V

[115] Am folgenden Tag ließ sich der hinfällige Kutusow frühmorgens wecken, verrichtete sein Gebet, kleidete sich an und setzte sich in seine Kalesche mit der unangenehmen Empfindung, eine Schlacht leiten zu müssen, die er nicht billigte; so fuhr er von Letaschowka, fünf Werst hinter Tarutino, nach der Stelle, wo sich die angreifenden Kolonnen sammeln sollten. Beim Fahren schlief Kutusow abwechselnd ein und wachte wieder auf und horchte, ob nicht von rechts her Schießen zu hören sei und der Kampf begonnen habe. Aber es war noch alles still. Es begann eben erst die Morgendämmerung des feuchten, trüben Herbsttages. Als Kutusow sich Tarutino näherte, bemerkte er Kavalleristen, die ihre Pferde über den Weg herüber, auf dem sein Wagen fuhr, zur Tränke führten. Er sah sie aufmerksam an, ließ den Wagen halten und fragte sie, von welchem Regiment[115] sie wären. Die Kavalleristen gehörten zu einer Kolonne, die schon längst weit vorn sein und im Hinterhalt liegen sollte. »Vielleicht ein Mißverständnis«, dachte der alte Oberkommandierende. Aber beim Weiterfahren erblickte er Infanterieregimenter, bei denen die Gewehre zusammengestellt und die Soldaten in Unterhosen mit Grützekochen und Holzholen beschäftigt waren. Er ließ einen Offizier herbeirufen. Der Offizier berichtete, ein Befehl zum Ausrücken sei nicht eingegangen.

»Nicht einge ...«, begann Kutusow, schwieg aber sofort wieder und befahl, den höchsten Offizier zu rufen. Er stieg aus dem Wagen und ging mit gesenktem Kopf und keuchendem Atem schweigend auf und ab und wartete. Als der Gerufene, der Generalstabsoffizier Eychen, erschien, wurde Kutusow dunkelrot, nicht weil dieser Offizier an dem Irrtum schuld gewesen wäre, sondern weil er ein würdiger Gegenstand war, gegen den sich der Ausbruch seines Zornes richten konnte. Und nun geriet der alte Mann in jenen bei ihm mitunter vorkommenden Wutzustand, in dem er sich vor Zorn auf der Erde wälzen konnte, fuhr zitternd und keuchend auf Eychen los, drohte ihm mit den Fäusten und schrie und schimpfte mit den gröbsten Ausdrücken. Ein anderer, zufällig dazukommender Offizier, ein Hauptmann Brosien, den nicht die geringste Schuld traf, mußte das gleiche über sich ergehen lassen.

»Was ist das da auch noch für eine Kanaille? Erschießen müßte man diese Menschen! Die Schurken!« rief er mit heiserer Stimme und machte schwankend heftige Bewegungen mit den Armen.

Er empfand einen physischen Schmerz. Er, der Oberkommandierende, der Durchlauchtige, dem alle versicherten, nie habe jemand in Rußland eine so große Macht besessen wie er, ihn hatte man in eine solche Situation gebracht, ihn lächerlich gemacht vor dem ganzen Heer. »Vergeblich habe ich also so eifrig um einen[116] guten Ausgang des heutigen Tages gebetet, vergeblich in der Nacht gewacht und alles überlegt!« dachte er bei sich. »Als ich noch ein junger Offizier war, hätte niemand gewagt, sich in dieser Weise über mich lustig zu machen ... Aber jetzt!« Er empfand einen physischen Schmerz wie von einer körperlichen Züchtigung und konnte sich nicht enthalten, diesen Schmerz durch zorniges, grimmiges Schreien zum Ausdruck zu bringen; aber bald schwand seine Kraft dahin, er blickte um sich, wurde sich dessen bewußt, daß er gar vieles gesagt hatte, was nicht schön gewesen war, setzte sich wieder in seinen Wagen und fuhr schweigend zurück.

Nachdem er seinen Zorn über jene beiden ausgeschüttet hatte, folgte kein neuer Anfall mehr; die Augen ein wenig zusammenkneifend hörte Kutusow an, wie sich die einzelnen rechtfertigten und verteidigten (Jermolow selbst ließ sich vor ihm erst am folgenden Tag blicken), und wie Bennigsen, Konownizyn und Toll darauf drangen, daß dieselbe Bewegung, die jetzt mißlungen war, am nächsten Tag ausgeführt werden möchte. Und Kutusow mußte wieder seine Zustimmung geben.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 115-117.
Lizenz:
Kategorien: