[112] Bennigsens Denkschrift und die Nachricht des Kosaken über den ungedeckten linken Flügel der Franzosen waren nur die letzten Anzeichen dafür, daß nun notwendigerweise der Befehl zum Angriff gegeben werden mußte, und der Angriff wurde auf den 5. Oktober angesetzt.
Am 4. morgens unterschrieb Kutusow die Schlachtdisposition. Toll las sie Jermolow vor und ersuchte ihn, die weiteren Anordnungen zu treffen.
»Schön, schön, aber jetzt habe ich keine Zeit«, erwiderte Jermolow und ging aus dem Zimmer.
Die von Toll entworfene Disposition war sehr schön. Ebenso wie in der Disposition für die Schlacht bei Austerlitz, wenn auch nicht in deutscher Sprache, stand darin geschrieben:
»Die erste Kolonne marschiert da- und dahin, die zweite Kolonne marschiert da- und dahin usw.« Und alle diese Kolonnen[112] gelangten auf dem Papier zur bestimmten Zeit an ihren Platz und vernichteten den Feind. Es war, wie in allen Dispositionen, alles wunderschön ausgedacht, und wie in allen Dispositionen kam keine einzige Kolonne zur richtigen Zeit an den richtigen Platz.
Als die Disposition in der erforderlichen Anzahl von Exemplaren fertig war, wurde ein Offizier gerufen und zu Jermolow geschickt, um ihm die Papiere zum Zwecke der Ausführung der Anweisungen zu übergeben. Der junge Chevaliergardist, ein Ordonnanzoffizier Kutusows, stolz darauf, daß ihm ein so wichtiger Auftrag erteilt war, begab sich nach Jermolows Quartier.
»Er ist weggeritten«, antwortete Jermolows Bursche.
Der Chevaliergarde-Offizier ging zu einem General, den Jermolow häufig zu besuchen pflegte.
»Er ist nicht hier, und der General ist auch nicht hier«, hieß es.
Der Offizier setzte sich zu Pferde und ritt zu einem andern General.
»Er ist nicht da, er ist weggeritten.«
»Wenn ich nur nicht für die Verzögerung verantwortlich gemacht werde! Eine dumme Geschichte!« dachte der Offizier. Er ritt im ganzen Lager umher. Der eine sagte ihm, er habe gesehen, wie Jermolow mit anderen Generalen vorbeigeritten sei, wisse aber nicht, wohin; ein anderer meinte, er werde jetzt wahrscheinlich wieder zu Hause sein. Der Offizier suchte, ohne sich Zeit zum Mittagessen zu lassen, bis sechs Uhr abends; aber Jermolow war nirgends zu finden, und niemand wußte, wo er war. Nachdem der Offizier hastig bei einem Kameraden ein paar Bissen gegessen hatte, ritt er wieder weiter, zur Vorhut, zu Miloradowitsch. Miloradowitsch war gleichfalls nicht zu Hause; aber dort wurde ihm gesagt, Miloradowitsch sei auf einem Ball beim General Kikin, und Jermolow werde höchstwahrscheinlich auch dort sein.[113]
»Aber wo ist denn das?«
»Dort, in Jetschkino«, sagte ein Kosakenoffizier und wies nach einem fernen Gutshaus.
»Aber wie können sie denn da sein, außerhalb der Postenkette!«
»Es sind heute zwei von unseren Regimentern nach der Postenkette geschickt worden; da wird heute ein Gelage veranstaltet, großartig! Zwei Musikkapellen sind dabei und drei Sängerchöre!«
Der Offizier ritt über die Vorpostenkette hinaus nach Jetschkino. Als er sich dem Gutshaus näherte, hörte er schon von weitem die fröhlichen Klänge eines von den Soldaten im Chor gesungenen Tanzliedes.
»Auf den Au-en ... auf den Au-en ...«, klang es ihm entgegen; dazu wurde gepfiffen; mitunter wurde die Melodie durch fröhliches Geschrei übertönt. Dem Offizier wurde von diesen Klängen heiter zumute; aber gleichzeitig regte sich bei ihm die Furcht, er werde Vorwürfe erhalten, weil er den wichtigen, ihm eingehändigten Befehl erst so spät überbringe. Es war schon acht Uhr vorbei. Er stieg vom Pferd und trat in die Haustür des großen, unversehrt gebliebenen herrschaftlichen Gebäudes, das in der Mitte zwischen den Russen und den Franzosen lag. Im Vorzimmer und im Büfettzimmer hantierten Lakaien eifrig mit Weinen und Speisen. Unter den Fenstern standen die Sänger. Der Offizier wurde in eine Tür geführt, und nun erblickte er plötzlich die höchsten Generale der Armee alle zusammen, darunter auch die große, auffallende Gestalt Jermolows. Alle Generale hatten die Uniformröcke aufgeknöpft, standen in einem Halbkreis und lachten laut mit geröteten, vergnügten Gesichtern. In der Mitte des Saales tanzte ein General, ein kleiner, schöner Mann mit rotem Gesicht, flott und gewandt den Bauerntanz Trepak.[114]
»Hahaha! Nein, dieser Nikolai Iwanowitsch! Hahaha!«
Der Offizier sagte sich, wenn er in diesem Augenblick mit dem wichtigen Befehl einträte, würde er seine Schuld verdoppeln, und wollte warten; aber einer der Generale hatte ihn bereits erblickt und machte, als er den Grund seines Kommens erfahren hatte, Jermolow Mitteilung. Jermolow trat mit finsterem Gesicht aus der Gruppe heraus zu dem Offizier hin, hörte ihn an und nahm, ohne ein Wort zu ihm zu sagen, das Papier von ihm entgegen.
»Denkst du, daß er so zufällig vom Haus weggeritten ist?« sagte an diesem Abend ein Kamerad vom Stab zu dem Chevaliergarde-Offizier mit Bezug auf Jermolow. »Das ist ein schlaues Manöver, alles Absicht. Konownizyn soll unter die Räder gebracht werden. Paß mal auf, morgen wird es einen netten Wirrwarr geben!«