dem Zimmer und plauderte unentwegt von den Moskauer Theatern und sonstigen Vergnügungen. Natascha fühlte sich gekränkt durch die Verlegenheit des Dienstpersonals, die sie vom Vorzimmer aus gemerkt hatte, durch die Unruhe ihres Vaters und durch den gezwungenen[509] Ton der Prinzessin, die ihr (wenigstens schien es Natascha so) eine Gnade damit zu erweisen glaubte, daß sie sie empfing. Und daher war ihr alles zuwider. Prinzessin Marja gefiel ihr nicht; sie kam ihr sehr häßlich in ihrer äußeren Erscheinung sowie heuchlerisch und herzlos vor. Natascha zog sich auf einmal, in geistigem Sinn gesagt, zusammen und nahm unwillkürlich einen lässigen Ton an, dessen Wirkung nur sein konnte, Prinzessin Marja noch mehr abzustoßen. Nachdem das mühsam sich hinschleppende, gekünstelte Gespräch fünf Minuten gedauert hatte, hörten sie, wie sich schnelle Schritte in Pantoffeln näherten. Auf dem Gesicht der Prinzessin Marja malte sich ein jähes Erschrecken; die Tür des Zimmers öffnete sich, und der Fürst, in weißer Nachtmütze und weißem Schlafrock, trat herein.

»Ah, gnädiges Fräulein«, begann er, »gnädiges Fräulein, Komtesse ... Komtesse Rostowa, wenn ich nicht irre ... ich bitte um Verzeihung, bitte um Verzeihung ... Ich wußte nicht, gnädiges Fräulein, bei Gott, ich wußte nicht, daß Sie uns mit Ihrem Besuch beehrten; ich wollte in diesem Kostüm nur zu meiner Tochter kommen. Bitte um Verzeihung ... bei Gott, ich wußte nicht«, sagte er noch einmal, das Wort »Gott« stark betonend, in so unnatürlicher, unangenehmer Weise, daß Prinzessin Marja mit niedergeschlagenen Augen dastand und weder ihren Vater noch Natascha anzublicken wagte.

Natascha, die aufgestanden war und einen Knicks gemacht hatte, wußte ebenfalls nicht, was sie tun sollte. Nur Mademoiselle Bourienne lächelte freundlich.

»Ich bitte um Verzeihung, bitte um Verzeihung; bei Gott, ich wußte nicht ...«, brummte der Alte, und nachdem er Natascha vom Kopf bis zu den Füßen gemustert hatte, ging er wieder hinaus.

Mademoiselle Bourienne war die erste, die nach diesem Erscheinen[510] des Fürsten die Fassung wiedergewann und über die Krankheit des Fürsten zu sprechen anfing. Natascha und Prinzessin Marja sahen einander schweigend an, und je länger sie einander so anblickten, ohne das zu sagen, was sie eigentlich doch gern gesagt hätten, um so unfreundlicher dachten sie beide voneinander.

Als der Graf wiederkam, freute sich Natascha in unhöflicher Weise über seine Rückkehr und hatte es eilig mit dem Aufbruch: sie hatte in diesem Augenblick beinahe einen Haß auf die alte, trockene Prinzessin, die ihr eine so unbehagliche Situation bereitet und es fertiggebracht hatte, mit ihr eine halbe Stunde lang zusammenzusein, ohne ein Wort über den Fürsten Andrei zu sagen. »Ich meinerseits konnte doch in Gegenwart dieser Französin nicht anfangen von ihm zu sprechen«, dachte Natascha. Gleichzeitig quälte Prinzessin Marja sich mit ganz demselben Gedanken. Sie hatte gewußt, was sie zu Natascha sagen mußte; aber sie hatte es nicht über sich bringen können, dies zu tun, einerseits weil ihr Mademoiselle Bourienne im Weg war, und dann, weil es ihr, ohne daß sie selbst recht gewußt hätte warum, so überaus peinlich war, von dieser Ehe zu sprechen. Als der Graf bereits aus dem Zimmer heraus war, trat Prinzessin Marja mit schnellen Schritten an Natascha heran, ergriff ihre Hand und sagte mit einem schweren Seufzer:

»Bleiben Sie noch einen Augenblick; ich möchte ...«

Natascha blickte mit einem spöttischen Lächeln (sie wußte selbst nicht warum) Prinzessin Marja an.

»Liebe Natalja«, sagte Prinzessin Marja, »ich möchte Ihnen noch sagen, wie sehr ich mich darüber freue, daß mein Bruder in Ihnen sein Glück gefunden hat ...«

Sie stockte, da sie fühlte, daß sie die Unwahrheit sprach. Natascha bemerkte dieses Stocken und erriet dessen Ursache.[511]

»Ich glaube, Prinzessin, daß jetzt keine gelegene Zeit ist, um darüber zu sprechen«, erwiderte Natascha, äußerlich gemessen und kühl, aber sie fühlte die nahen Tränen in der Kehle.

»Was habe ich gesagt, was habe ich getan!« dachte sie sowie sie das Zimmer verlassen hatte.

An diesem Tag ließ Natascha beim Mittagessen sehr lange auf sich warten. Sie saß in ihrem Zimmer und weinte wie ein kleines Kind, schluchzend und sich häufig die Nase putzend. Sonja stand neben ihr, beugte sich über sie und küßte sie auf das Haar.

»Natascha, worüber weinst du denn?« sagte sie. »Was gehen dich diese Leute an? Es geht alles vorüber, Natascha.«

»Nein, wenn du wüßtest, wie kränkend es war ... als ob ich ...«

»Sprich nicht mehr davon, Natascha; du kannst ja nichts dafür; also was kümmert es dich? Gib mir einen Kuß!« tröstete Sonja.

Natascha hob den Kopf in die Höhe, küßte ihre Freundin auf die Lippen und drückte ihr feuchtes Gesicht an deren Körper.

»Ich kann gar nicht sagen, wie es gekommen ist; ich weiß es nicht«, sagte Natascha. »Niemand anders kann dafür; ich bin allein daran schuld. Aber es ist ein furchtbarer Schmerz. Ach, warum kommt er nicht ...!«

Mit geröteten Augen kam sie endlich zu Tisch. Marja Dmitrijewna, welche bereits gehört hatte, wie die beiden Rostows vom Fürsten empfangen waren, tat, als bemerke sie Nataschas verstörtes Gesicht nicht, und scherzte in ihrer energischen, lauten Art bei Tisch mit dem Grafen und den andern Gästen.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 506-512.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Apuleius

Der goldene Esel. Metamorphoses, auch Asinus aureus

Der goldene Esel. Metamorphoses, auch Asinus aureus

Der in einen Esel verwandelte Lucius erzählt von seinen Irrfahrten, die ihn in absonderliche erotische Abenteuer mit einfachen Zofen und vornehmen Mädchen stürzen. Er trifft auf grobe Sadisten und homoerotische Priester, auf Transvestiten und Flagellanten. Verfällt einer adeligen Sodomitin und landet schließlich aus Scham über die öffentliche Kopulation allein am Strand von Korinth wo ihm die Göttin Isis erscheint und seine Rückverwandlung betreibt. Der vielschichtige Roman parodiert die Homer'sche Odyssee in burlesk-komischer Art und Weise.

196 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon