IX

[518] Auf der Bühne war in der Mitte ein ebener Bretterboden; auf beiden Seiten standen bemalte Pappwände, welche Bäume darstellten; hinten war senkrecht auf dem Bretterboden eine Leinwand ausgespannt. In der Mitte der Bühne saßen[518] Mädchen in roten Miedern und weißen Röcken. Ein sehr dickes Mädchen in einem weißseidenen Kleid saß für sich allein auf einem niedrigen Bänkchen, an welches von hinten eine grüne Pappe angeklebt war. Alle sangen irgend etwas. Als sie mit ihrem Gesang fertig waren, trat die im weißen Kleid an den Souffleurkasten, und zu ihr trat ein Mann in seidenen Hosen, die ihm sehr straff auf den dicken Beinen saßen, mit einer Feder auf dem Hut und einem Dolch im Gürtel, und fing an zu singen und mit den Händen zu gestikulieren.

Nachdem der Mann in den straff sitzenden Hosen gesungen hatte, sang sie. Dann schwiegen sie beide, die Musik spielte, und der Mann berührte mit den Fingern die Hand des Mädchens im weißen Kleid; er wartete offenbar wieder auf den Takt, um nun seinen Part mit ihr zusammen zu beginnen. Sie sangen nun zu zweien, und alle im Theater fingen an zu klatschen und zu schreien; der Mann und das Mädchen auf der Bühne aber, welche Verliebte darstellten, lächelten, gestikulierten mit den Armen und verbeugten sich.

Nach dem Aufenthalt auf dem Land und bei der ernsten Stimmung, in der sich Natascha befand, erschien ihr dies alles sonderbar und verwunderlich. Sie war nicht imstande, dem Gang der Handlung zu folgen, ja nicht einmal ordentlich auf die Musik zu hören; sie sah nur bemalte Pappwände und seltsam ausstaffierte Männer und Frauen, die sich in heller Beleuchtung sonderbar bewegten und sonderbar redeten und sangen; sie wußte zwar, was dies alles vorstellen sollte; aber dies alles war so verschnörkelt, gekünstelt und unnatürlich, daß sie sich halb für die Schauspieler schämte, halb über sie lachen mußte. Sie blickte um sich herum nach den Gesichtern der Zuschauer und suchte auf ihnen dasselbe Gefühl des Spottes und der Verwunderung, welches sie erfüllte; aber alle Gesichter waren aufmerksam auf das[519] gerichtet, was auf der Bühne vorging, und drückten ein, wie es ihr vorkam, gemachtes Entzücken aus. »Gewiß muß das alles so sein«, dachte Natascha. Sie betrachtete abwechselnd bald diese langen Reihen pomadisierter Köpfe im Parkett, bald die halbnackten Damen in den Logen, namentlich ihre Nachbarin Helene, die, fast vollständig unbekleidet, mit stillem, ruhigem Lächeln unverwandt nach der Bühne blickte; und zugleich kam ihr die starke Helligkeit, die durch den ganzen Saal ausgegossen war, und die hohe Temperatur der von der Menschenmenge erwärmten Luft zum Bewußtsein. Natascha geriet allmählich in einen der Berauschtheit ähnlichen Zustand hinein, in dem sie sich seit langer Zeit nicht mehr befunden hatte. Sie wußte nicht mehr, wer sie war und wo sie war und was vor ihren Augen geschah. Sie sah und dachte, und die sonderbarsten Gedanken huschten ihr überraschend und ohne jede Verknüpfung durch den Kopf. Bald kam ihr der Einfall, auf die Rampe zu springen und die Arie, welche die Sängerin da sang, selbst zu singen, bald fühlte sie sich gelockt, einen nicht weit von ihr sitzenden alten Herrn mit dem Fächer anzustoßen, bald sich zu Helene hinüberzubiegen und sie zu kitzeln.

In einem Augenblick, als gerade auf der Bühne alles still geworden war, da eine Arie beginnen sollte, knarrte die Eingangstür des Parketts auf der Seite, wo die Rostowsche Loge war, und es wurden die Schritte eines Herrn, der sich verspätet hatte, hörbar. »Da ist er, Kuragin!« flüsterte Schinschin. Die Gräfin Besuchowa wandte sich um und lächelte dem Eintretenden zu. Natascha schaute dahin, wohin die Augen der Gräfin Besuchowa gerichtet waren, und erblickte einen ungewöhnlich schönen Adjutanten, der mit selbstbewußter, aber zugleich weltmännisch höflicher Miene sich der Loge näherte, in der sie mit den Ihrigen saß. Es war Anatol Kuragin, den sie vor langer Zeit einmal auf[520] einem Ball in Petersburg gesehen und bemerkt hatte. Er trug jetzt die Adjutantenuniform mit Epauletten und Achselschnüren. Seine langsame, forsche Art zu gehen hätte etwas Komisches gehabt, wenn er nicht eine so schöne Erscheinung gewesen wäre und wenn nicht auf seinem hübschen Gesicht ein solcher Ausdruck gutmütiger Zufriedenheit und Heiterkeit gelegen hätte. Trotzdem auf der Bühne gespielt wurde, schritt er ohne Eile, leise mit den Sporen und dem Säbel klirrend, den schönen, parfümierten Kopf frei und hoch tragend, über den Teppich des Ganges dahin. Als er Natascha erblickte, trat er zu seiner Schwester heran, legte die in einem Glacéhandschuh steckende Hand auf die Brüstung ihrer Loge, nickte ihr mit dem Kopf zu, beugte sich zu ihr und fragte sie etwas, wobei er nach Natascha hinwies.

»Ganz allerliebst!« sagte er offenbar mit Bezug auf Natascha, was diese nicht sowohl hörte als aus der Bewegung seiner Lippen abnahm. Dann ging er weiter zur ersten Reihe und setzte sich neben Dolochow, indem er diesen, gegen den sich andere so liebedienerisch benahmen, freundschaftlich und lässig mit dem Ellbogen anstieß. Er zwinkerte ihm vergnügt zu, lächelte ihn an und stemmte den Fuß gegen die Rampe.

»Wie ähnlich Bruder und Schwester einander sind!« sagte der Graf. »Und wie schön alle beide!«

Schinschin begann dem Grafen halblaut ein Skandalgeschichtchen von einer Liebesaffäre zu erzählen, die Kuragin in Moskau gehabt hatte. Natascha hörte auf die Erzählung besonders deshalb hin, weil Anatol von ihr »Ganz allerliebst!« gesagt hatte.

Der erste Akt war zu Ende; im Parkett standen alle auf, mischten sich untereinander, gingen und kamen.

Boris kam in die Rostowsche Loge, nahm in sehr ruhiger Art die Glückwünsche entgegen, richtete mit emporgezogenen Brauen[521] und einem zerstreuten Lächeln an Natascha und Sonja die Bitte seiner Braut aus, sie möchten doch zu ihrer Hochzeit kommen, und ging wieder weg. Natascha hatte heiter und kokett gelächelt, während sie mit eben jenem Boris plauderte und ihm zu seiner Verlobung gratulierte, in den sie früher verliebt gewesen war. In dem Zustand des Berauschtseins, in welchem sie sich befand, erschien ihr das alles als etwas ganz Einfaches und Natürliches.

Die halbnackte Helene saß neben ihr und lächelte allen in gleicher Weise zu, und genau in derselben Weise hatte Natascha Boris zugelächelt.

Helenes Loge füllte sich mit Besuchern und wurde auch von der Parkettseite her von den vornehmsten und geistreichsten Männern umringt, welche, wie es schien, miteinander wetteiferten, aller Welt zu zeigen, daß sie mit ihr bekannt seien.

Kuragin stand während dieses ganzen Zwischenaktes mit Dolochow vorn an der Rampe und blickte nach der Rostowschen Loge hin. Natascha wußte, daß er von ihr sprach, und dies machte ihr Vergnügen. Sie drehte sich sogar so, daß er ihr Profil in der, nach ihrer Ansicht, vorteilhaftesten Stellung sehen konnte. Vor dem Beginn des zweiten Aktes erschien im Parkett auch die schwerfällige Gestalt Pierres, den Rostows seit ihrer Ankunft noch nicht zu sehen bekommen hatten. Sein Gesicht trug einen schwermütigen Ausdruck, und er war noch dicker geworden, seit ihn Natascha zum letztenmal gesehen hatte. Ohne jemand zu beachten, ging er bis zu den vordersten Reihen hindurch. Anatol trat zu ihm und begann mit ihm ein Gespräch, wobei er nach der Rostowschen Loge hinblickte und hindeutete. Sowie Pierre Natascha erblickte, wurde sein Wesen lebhafter, und er ging eilig durch die Bankreihen zu ihrer Loge hin. Als er zu den Rostows hingelangt war, lehnte er sich mit dem Ellbogen auf die Brüstung und redete lange lächelnd mit Natascha. Während ihrer[522] Unterhaltung mit Pierre hörte Natascha in der Loge der Gräfin Besuchowa eine Männerstimme und erkannte, ohne zu wissen woran, daß es Kuragin war. Sie sah sich um und begegnete seinem Blick. Er sah ihr mit einem so entzückten, freundlichen, beinahe lächelnden Blick in die Augen, daß es ihr sonderbar erschien, ihm so nah zu sein, ihn so anzusehen, so sicher zu wissen, daß sie ihm gefiel, und doch nicht mit ihm bekannt zu sein.

Im zweiten Akt stellten die Pappwände Grabmäler vor, und es war ein Loch in der Leinwand, das den Mond vorstellte, und das Licht der Lampen an der Rampe war durch hochgeschobene Schirme gedämpft, und die Trompeten und Kontrabässe spielten in tiefen Tönen, und von rechts und von links kamen viele Leute in schwarzen Mänteln. Diese Leute schwenkten die Arme hin und her und hatten eine Art von Dolchen in den Händen; dann kamen noch einige Leute herbeigelaufen und schickten sich an, jenes Mädchen wegzuschleppen, das vorher ein weißes Kleid angehabt hatte und jetzt ein himmelblaues trug. Sie schleppten sie aber nicht sofort weg, sondern sangen lange mit ihr, und dann schleppten sie sie wirklich weg, und hinter den Kulissen wurde dreimal auf etwas Metallisches geschlagen, und alle fielen auf die Knie und sangen ein Gebet. Mehrmals wurden alle diese Handlungen von begeisterten Beifallsrufen der Zuschauer unterbrochen.

Jedesmal, wenn Natascha während dieses Aktes ins Parkett blickte, sah sie Anatol Kuragin, wie er den Arm über die Rücklehne seines Sessels gelegt hatte und sie betrachtete. Es war ihr eine angenehme Empfindung, zu sehen, daß sie ihn so fesselte, und es kam ihr gar nicht der Gedanke, daß darin etwas Schlechtes liegen könne.

Als der zweite Akt zu Ende war, stand die Gräfin Besuchowa auf, wendete sich nach der Rostowschen Loge hin (ihre Brust war[523] vollständig entblößt), winkte mit einem behandschuhten Finger den alten Grafen zu sich heran, ohne sich um die Herren zu kümmern, die zu ihr in die Loge gekommen waren, und begann, liebenswürdig lächelnd, eine Unterhaltung mit ihm.

»Machen Sie mich doch mit Ihren reizenden jungen Damen bekannt«, sagte sie. »Die ganze Stadt redet von ihnen, und ich kenne sie nicht.«

Natascha stand auf und machte der schönen Gräfin einen Knicks. Das Lob von seiten dieser glänzenden Schönheit machte ihr so viel Vergnügen, daß sie vor Freude errötete.

»Ich will jetzt ebenfalls eine Moskauerin werden«, fuhr Helene fort. »Machen Sie sich denn gar kein Gewissen daraus, solche Perlen in der Einsamkeit des Landlebens zu verbergen?«

Die Gräfin Besuchowa stand verdientermaßen in dem Ruf, eine bezaubernde Frau zu sein. Sie besaß die Fähigkeit, das, was sie gar nicht dachte, doch in einer vertrauenerweckenden Weise auszusprechen und namentlich in einer ganz schlicht und natürlich aussehenden Art Schmeicheleien zu sagen.

»Ja, lieber Graf, erlauben Sie mir, mich Ihrer jungen Damen anzunehmen. Ich bin freilich jetzt nur auf kurze Zeit hier, ebenso wie Sie; aber ich werde mir Mühe geben, Ihre Damen zu amüsieren.« Und mit ihrem gleichmäßigen, schönen Lächeln sagte sie zu Natascha: »Ich habe schon in Petersburg viel von Ihnen gehört und sehr gewünscht, Sie kennenzulernen. Ich habe von Ihnen sowohl durch meinen Pagen Drubezkoi gehört (Sie wissen wohl schon, daß er sich verlobt hat?), als auch durch einen Freund meines Mannes, Bolkonski, den Fürsten Andrei Bolkonski.« Sie legte auf diesen Namen einen besonderen Nachdruck und deutete damit an, daß sie sein Verhältnis zu Natascha kenne. Sie bat noch, der Graf möge, damit sie besser miteinander bekannt würden, einer der jungen Damen erlauben, während des noch übrigen[524] Teiles der Vorstellung bei ihr in ihrer Loge zu sitzen. So ging denn Natascha zu ihr herum.

Im dritten Akt war auf der Bühne ein Palast dargestellt, in dem viele Kerzen brannten und Bilder hingen, die Ritter mit kleinen Bärten darstellten. In der Mitte standen zwei Personen, wahrscheinlich der König und die Königin. Der König gestikulierte mit dem rechten Arm, sang etwas, aber schlecht, offenbar weil er ängstlich war, und setzte sich dann auf seinen karmesinroten Thron. Das Mädchen, das anfangs ein weißes, dann ein himmelblaues Kleid angehabt hatte, war jetzt im bloßen Hemd, mit aufgelöstem Haar, und stand bei dem Thron. Sie sang, zur Königin gewendet, irgend etwas Kummervolles; aber der König winkte streng mit der Hand, und von rechts und links kamen Männer mit nackten Beinen und Frauen mit nackten Beinen herein und fingen alle zusammen an zu tanzen. Dann spielten die Geigen in sehr hohen Tönen sehr lustig; eines der Mädchen, welches recht dicke nackte Beine und magere Arme hatte, sonderte sich von den andern ab, ging halb hinter die Kulissen, schob ihr Mieder zurecht, trat dann in die Mitte und begann zu springen und schnell mit einem Bein auf das andere zu schlagen.

Alle Leute im Parkett klatschten in die Hände und schrien »Bravo«. Dann stellte sich einer der Männer zunächst in eine Ecke. Im Orchester begannen die Zimbeln und Trompeten sehr laut zu spielen, und nun fing dieser nacktbeinige Mann an allein sehr hoch zu springen und mit den Füßen zu trippeln. (Dieser Mann war Duport, der für diese Kunst jährlich sechzigtausend Rubel erhielt.) Alle Leute im Parkett, in den Logen und auf der Galerie klatschten und schrien aus Leibeskräften, und der Mann blieb stehen, lächelte und verbeugte sich nach allen Seiten. Dann tanzten wieder andere Menschen mit nackten Beinen, Männer und Frauen; dann rief wieder der König etwas mit Musikbegleitung, und alle[525] fingen an zu singen. Aber plötzlich brach ein Sturm los; im Orchester erklangen chromatische Tonleitern und Akkorde in der kleinen Septime, und alle fingen an zu laufen und schleppten wieder einen von den Anwesenden hinter die Kulissen, und der Vorhang wurde heruntergelassen. Wieder erhob sich unter den Zuschauern ein furchtbarer Lärm und Tumult, und alle schrien mit entzückten Gesichtern: »Duport! Duport! Duport!« Natascha fand das jetzt nicht mehr sonderbar. Vergnügt und fröhlich lächelnd blickte sie um sich.

»Ist Duport nicht bewundernswert?« fragte Helene, sich zu ihr wendend.

»O gewiß!« antwortete Natascha.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 518-526.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Fantasiestücke in Callots Manier

Fantasiestücke in Callots Manier

Als E.T.A. Hoffmann 1813 in Bamberg Arbeiten des französischen Kupferstechers Jacques Callot sieht, fühlt er sich unmittelbar hingezogen zu diesen »sonderbaren, fantastischen Blättern« und widmet ihrem Schöpfer die einleitende Hommage seiner ersten Buchveröffentlichung, mit der ihm 1814 der Durchbruch als Dichter gelingt. Enthalten sind u.a. diese Erzählungen: Ritter Gluck, Don Juan, Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza, Der Magnetiseur, Der goldne Topf, Die Abenteuer der Silvester-Nacht

282 Seiten, 13.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon