X

[526] In der Pause drang auf einmal ein kalter Luftzug in Helenes Loge; die Tür öffnete sich, und mit gebücktem Kopf und bemüht, niemand anzustoßen, trat Anatol herein.

»Gestatten Sie mir, Ihnen meinen Bruder vorzustellen«, sagte Helene; ihre Augen liefen unruhig zwischen Natascha und Anatol hin und her. Natascha wandte über ihre nackte Schulter hinweg ihr hübsches Köpfchen zu dem schönen Mann hin und lächelte. Anatol, der in der Nähe ebenso schön war wie von weitem, setzte sich zu ihr und sagte, er habe schon längst gewünscht, dieses Vergnügen zu haben, schon seit dem Ball in Petersburg, bei dem er die ihm unvergeßliche Freude gehabt habe, sie zu sehen. Kuragin benahm sich im Verkehr mit Frauen weit verständiger und natürlicher als in Männergesellschaft. Er redete einfach und ohne Scheu, und Natascha fühlte sich seltsam und angenehm dadurch überrascht, daß an diesem Mann, von dem so viel Arges erzählt wurde,[526] nichts Furchtbares zu bemerken war, sondern daß er im Gegenteil in durchaus harmloser, heiterer, gutmütiger Weise lächelte.

Kuragin fragte sie, welchen Eindruck die Vorstellung auf sie mache, und erzählte ihr, bei der vorigen Aufführung sei die Semjonowa während des Spieles hingefallen.

»Wissen Sie, Komtesse«, sagte er, indem er auf einmal zu ihr in einem Ton redete, als wäre sie eine gute, alte Bekannte, »es wird jetzt in unserm Kreis ein Karussell in Kostümen arrangiert; daran sollten Sie teilnehmen: es wird sehr lustig dabei zugehen. Wir kommen alle immer bei Karagins zusammen. Bitte, kommen Sie auch hin; Sie werden doch? Nicht wahr?« bat er.

Während er das sagte, wendete er seine lächelnden Augen keinen Augenblick von Nataschas Gesicht, Hals und entblößten Armen ab. Natascha wußte mit voller Sicherheit, daß er von ihr entzückt war. Das war ihr eine angenehme Empfindung; aber trotzdem rief seine Gegenwart bei ihr ein unklares Gefühl der Beklommenheit hervor. Wenn sie ihn auch nicht ansah, so fühlte sie doch, daß er ihre Schultern betrachtete, und unwillkürlich suchte sie seinen Blick aufzufangen, damit er ihr lieber in die Augen sehen möchte. Aber wenn sie ihm dann in die Augen sah, so wurde sie sich mit Schrecken bewußt, daß zwischen ihm und ihr jene Schranke der Schamhaftigkeit gar nicht mehr vorhanden war, die sie immer zwischen sich und andern Männern fühlte. Sie fühlte, daß sie (sie wußte selbst nicht, wie es gekommen war) in fünf Minuten diesem Menschen erschreckend nahegetreten war. Wenn sie sich abwandte, so fürchtete sie, er könne sie von hinten an den nackten Armen fassen oder sie auf den Hals küssen. Sie redeten von den allergewöhnlichsten Dingen, aber sie fühlte, daß sie ihm so nahestand, wie sie nie einem Mann gestanden hatte. Natascha sah sich nach Helene und nach ihrem Vater um, als ob sie diese beiden fragen wollte, was das alles zu bedeuten[527] habe; aber Helene war im Gespräch mit einem General begriffen und antwortete nicht auf ihren Blick, und der Blick des Vaters sagte ihr nichts, als was er immer sagte: »Du bist vergnügt; nun, das freut mich.«

Mitunter traten Augenblicke peinlichen Stillschweigens ein, während deren Anatol mit weitgeöffneten Augen sie ruhig und unverwandt betrachtete; in einem solchen Augenblick fragte ihn Natascha, um das Stillschweigen zu unterbrechen, wie ihm Moskau gefalle. Sowie sie das gefragt hatte, errötete sie. Es schien ihr beständig, als tue sie etwas Unpassendes, wenn sie ihn anrede. Anatol lächelte, wie wenn er sie ermutigen wollte.

»Anfangs gefiel es mir wenig; denn was eine Stadt angenehm macht, das sind ja doch hübsche Frauen, nicht wahr? Nun, aber jetzt gefällt es mir sehr«, antwortete er und sah sie bedeutsam an. »Kommen Sie zu unserem Karussell, Komtesse? Bitte, kommen Sie«, fuhr er fort, und indem er die Hand nach ihrem Bukett ausstreckte und die Stimme senkte, fügte er hinzu: »Sie werden die Schönste sein. Kommen Sie, liebe Komtesse, und als Unterpfand geben Sie mir diese Blume.«

Natascha verstand das, was er sagte, nicht in demselben Sinn wie er; aber sie fühlte, daß hinter seinen ihr unverständlichen Worten eine ungehörige Absicht steckte. Sie wußte nicht, was sie darauf erwidern sollte, und wandte sich ab, als ob sie das, was er gesagt hatte, nicht gehört hätte. Aber kaum hatte sie sich abgewandt, so mußte sie wieder denken, daß er da war, hinter ihr, so nahe bei ihr.

