I

[100] Der menschliche Verstand vermag die Gesamtheit der Ursachen der Erscheinungen nicht zu begreifen. Aber das Bedürfnis, nach diesen Ursachen zu forschen, liegt in der Seele des Menschen. Da nun der menschliche Verstand in die zahllose Menge und mannigfaltige Verschlingung der die Erscheinungen begleitenden Umstände, von denen ein jeder, für sich betrachtet, als Ursache erscheinen kann, einzudringen nicht imstande ist, so greift er nach dem erstbesten, verständlichsten Moment, das mit einer Erscheinung in Berührung steht, und sagt: das ist die Ursache. Bei geschichtlichen Ereignissen, wo den Gegenstand der Untersuchung Handlungen von Menschen bilden, erscheint als ein solches Moment, das sich zuallererst darbietet, der Wille der Götter, demnächst der Wille derjenigen Personen, die bei dem betreffenden Ereignis auf dem sichtbarsten Platz stehen, der Helden der Geschichte. Aber man braucht nur in das Wesen eines historischen Ereignisses einzudringen, d.h. in die Tätigkeit der gesamten Masse der Menschen, die an dem Ereignis beteiligt gewesen sind, um sich zu überzeugen, daß der Wille eines Helden der Geschichte, weit entfernt die Tätigkeit der Massen zu lenken, vielmehr selbst beständig von ihnen gelenkt wird. Es könnte nun scheinen, als sei es gleichgültig, ob man die Bedeutung eines geschichtlichen Ereignisses in der einen oder in der andern Weise auffaßt. Aber zwischen dem, welcher sagt, die Völker des Westens seien nach dem Osten gezogen, weil Napoleon das gewollt habe, und dem, welcher sagt, dies sei deshalb geschehen, weil es geschehen mußte, besteht derselbe Unterschied, der zwischen denjenigen Menschen bestand, welche behaupteten, die Erde stehe fest und die Planeten bewegten sich um sie herum,[100] und denjenigen, welche sagten, sie wüßten nicht, wodurch die Erde gehalten werde, sie wüßten aber, daß es Gesetze gebe, durch die die Bewegung der Erde sowohl als auch der andern Planeten regiert werde. Für ein historisches Ereignis gibt es keine anderen Ursachen und kann es keine anderen Ursachen geben als die einzige Ursache aller Ursachen. Aber es gibt Gesetze, welche die Ereignisse regieren, Gesetze, die wir teils nicht kennen, teils tastend fühlen. Die Aufdeckung dieser Gesetze ist nur dann möglich, wenn wir völlig darauf verzichten, die Ursachen in dem Willen eines einzelnen Menschen zu suchen, geradeso wie die Aufdeckung der Gesetze der Bewegung der Planeten erst dann möglich wurde, als die Menschen auf die Vorstellung vom Feststehen der Erde verzichteten.


Nach der Schlacht bei Borodino, der Besetzung Moskaus durch den Feind und dem Brand dieser Stadt betrachten die Geschichtsforscher als das wichtigste Ereignis des Krieges von 1812 den Marsch des russischen Heeres von der Rjasaner Straße nach der Kalugaer Straße und zu dem Lager bei Tarutino, den sogenannten Flankenmarsch hinter Krasnaja-Pachra. Den Ruhm dieser genialen Tat schreiben sie verschiedenen Personen zu und streiten darüber, wem derselbe rechtmäßig zukommt. Auch ausländische Geschichtsforscher, sogar französische, erkennen die Genialität der russischen Heerführer an, wenn sie von diesem Flankenmarsch sprechen. Aber warum die Kriegsschriftsteller, und in ihrem Gefolge alle Leute, annehmen, daß dieser Flankenmarsch eine besonders tiefsinnige Erfindung eines einzelnen Mannes gewesen sei, durch die Rußland gerettet und Napoleon ins Verderben gestürzt worden sei, das ist sehr schwer zu begreifen. Erstens ist schwer zu begreifen, worin denn das Tiefsinnige und Geniale dieses Marsches liegen soll; denn um einzusehen, daß[101] die beste Stellung für eine Armee (wenn sie nicht angegriffen wird) da ist, wo sich die beste Verpflegungsmöglichkeit bietet, dazu bedarf es keiner großen geistigen Anstrengung; und ein jeder, selbst ein dummer Junge von dreizehn Jahren, konnte sich ohne Mühe sagen, daß im Jahre 1812 die vorteilhafteste Stellung für die Armee nach dem Rückzug von Moskau auf der Kalugaer Straße war. Somit ist nicht zu begreifen erstens, durch welche Vernunftschlüsse die Geschichtsforscher dazu gelangen, in diesem Manöver etwas Tiefsinniges zu sehen. Zweitens ist noch schwerer zu begreifen, worin die Geschichtsforscher eigentlich den großen Vorteil dieses Manövers für die Russen und seine Verderblichkeit für die Franzosen sehen; denn dieser Flankenmarsch hätte unter anderen vorhergehenden, begleitenden und nachfolgenden Umständen für das russische Heer verderblich und für das französische vorteilhaft werden können. Wenn von dem Zeitpunkt an, wo dieser Marsch erfolgte, die Lage des russischen Heeres sich besser gestaltete, so folgt daraus keineswegs, daß dieser Marsch die Ursache davon gewesen wäre.

Dieser Flankenmarsch hätte leicht für die russische Armee nicht nur nutzlos, sondern sogar verderblich sein können, wenn nicht außerdem mancherlei andere Umstände zusammengetroffen wären. Was wäre geschehen, wenn Moskau nicht abgebrannt wäre? Wenn Murat die Russen nicht aus den Augen verloren hätte? Wenn Napoleon nicht in Untätigkeit verharrt wäre? Wenn die russische Armee nach Bennigsens und Barclays Rat bei Krasnaja-Pachra eine Schlacht geliefert hätte? Was wäre geschehen, wenn die Franzosen die Russen angegriffen hätten, als diese jenseits der Pachra marschierten? Was wäre geschehen, wenn später Napoleon bei dem Anmarsch auf Tarutino die Russen auch nur mit dem zehnten Teil der Energie angegriffen hätte, die er bei Smolensk aufgewandt hatte? Was wäre geschehen,[102] wenn die Franzosen ihren Marsch nach Petersburg gelenkt hätten? Bei all diesen Eventualitäten konnte die Nützlichkeit des Flankenmarsches in verhängnisvolle Schädlichkeit umschlagen.

Drittens, das Unbegreifliche ist dies, daß die Männer, die die Geschichte studieren, absichtlich nicht sehen wollen, daß man den Flankenmarsch nicht auf einen einzelnen Urheber zurückführen kann, daß ihn nie jemand vorausgesehen hat, daß dieses Manöver, gerade wie der Rückzug in Fili, zur Zeit der Ausführung nie jemandem in seiner Totalität vor Augen gestanden hat, sondern sich Schritt für Schritt, Stück für Stück, Moment für Moment aus einer zahllosen Menge der verschiedensten Umstände herausentwickelt und sich erst dann in seiner Totalität dargestellt hat, als es ausgeführt war und der Vergangenheit angehörte.

Bei dem Kriegsrat in Fili war bei den hohen russischen Militärs der vorherrschende Gedanke der als selbstverständlich erscheinende Rückzug in gerader Richtung nach rückwärts, d.h. auf der Straße nach Nischni-Nowgorod. Als Beweis dafür kann der Umstand dienen, daß die Mehrzahl der Stimmen im Kriegsrat in diesem Sinn abgegeben wurde, und ganz besonders die bekannte Besprechung, die der Oberkommandierende nach dem Kriegsrat mit Lanskoi, dem Intendanten des Verpflegungswesens, hatte. Lanskoi berichtete dem Oberkommandierenden, daß der Proviant für die Armee vorzugsweise an der Oka entlang, in den Gouvernements Tula und Kaluga, zusammengebracht sei, und daß im Fall des Rückzuges nach Nischni-Nowgorod die Proviantvorräte von der Armee durch den großen Okafluß getrennt sein würden, über den in der ersten Zeit des Winters die Überfahrt unmöglich sei. Dies war das erste Anzeichen für die Notwendigkeit von der geraden Richtung nach Nischni-Nowgorod abzuweichen, die vorher als die natürlichste erschienen war. Die Armee hielt sich mehr südlich, an der Rjasaner Straße,[103] und näher an ihren Vorräten. In der Folge veranlaßten die Untätigkeit der Franzosen, die das russische Heer sogar aus den Augen verloren hatten, die Sorgen um die Verteidigung der Tulaer Gewehrfabrik und vor allem der Vorteil, den Vorräten dadurch näher zu kommen, dies alles veranlaßte die Russen, noch weiter südlich, auf die Tulaer Straße, abzubiegen. Als das Heer in einer gewagten Bewegung jenseits der Pachra auf die Tulaer Straße gelangt war, beabsichtigten die russischen Heerführer bei Podolsk zu bleiben, und kein Mensch dachte daran, eine Position bei Tarutino einzunehmen; aber eine zahllose Menge von Umständen und das Wiedererscheinen der französischen Truppen, die vorher das russische Heer aus den Augen verloren hatten, und allerlei Projekte für eine Schlacht und hauptsächlich die große Menge von Proviant in Kaluga bewogen unsere Armee, noch weiter nach Süden abzuschwenken und mitten in ihr Verpflegungsgebiet hinein nach Tarutino zu gehen, von der Tulaer auf die Kalugaer Straße. Geradeso wie auf die Frage, wann Moskau preisgegeben wurde, keine Antwort gegeben werden kann, ebensowenig ist dies möglich auf die Frage, wann und von wem der Beschluß gefaßt worden ist, nach Tarutino zu ziehen. Erst als die Truppen bereits infolge unzähliger Differentialkräfte nach Tarutino gelangt waren, erst da begannen die Menschen sich einzureden, daß sie dies gewollt und lange vorhergesehen hätten.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 100-104.
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