XIII

[150] In der Nacht vom 6. zum 7. Oktober begann der Ausmarsch der Franzosen: die Küchen und Baracken wurden abgebrochen,[150] die Fuhrwerke beladen, und die Truppen- und Wagenzüge setzten sich in Bewegung.

Um sieben Uhr morgens stand die französische Eskorte in marschmäßiger Ausrüstung, mit Tschakos, Gewehren, Tornistern und großen Brotbeuteln vor den Baracken, und ein lebhaftes französisches Gespräch, mit Schimpfworten untermischt, war auf der ganzen Linie im Gange.

In der Baracke waren alle bereit, angekleidet, umgürtet, beschuht, und warteten nur auf den Befehl herauszugehen. Nur der kranke Soldat Sokolow saß blaß und abgemagert, mit blauen Ringen um die Augen, allein, ohne Schuhe und ohne ordentliche Kleidung auf seinem Platz, blickte mit seinen infolge der Magerkeit stark hervortretenden Augen fragend seine Kameraden an, die ihm keine Aufmerksamkeit zuwandten, und stöhnte leise in gleichmäßigen Zwischenräumen. So zu stöhnen, veranlaßte ihn offenbar nicht sowohl körperlicher Schmerz (er litt an der Ruhr) als die Furcht und Sorge, allein zurückgelassen zu werden.

Pierre (er trug Schuhe, die ihm Karatajew aus Packleder, von einem Teeballen herrührend, gemacht hatte, welches ihm ein Franzose gebracht hatte, damit er ihm davon seine Stiefel besohlte, und hatte sich einen Strick als Gurt um den Leib gebunden) trat zu dem Kranken und kauerte sich vor ihm hin.

»Nun, Sokolow, sie gehen ja nicht ganz weg! Sie haben hier ein Lazarett. Leicht möglich, daß es dir besser gehen wird als uns«, sagte Pierre.

»O mein Gott! Das ist mein Tod! O mein Gott!« stöhnte der Soldat lauter.

»Ich will sie gleich noch fragen«, sagte Pierre, stand auf und ging nach der Tür der Baracke hin.

In dem Augenblick, als Pierre sich der Tür näherte, kam von außen, von zwei Soldaten begleitet, jener Korporal heran, der[151] tags zuvor Pierre seine Pfeife angeboten hatte. Auch der Korporal und die Soldaten waren in marschmäßiger Ausrüstung, mit Tornistern und Tschakos, an denen die Schuppenketten zugeknöpft waren; dadurch sahen ihre wohlbekannten Gesichter ganz verändert aus.

Der Korporal kam zur Tür, um sie auf Befehl des vorgesetzten Offiziers zu schließen. Vor dem Ausmarsch mußten die Gefangenen nachgezählt werden.

»Korporal, was wird mit dem Kranken geschehen?« begann Pierre.

Aber in dem Augenblick, wo er das sagte, stieg ihm ein Zweifel auf, ob das auch wirklich der ihm wohlbekannte Korporal sei oder ein anderer, unbekannter Mensch: so ganz anders als sonst sah der Korporal in diesem Augenblick aus. Außerdem begann in dem Augenblick, als Pierre dies sagte, von zwei Seiten her plötzlich ein lauter Trommelwirbel. Der Korporal runzelte zu Pierres Worten die Stirn, stieß ein paar sinnlose Schimpfworte aus und schlug die Tür zu. In der Baracke wurde es halbdunkel; von zwei Seiten her wirbelten mit scharfem Klang die Trommeln und übertönten das Stöhnen des Kranken.

»Da ist es ...! Da ist es wieder!« sagte sich Pierre, und unwillkürlich lief ihm ein kalter Schauder den Rücken entlang. In dem veränderten Gesicht des Korporals, in dem Ton seiner Stimme, in dem aufregenden, betäubenden Rasseln der Trommeln erkannte Pierre jene geheimnisvolle, mitleidslose Macht, die die Menschen zwang, gegen ihren eigenen Willen ihresgleichen zu morden, jene Macht, deren Wirkung er bei der Hinrichtung wahrgenommen hatte. Ein Versuch, dieser Macht auszuweichen, ihr zu entrinnen, sich mit Bitten oder Vorstellungen an die Menschen zu wenden, die dieser Macht als Werkzeuge dienten, war nutzlos. Das wußte Pierre jetzt. Es war nichts anderes möglich als zu[152] warten und zu dulden. Pierre ging nicht mehr zu dem Kranken hin und sah sich nicht mehr nach ihm um. Schweigend, mit finsterem Gesicht stand er an der Tür der Baracke.

Als die Tür der Baracke geöffnet wurde und die Gefangenen wie eine Hammelherde, einander drückend und quetschend, sich in dem Ausgang drängten, arbeitete sich Pierre durch sie nach vorn hindurch und trat zu eben jenem Kapitän hin, der nach der Versicherung des Korporals gern bereit war, Pierre alles zu Gefallen zu tun. Der Kapitän war gleichfalls in marschmäßiger Ausrüstung, und aus seiner kalten Miene schien gleichfalls jene geheimnisvolle Macht herauszuschauen, die Pierre in den Worten des Korporals und in dem Gerassel der Trommeln wiedererkannt hatte.

»Einer hinter dem andern, immer einer hinter dem andern!« sagte, streng die Stirn runzelnd, der Kapitän, indem er die sich an ihm vorbeidrängenden Gefangenen musterte.

Pierre wußte, daß sein Versuch vergeblich sein werde; aber er trat doch an ihn heran.

»Nun, was gibt's?« fragte der Offizier und warf ihm einen kalten Blick zu, als ob er ihn nicht erkenne.

Pierre sagte etwas von dem Kranken.

»Er wird schon gehen können, hol's der Teufel!« erwiderte der Kapitän. »Einer hinter dem andern, einer hinter dem andern«, sprach er weiter, ohne Pierre anzusehen.

»Nein, nein, er liegt schon im Sterben ...«, begann Pierre.

»Machen Sie, daß Sie fortkommen!« schrie der Kapitän wütend mit finsterem Gesicht.

»Dram-da-da-dam, dam-dam«, rasselten die Trommeln. Und Pierre sah ein, daß die geheimnisvolle Macht diese Menschen schon vollständig in ihren Bann geschlagen hatte und daß es nutzlos war, jetzt noch irgend etwas zu sagen.[153]

Die gefangenen Offiziere wurden von den gefangenen Gemeinen gesondert und erhielten Befehl, voranzugehen. Die Offiziere, zu denen auch Pierre gehörte, waren an Zahl etwa dreißig, die Gemeinen gegen dreihundert.

Die gefangenen Offiziere, die aus anderen Baracken herausgelassen wurden, waren Pierre sämtlich fremd; sie waren weit besser gekleidet als er und blickten ihn in seinen Schuhen mißtrauisch und verwundert an. Nicht weit von Pierre ging ein dicker Major mit gedunsenem, gelblichem, ärgerlichem Gesicht, der sich bei seinen mitgefangenen Kameraden offenbar allgemeinen Respektes erfreute; er trug einen langen Kasanschen Rock, der mit einem Handtuch umgürtet war. Die eine Hand, in der er den Tabaksbeutel hielt, hatte er in die Brust gesteckt; mit der andern stützte er sich auf ein Pfeifenrohr. Keuchend und schnaufend brummte er allerlei vor sich hin und schalt auf alle, weil er der Meinung war, daß sie ihn alle stießen und daß sie alle eilten, obwohl kein Anlaß zur Eile wäre, und daß sie sich alle über etwas wunderten, obwohl es gar nichts zu wundern gäbe. Ein anderer, kleiner, magerer Offizier knüpfte mit allen Gespräche an, indem er Vermutungen darüber anstellte, wohin sie wohl heute geführt würden und wie weit sie wohl an diesem Tag kommen würden. Ein Beamter, in Intendanturuniform und Filzstiefeln, lief nach allen Seiten umher, betrachtete das abgebrannte Moskau und teilte allen laut seine Beobachtungen darüber mit, was niedergebrannt sei und zu welchem Stadtteil dies oder das, was noch sichtbar war, gehöre. Ein dritter Offizier, seiner Aussprache nach von polnischer Herkunft, stritt sich mit dem Intendanturbeamten herum und bewies ihm, daß er sich mit der Identifizierung der Stadtteile von Moskau irre.

»Worüber streitet ihr denn?« sagte der Major ärgerlich. »Ob das nun die Nikola-Kirche ist oder die Wlas-Kirche, das ist ja ganz[154] gleich; ihr seht ja, es ist alles niedergebrannt; das genügt ... Warum stoßen Sie mich denn? Haben Sie denn nicht Raum genug auf dem Weg?« wandte er sich zornig an seinen Hintermann, der ihn gar nicht gestoßen hatte.

»Oh, oh, oh! Was haben sie da getan!« riefen aber trotzdem die Gefangenen, die nach der Brandstätte hinschauten, bald hier, bald dort. »Das ganze Samoskworetschje, und Subowo, und da im Kreml ... Seht nur, die halbe Stadt ist weg. Ich habe es euch ja gleich gesagt, daß das ganze Samoskworetschje abgebrannt ist; seht ihr wohl, so ist es auch!«

»Na, ihr wißt ja, daß alles verbrannt ist; was ist da noch viel zu reden!« sagte der Major.

Als sie durch Chamowniki hindurchgingen, einen der wenigen nicht niedergebrannten Stadtteile Moskaus, und an einer Kirche vorbeikamen, drängte sich der ganze Haufe der Gefangenen auf einmal nach der einen Seite hinüber, und es erschollen Ausrufe des Entsetzens und des Abscheus.

»Nein, diese Schurken! Solche Unchristen! Wahrhaftig, es ist eine Leiche, eine Leiche ... Sie haben sie mit etwas beschmiert.«

Auch Pierre ging näher zu der Kirche heran, wo sich der Gegenstand befand, durch den diese Ausrufe veranlaßt wurden, und sah undeutlich, daß da etwas an die Kirchenmauer gelehnt war. Aus den Worten seiner Kameraden, die besser sahen als er, konnte er entnehmen, daß dieser Gegenstand ein menschlicher Leichnam war, der aufrecht an die Mauer gestellt und im Gesicht mit Ruß bemalt war.

»Geht zu! Donnerwetter ...! Ordentlich in Reihen gehen ... Dreißigtausend Teufel ...!« schimpften die eskortierenden französischen Soldaten und trieben den Haufen der Gefangenen, die den Leichnam betrachteten, in erneutem Ingrimm mit ihren Seitengewehren auseinander.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 150-155.
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