VIII

[126] Napoleon zieht nach dem glänzenden Sieg de la Moskova in Moskau ein; ein Zweifel an diesem Sieg ist ausgeschlossen, da das Schlachtfeld im Besitz der Franzosen bleibt. Die Russen ziehen sich zurück und geben ihre Hauptstadt preis. Moskau, mit Proviant, Waffen, allem möglichen Gerät und unermeßlichen Reichtümern angefüllt, ist in den Händen Napoleons. Das russische Heer, das nur halb so stark ist wie das französische, macht im Laufe eines Monats nicht einen einzigen Versuch anzugreifen. Napoleons Lage ist die glänzendste. Um sich mit doppelt so großen Streitkräften auf die Überreste der russischen Armee zu stürzen und sie zu vernichten, sowie um sich einen vorteilhaften Frieden auszubedingen oder im Fall der Ablehnung einen drohenden Marsch in der Richtung auf Petersburg zu unternehmen, um ferner selbst im Fall eines Mißgeschicks nach Smolensk oder nach Wilna zurückzukehren oder in Moskau zu bleiben, mit einem Wort: um die glänzende Lage, in der sich das französische Heer damals befand, zu behaupten, dazu bedurfte es, sollte man meinen, keiner besonderen Genialität. Dazu brauchte er nur das Einfachste und Leichteste zu tun: er mußte das Heer vom Plündern zurückhalten, mußte Winterkleidung bereithalten, welche sich in Moskau für die ganze Armee in hinreichender[126] Menge beschaffen ließ, und mußte die Lebensmittel, die nach dem Zeugnis französischer Historiker in Moskau auf mehr als ein halbes Jahr für das ganze Heer vorhanden waren, in ordnungsmäßiger Weise sammeln. Napoleon, obwohl er nach der Versicherung der Historiker das genialste aller Genies war und die Macht besaß, das Heer nach seinem Willen zu lenken, tat dennoch nichts von alledem.

Und nicht genug, daß er nichts von alledem tat, er verwendete sogar seine Macht dazu, von all den Wegen, die sich ihm für sein Handeln darboten, den allertörichtesten und allerverderblichsten auszuwählen. Napoleon konnte mancherlei tun: er konnte in Moskau überwintern, konnte nach Petersburg gehen, oder nach Nischni-Nowgorod, oder zurück, und zwar entweder mehr nördlich oder mehr südlich (auf dem Weg, den später Kutusow einschlug); aber man konnte sich nichts Törichteres und für das ganze Heer Verderblicheres ausdenken als das, was er wirklich tat: bis zum Oktober in Moskau zu bleiben, wobei er die Truppen in der Stadt plündern ließ, dann, indem er nach längerem Schwanken eine Garnison zurückließ, Moskau zu verlassen, gegen Kutusow anzurücken, keine Schlacht zu beginnen, den Weg nach rechts einzuschlagen, bis Malo-Jaroslawez zu marschieren, die Gelegenheit, durchzubrechen, wieder unbenutzt zu lassen und endlich nicht den Weg zu wählen, auf welchem dann Kutusow marschierte, sondern nach Moschaisk zurückzumarschieren und dann weiter auf der verwüsteten Smolensker Heerstraße. Und daß dies wirklich das Törichteste und Verderblichste war, haben die Folgen gezeigt. Mögen die geschicktesten Strategen unter der Annahme, Napoleon habe beabsichtigt, sein Heer zugrunde zu richten, den Versuch machen, eine andere Reihe von Handlungen zu ersinnen, die mit solcher Sicherheit und so unabhängig von allem, was die russischen Truppen nur unternehmen mochten, die französische[127] Armee so vollständig vernichtet hätte, wie das, was Napoleon wirklich getan hat.

Das hat der geniale Napoleon getan. Aber zu sagen, Napoleon habe seine Armee zugrunde gerichtet, weil er dies gewollt habe oder weil er sehr dumm gewesen sei, wäre genau ebenso ungerecht wie zu sagen, Napoleon habe seine Truppen nach Moskau geführt, weil er dies gewollt habe und weil er sehr klug und genial gewesen sei.

In dem einen wie in dem andern Fall fiel eben nur seine persönliche Tätigkeit, die keine größere Kraft besaß als die persönliche Tätigkeit eines jeden Soldaten, mit jenen Gesetzen zusammen, nach denen sich das Ereignis vollzog.

Durchaus falsch stellen uns die Historiker (lediglich weil Napoleons Handlungsweise durch die Folgen sich als unrichtig herausstellte) die Sache so dar, als hätten Napoleons geistige Fähigkeiten in Moskau eine Verminderung erlitten. Genau wie vorher und wie nachher im Jahre 1813 wandte er all seinen Verstand und seine Geisteskräfte an, um das zu tun, was für ihn selbst und für seine Armee das beste wäre. Napoleons Tätigkeit in dieser Zeit ist nicht minder staunenswert als in Ägypten, in Italien, in Österreich und in Preußen. Wir haben keine zuverlässige Kenntnis darüber, bis zu welchem Grade Napoleons Genialität in Ägypten das wirkende Moment war, wo vierzig Jahrhunderte auf seine Größe herabblickten; denn all diese Großtaten sind uns nur von Franzosen geschildert worden. Wir können uns kein zuverlässiges Urteil über seine Genialität in Österreich und Preußen bilden, da wir die Zeugnisse über seine dortige Tätigkeit aus französischen und deutschen Quellen schöpfen müssen und die unbegreifliche Kapitulation ganzer Armeekorps ohne Kampf und starker Festungen ohne Belagerung die Deutschen geneigt machen muß, die Genialität des Siegers anzuerkennen, weil ihnen nur[128] auf diese Weise der Verlauf des in Deutschland geführten Krieges erklärlich scheint. Wir aber haben, Gott sei Dank, keinen Grund, ihn für ein Genie zu erklären, um eigene Schande zu verdecken. Wir haben für die Berechtigung, die Sache klar und unbefangen zu betrachten, einen hohen Preis bezahlt, und wir werden uns diese Berechtigung nicht nehmen lassen.

Seine Tätigkeit in Moskau war ebenso erstaunlich und genial wie überall. Er erließ Befehle auf Befehle und entwarf Pläne auf Pläne, von seinem Einzug in Moskau bis zu seinem Auszug. Durch die Abwesenheit der Einwohner und das Ausbleiben einer Deputation, ja selbst durch den Brand von Moskau ließ er sich nicht beirren. Nichts verlor er aus dem Auge: weder das Wohl seiner Armee, noch die Tätigkeit des Feindes, noch das Wohl der Völker Rußlands, noch die Leitung der Angelegenheiten von Paris, noch die diplomatische Erwägung der künftigen Friedensbedingungen.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 126-129.
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