»Was macht er jetzt? Ist er verlegen? Aufgebracht? Muß ich mein Benehmen wiedergutmachen?« fragte sie sich selbst. Sie konnte es nicht lange aushalten, so dazusitzen, ohne sich umzuwenden. Sie blickte ihm gerade in die Augen, und seine Nähe und sein ruhiges Selbstgefühl und sein gutmütiges, freundliches[528] Lächeln besiegten sie. Sie lächelte ganz ebenso wie er, während sie ihm gerade in die Augen sah. Und wieder fühlte sie mit Schrecken, daß zwischen ihm und ihr keine Schranke mehr vorhanden war.

Der Vorhang ging wieder in die Höhe. Anatol verließ mit ruhiger, heiterer Miene die Loge. Natascha kehrte zu ihrem Vater in dessen Loge zurück, schon vollständig im Bann der Welt, in der sie sich jetzt befand. Alles, was vor ihren Augen vorging, erschien ihr jetzt bereits als etwas ganz Natürliches; alle früheren Gedanken dagegen, die Gedanken an ihren Bräutigam, an Prinzessin Marja, an das Leben auf dem Land, kamen ihr nicht ein einziges Mal mehr in den Sinn, als ob das alles einer weit, weit zurückliegenden Vergangenheit angehörte.

Im vierten Akt kam ein Teufel vor, welcher so lange sang und die Arme umherschwenkte, bis unter ihm ein Brett weggezogen wurde und er versank. Das war das einzige, was Natascha vom ganzen vierten Akt sah: sie fühlte sich erregt und unruhig, und die Ursache dieser Unruhe war Kuragin, den sie unwillkürlich beobachtete. Als Rostows das Theater verließen, trat Anatol zu ihnen, rief ihren Wagen heran und half ihnen beim Einsteigen. Als er Natascha diesen Dienst leistete, drückte er ihr den Arm oberhalb des Ellbogens. Natascha blickte sich, aufgeregt und errötend, nach ihm um. Er sah sie zärtlich lächelnd mit glänzenden Augen an.


Erst als sie nach Hause gekommen waren, war Natascha imstande, alles das, was ihr begegnet war, klar zu überdenken, und als ihr dabei Fürst Andrei einfiel, bekam sie auf einmal einen furchtbaren Schreck; in Gegenwart aller stöhnte sie am Teetisch, um den sich alle nach dem Theater versammelt hatten, laut auf und lief errötend aus dem Zimmer.[529]

»Mein Gott, ich bin verloren!« sagte sie zu sich selbst. »Wie konnte ich es nur dahin kommen lassen?« Lange saß sie da, das glühende Gesicht mit den Händen bedeckend, und suchte sich Rechenschaft von dem zu geben, was ihr begegnet war, konnte aber weder das, was ihr begegnet war, noch ihre eigenen Empfindungen begreifen. Alles erschien ihr dunkel, undeutlich und furchtbar. Dort in jenem gewaltig großen, hellerleuchteten Saal, wo Duport in einem kurzen mit Flittern besetzten Jäckchen auf den feuchten Brettern nach dem Klang der Musik mit seinen nackten Beinen herumgesprungen war und junge Mädchen und alte Männer und diese halbnackte Helene mit ihrem ruhigen, stolzen Lächeln voll Entzücken Bravo gerufen hatten, dort, in der Atmosphäre dieser Helene, dort war das alles klar und natürlich gewesen; aber jetzt, wo sie mit sich selbst allein war, erschien es ihr unbegreiflich. »Was hat das zu bedeuten? Was bedeutet diese Furcht, die ich vor ihm empfand? Was bedeuten diese Gewissensbisse, die ich jetzt spüre?« fragte sie sich.

Nur der alten Gräfin, ihrer Mutter, hätte Natascha bei Nacht in deren Bett alles mitteilen können, was ihr Herz bewegte. Sonja (das wußte sie), Sonja mit ihrer strengen, reinen Anschauungsweise würde entweder gar nichts davon begreifen oder über ihr Geständnis einen gewaltigen Schreck bekommen. So suchte denn Natascha für sich allein über das, was sie quälte, zur Klarheit zu gelangen.

»Bin ich der Liebe des Fürsten Andrei unwürdig geworden oder nicht?« fragte sie sich und gab sich mit einem Lächeln der Beruhigung die Antwort: »Was bin ich für eine Törin, so zu fragen! Was ist denn mit mir geschehen? Nichts. Ich habe nichts getan, habe diesen Mann in keiner Weise herausgefordert. Niemand wird etwas erfahren, und ich werde ihn nie mehr wiedersehen«, sagte sie zu sich selbst. »Somit ist klar, daß nichts geschehen ist, und daß[530] ich nichts zu bereuen habe, und daß Fürst Andrei mich auch so, wie ich jetzt bin, lieben kann. Aber wie bin ich denn jetzt? In welchem Zustand befinde ich mich? Ach mein Gott, mein Gott, warum ist er nicht hier?« Natascha beruhigte sich für einen Augenblick; aber dann sagte ihr wieder eine Art von instinktivem Gefühl, daß das zwar alles wahr sei und sich nichts begeben habe, daß aber doch die volle frühere Reinheit ihrer Liebe zum Fürsten Andrei dahin sei. Und nun wiederholte sie sich wieder in Gedanken ihr ganzes Gespräch mit Kuragin und vergegenwärtigte sich das Gesicht und die Gebärden und das zärtliche Lächeln dieses schönen, kecken Menschen in dem Augenblick, wo er ihr den Arm drückte.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 526-531.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Wieland, Christoph Martin

Alceste. Ein Singspiel in fünf Aufzügen

Alceste. Ein Singspiel in fünf Aufzügen

Libretto zu der Oper von Anton Schweitzer, die 1773 in Weimar uraufgeführt wurde.

38 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon