XII

[146] Vier Wochen waren vergangen, seit Pierre in Gefangenschaft geraten war. Obwohl die Franzosen ihm anheimgestellt hatten, aus der Soldatenbaracke in die der Offiziere überzusiedeln, war er doch in derjenigen geblieben, in die er am ersten Tag gekommen war.

In dem zerstörten und verbrannten Moskau machte Pierre fast das Äußerste an Entbehrungen durch, was ein Mensch ertragen kann; aber dank seiner starken Konstitution und seiner guten Gesundheit, deren er sich bisher nicht bewußt geworden war, und[146] besonders dank dem Umstand, daß diese Entbehrungen so unmerklich an ihn herangetreten waren, daß sich gar nicht sagen ließ, wann sie eigentlich angefangen hatten, ertrug er seine Lage nicht nur leicht, sondern sogar in freudiger Stimmung. Und namentlich hatte er gerade in dieser Zeit jene seelische Ruhe und Zufriedenheit mit sich selbst erlangt, nach der er früher vergebens gestrebt hatte. Lange hatte er in seinem Leben auf den verschiedensten Wegen nach dieser Seelenruhe und inneren Harmonie gesucht, die ihn bei den Soldaten in Borodino so in Erstaunen versetzt hatte: er hatte sie in der Philanthropie gesucht, in der Freimaurerei, in den Zerstreuungen des gesellschaftlichen Lebens, im Wein, in heldenhaften Taten der Selbstaufopferung, in der romantischen Liebe zu Natascha; er hatte sie gesucht auf dem Weg des Denkens – und hatte bei all diesem Suchen und Versuchen nur Täuschungen erlebt. Und nun hatte er, ohne daran zu denken, diese seelische Ruhe und innere Harmonie erreicht lediglich durch die Schrecken des Todes, durch Entbehrungen und durch das, was er aus Karatajews Wesen gelernt hatte.

Jene entsetzlichen Minuten, die er während der Hinrichtung durchlebt hatte, hatten gleichsam für immer aus seinem Denk- und Erinnerungsvermögen die aufregenden Gedanken und Empfindungen fortgespült, die ihm früher so wichtig erschienen waren. Es kam ihm jetzt kein Gedanke an Rußland in den Kopf, oder an den Krieg, oder an die Politik, oder an Napoleon. Er war sich darüber klar, daß ihn alles dies nichts anging, daß er nicht den Beruf und daher auch nicht die Fähigkeit hatte, über all dies zu urteilen. »Der Sommer ist nicht Rußlands Verbündeter«, wiederholte er sich einen Satz, den er von Karatajew gehört hatte, und dieser Satz übte auf ihn eine seltsam beruhigende Wirkung aus. Unbegreiflich und geradezu lächerlich[147] erschien ihm jetzt seine Absicht, Napoleon zu töten, und seine Berechnungen über die kabbalistische Zahl und über das Tier der Apokalypse. Seine Erbitterung gegen seine Frau und seine Besorgnis, daß sie seinen Namen beschimpfen könne, kamen ihm jetzt nicht nur gegenstandslos, sondern komisch vor. Was ging es ihn an, daß diese Frau dort irgendwo ein Leben führte, wie es ihr zusagte? Was konnte jemandem und speziell ihm daran liegen, ob die Franzosen erfuhren oder nicht erfuhren, daß der Name ihres Gefangenen Graf Besuchow war?

Jetzt erinnerte er sich häufig an ein Gespräch, das er einmal mit dem Fürsten Andrei gehabt hatte, und war mit diesem völlig derselben Ansicht, nur daß er den Gedanken des Fürsten Andrei ein wenig anders auffaßte. Fürst Andrei hatte gemeint und gesagt, das Glück sei nur etwas Negatives, hatte dies aber mit einem Beiklang von Bitterkeit und Ironie ausgesprochen, als wenn er, indem er das sagte, noch einen andern Gedanken ausspräche, nämlich den, daß das ganze uns eingepflanzte Streben nach dem positiven Glück uns nur zu dem Zweck eingepflanzt sei, damit es unbefriedigt bliebe und uns peinigte. Pierre aber erkannte jenen Satz ohne jeden Hintergedanken als richtig an. Das Fehlen des Leides, die Befriedigung der Bedürfnisse und als Folge davon die Freiheit in der Wahl der Beschäftigungen, d.h. in der Art der Lebensführung, das stellte sich ihm jetzt als das zweifellos höchste Glück des Menschen dar. Erst hier und erst jetzt lernte Pierre zum erstenmal im vollen Umfang den Genuß des Essens schätzen, wenn er hungerte, den Genuß des Trinkens, wenn er durstete, den Genuß des Schlafens, wenn er müde war, den Genuß der Wärme, wenn ihn fror, den Genuß des Gespräches mit einem Menschen, wenn ihn verlangte, mit jemand zu reden und eine menschliche Stimme zu hören. Die Befriedigung der Bedürfnisse (gute Nahrung, Reinlichkeit, Freiheit) erschien ihm[148] jetzt, wo er alles dies entbehren mußte, als das vollkommene Glück, und die Wahl der Beschäftigung, d.h. die Art der Lebensführung, erschien ihm jetzt, wo diese Wahl für ihn so beschränkt war, als eine ganz leichte Sache. Er bedachte dabei nicht, daß ein Überfluß von Annehmlichkeiten des Lebens die ganze Glücksempfindung über die Befriedigung der Bedürfnisse vernichtet und daß eine weitgehende Freiheit in der Wahl der Beschäftigungen, jene Freiheit, die ihm in seinem Leben seine Bildung, sein Reichtum und seine gesellschaftliche Stellung gewährt hatten, sowohl die Wahl der Beschäftigungen unendlich erschwert als auch sogar das Bedürfnis nach einer Beschäftigung und die Möglichkeit einer solchen vernichtet.

Alle Zukunftsgedanken Pierres richteten sich jetzt auf die Zeit, wo er wieder frei sein würde. Aber doch dachte er später und sein ganzes Leben lang mit Entzücken an diesen Monat der Gefangenschaft, an diese nie wiederkehrenden starken, freudigen Empfindungen und ganz besonders an jene völlige, seelische Ruhe, an jene vollkommene innere Freiheit, die er nur in dieser Zeit genossen hatte.

Als er am ersten Tag seines dortigen Aufenthalts frühmorgens aufgestanden und in der Dämmerung aus der Baracke herausgetreten war und die zunächst noch dunklen Kuppeln und Kreuze des Nowodjewitschi-Klosters sah und den kalten Tau auf dem staubigen Gras und die Kuppen der Sperlingsberge und das waldige Ufer, das sich an den Windungen des Flusses hinzog und in der violetten Ferne verschwand; als er die Berührung der frischen Luft empfand und das Geschrei der von Moskau her über das Feld fliegenden Dohlen hörte; und als dann auf einmal im Osten ein Licht aufflammte und der Rand der Sonne feierlich hinter einer Wolke hervor aufstieg und die Kuppeln und die Kreuze und der Tau und die Ferne und der Fluß, alles in der[149] fröhlichen Beleuchtung aufschimmerte, da empfand Pierre ein neues, ihm bis dahin noch unbekanntes Gefühl der Freude und der Lebenskraft.

Dieses Gefühl, ein Gefühl der Bereitschaft zu allem, ein Gefühl der seelischen Spannkraft, fand noch eine weitere Stütze an der hohen Meinung, die sich bald nach seinem Einzug in die Baracke bei seinen Kameraden über ihn herausgebildet hatte. Wegen seiner Sprachkenntnisse und wegen des Respektes, den ihm die Franzosen bezeigten, und wegen seines schlichten, einfachen Wesens, und weil er alles, um was er gebeten wurde, willig hingab (er erhielt als Offizier drei Rubel wöchentlich), und wegen seiner Körperkraft, von der sich die Soldaten überzeugten, wenn er Nägel in die Wand der Baracke hineindrückte, und wegen der Sanftmut, die er im Verkehr mit den Kameraden bewies, und wegen seiner ihnen unbegreiflichen Fähigkeit, dazusitzen und zu denken, ohne sich zu rühren und ohne etwas zu tun: aus allen diesen Gründen erschien Pierre den Soldaten als ein geheimnisvolles, höheres Wesen. Dieselben Eigenschaften, die in der Welt, in der er früher gelebt hatte, wenn sie ihm auch nicht geradezu nachteilig gewesen waren, doch immerhin ein unangenehmes Aufsehen erregt hatten, seine übermäßige Kraft, seine Gleichgültigkeit gegen allen Komfort, seine Zerstreutheit, seine Schlichtheit, diese selben Eigenschaften trugen ihm hier unter diesen Menschen beinahe das Ansehen eines Helden ein. Und Pierre hatte die Empfindung, daß diese Meinung, die man von ihm hegte, ihm die Pflicht auferlegte, sich ihrer wert zu zeigen.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 146-150.
Lizenz:
Kategorien: