II

[104] Der berühmte Flankenmarsch bestand nur darin, daß das russische Heer, das bisher immer nach der dem Angriff entgegengesetzten Richtung in gerader Linie zurückgewichen war, nun, nachdem der Angriff der Franzosen aufgehört hatte, von der ursprünglich eingeschlagenen geraden Richtung abwich[104] und, da es keinen Verfolger mehr hinter sich sah, naturgemäß sich nach der Seite hinwandte, wohin es sich durch den Überfluß an Proviant gezogen fühlte.

Stellt man sich keine genialen Heerführer an der Spitze der russischen Armee vor, sondern denkt man sich, die Armee wäre ohne alle Leitung gewesen, so hätte auch eine solche Armee nichts anderes tun können als wieder in der Richtung auf Moskau marschieren, und zwar in einem Bogen nach der Seite zu, wo mehr Proviant und eine reichere Gegend war.

Dieser Übergang von der Straße nach Nischni-Nowgorod auf die Rjasaner, Tulaer und Kalugaer Straße war dermaßen natürlich, daß auch die Marodeure der russischen Armee nach derselben Richtung davonliefen und von Petersburg aus an Kutusow die Weisung erging, mit dem Heer gerade nach dieser Richtung zu marschieren. Als Kutusow sich bereits in Tarutino befand, ging ihm ein beinah im Ton eines Verweises gehaltenes Schreiben des Kaisers zu, in welchem dieser es mißbilligte, daß Kutusow die Armee auf die Rjasaner Straße geführt hatte, und ihm dieselbe Stellung gegenüber von Kaluga anwies, in welcher er sich schon in dem Augenblick befand, als der Brief des Kaisers in seine Hände kam.

Die Kugel, d.h. das russische Heer, welche in der Richtung des Stoßes zurückgerollt war, den sie während des ganzen Feldzuges und zuletzt in der Schlacht bei Borodino empfangen hatte, nahm, als die Kraft des Stoßes aufgehört hatte und sie keine neuen Stöße mehr empfing, diejenige Lage ein, die für sie die natürliche war.

Kutusows Verdienst bestand nicht in irgendeinem genialen strategischen Manöver, wie man es zu nennen pflegt, sondern darin, daß er allein die Bedeutung des sich vollziehenden Ereignisses begriff. Er allein begriff schon damals die Bedeutung der[105] Untätigkeit der Franzosen; er allein verblieb beharrlich bei der Behauptung, daß die Schlacht bei Borodino ein Sieg gewesen sei; er allein, für den doch (möchte man meinen) seine Stellung als Oberkommandierender einen Anreiz zur Offensive hätte bilden sollen, er allein verwandte alle seine Kraft darauf, die russische Armee von nutzlosen Schlachten zurückzuhalten.

Das bei Borodino angeschossene Wild lag irgendwo in der Gegend, wo es der davoneilende Jäger verlassen hatte; aber ob es noch lebte, ob es noch Kraft hatte oder sich nur verstellte, das wußte der Jäger nicht. Plötzlich ließ sich ein Stöhnen dieses Wildes vernehmen.

Das Stöhnen dieses verwundeten Wildes, der französischen Armee, durch welches dieses seine tödliche Verwundung verriet, war die Sendung Lauristons in Kutusows Lager mit dem Friedensangebot.

Napoleon, der, wie stets, überzeugt war, daß nicht das gut sei, was allgemein für gut gehalten wurde, sondern das, was ihm gerade in den Kopf kam, schrieb an Kutusow mit den erstbesten Wendungen, die ihm einfielen, die aber gar keinen vernünftigen Sinn hatten:


»Fürst Kutusow«, schrieb er, »ich schicke einen meiner Generaladjutanten zu Ihnen, um mit Ihnen mehrere wichtige Dinge zu besprechen. Ich bitte Euer Durchlaucht, dem, was er Ihnen sagen wird, Glauben zu schenken, namentlich wenn er Ihnen die Gefühle der Hochachtung und besonderen Wertschätzung ausdrücken wird, die ich seit langer Zeit für Ihre Person hege. Dies ist der Zweck dieses Briefes. Ich bitte Gott, Fürst Kutusow, daß er Sie unter seinen heiligen, hohen Schutz nehme.

Moskau, den 3. Oktober 1812.

Gezeichnet: Napoleon.«
[106]

»Die Nachwelt würde mir fluchen, wenn man von mir glaubte, ich hätte als der erste ein Abkommen irgendeiner Art herbeigeführt. So denkt tatsächlich mein ganzes Volk«, antwortete Kutusow und wandte fortdauernd all seine Kraft daran, die Truppen vom Angriff zurückzuhalten.

In dem Monat, währenddessen das französische Heer in Moskau plünderte und das russische Heer ruhig im Lager bei Tarutino stand, vollzog sich eine Veränderung in dem Kräfteverhältnis der beiden Heere, sowohl was die Stimmung der Truppen als auch ihre Zahl anlangte, eine Veränderung, infolge deren sich herausstellte, daß das Übergewicht an Kraft auf seiten der Russen war. Obgleich der Zustand und die Quantität des französischen Heeres den Russen unbekannt waren, wurde sofort durch eine zahllose Menge von Momenten deutlich, daß nun die Offensive geboten war. Solche Momente waren: die Sendung Lauristons; und der Überfluß an Proviant in Tarutino; und die von allen Seiten einlaufenden Nachrichten über die Untätigkeit und Zuchtlosigkeit der Franzosen; und die Komplettierung unserer Regimenter durch Rekruten; und das gute Wetter; und die lange Erholung, die den russischen Soldaten vergönnt gewesen war; und die bei den Truppen infolge der Erholung sich gewöhnlich entwickelnde Ungeduld, die Aufgabe zu erfüllen, um derentwillen alle versammelt sind; und die Neugier, zu erfahren, was in der französischen Armee vorgehe, die man so lange aus dem Gesicht verloren hatte; und die Kühnheit, mit der jetzt die russischen Vorposten um die in Tarutino stehenden Franzosen umherstreiften; und die Nachrichten von den leichten Siegen der Bauern und Freischärler über die Franzosen; und der Neid, der dadurch erweckt wurde; und das Verlangen nach Rache, das ein jeder im Grunde seiner Seele bewahrt hatte, solange die Franzosen in Moskau waren; und vor allem[107] das unklare, aber in der Seele eines jeden keimende Bewußtsein, daß das Kräfteverhältnis sich jetzt geändert hatte und das Übergewicht sich auf unserer Seite befand. Das faktische Kräfteverhältnis hatte sich geändert, und der Angriff war notwendig geworden. Und ebenso prompt, wie in einer Uhr das Glockenspiel erklingt, sobald der Zeiger einen vollen Kreis beschrieben hat, machte sich auch sofort in den höchsten Sphären, der faktischen Veränderung der Kräfte entsprechend, eine verstärkte Bewegung bemerkbar, ein Summen ließ sich hören, und das Glockenspiel ließ seine Musik ertönen.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 104-108.
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