XVI

[526] Kutusow, von seinen Adjutanten begleitet, ritt im Schritt hinter den Karabiniers her.

Nachdem er ungefähr eine halbe Werst an der Queue der Kolonne zurückgelegt hatte, machte er bei einem einzeln stehenden, verfallenen Haus, wahrscheinlich einem ehemaligen Wirtshaus, halt. Dort gabelte sich der Weg; beide Fortsetzungen führten bergab, und auf beiden marschierten Truppen.

Der Nebel begann sich zu zerteilen, und man konnte bereits, wenn auch nur undeutlich, in einer Entfernung von zwei Werst feindliche Truppen auf den gegenüberliegenden Höhen sehen. Links unten wurde das Schießen vernehmlicher. Kutusow hielt und redete mit einem österreichischen General. Fürst Andrei, der ein wenig dahinter hielt, beobachtete die beiden; dann wandte er sich an einen Adjutanten und bat diesen, ihm sein Fernrohr zu leihen.

»Sehen Sie nur, sehen Sie nur«, sagte dieser Adjutant und[526] blickte dabei nicht nach den fernen Truppen, sondern vor sich nach dem nahen Fuß des Berges. »Da sind Franzosen!«

Die beiden Generale und die Adjutanten griffen nach dem Fernrohr und rissen es einander beinah aus den Händen. Alle Gesichter waren auf einmal verändert, und auf allen malte sich Schrecken und Bestürzung. Man hatte angenommen, die Franzosen seien zwei Werst von uns entfernt, und nun erschienen sie auf einmal unerwartet ganz nah vor uns.

»Ist das der Feind ...? Nein ...! Ja, sehen Sie nur, er ist es ... wahrhaftig ... Wie geht das zu?« riefen viele durcheinander.

Fürst Andrei sah mit bloßem Auge, wie unten rechts eine dichte Kolonne Franzosen den Apscheronern entgegen bergauf marschierte, nicht weiter als fünfhundert Schritte von dem Ort entfernt, wo Kutusow hielt.

»Da ist der entscheidende Augenblick; nun ist er gekommen! Jetzt ist's an mir!« dachte Fürst Andrei, versetzte seinem Pferd einen Schlag und ritt an Kutusow heran.

»Die Apscheroner müssen zurückgehalten werden, Euer hohe Exzellenz!« rief er.

Aber in demselben Augenblick bedeckte sich alles mit Rauch; nahes Gewehrfeuer erscholl, und zwei Schritte vom Fürsten Andrei entfernt schrie ein Soldat in naivem Entsetzen: »Alles ist verloren, Brüder!« Und dieser Ruf wirkte wie ein Kommando. Auf diesen Ruf hin warfen sich alle in die Flucht.

Verwirrte, immer wachsende Scharen liefen zurück nach dem Platz, wo die Truppen fünf Minuten vorher vor den Kaisern vorbeigezogen waren. Es war nicht nur unmöglich, diese Menge zurückzuhalten, es war sogar schwer, selbst stehenzubleiben und nicht von ihr mit fortgerissen zu werden. Bolkonski blickte bestürzt um sich; er vermochte gar nicht zu fassen, was da vor seinen Augen vorging. Neswizki, dessen Gesicht ganz rot geworden war[527] und arg entstellt aussah, rief in erregtem Ton dem Oberkommandierenden zu, wenn er sich nicht sogleich von dort entferne, werde er mit Sicherheit gefangengenommen werden. Aber Kutusow blieb an derselben Stelle stehen und zog, ohne zu antworten, sein Taschentuch heraus. Aus seiner Wange tröpfelte Blut. Fürst Andrei drängte sich zu ihm durch.

»Sie sind verwundet?« fragte er; er konnte kaum das Zittern seines Unterkiefers hemmen.

»Die Wunde ist nicht hier, sondern dort!« antwortete Kutusow, indem er das Tuch gegen die verwundete Wange drückte und auf die Fliehenden wies.

»Haltet sie auf!« schrie er, versetzte gleichzeitig, da er wahrscheinlich sah, daß ein Aufhalten unmöglich war, seinem Pferd einen Schlag und ritt nach rechts.

Eine neu heranflutende Schar von Fliehenden erfaßte ihn und zog ihn mit sich.

Die Truppen flohen in so dichtem Schwarm, daß, wer einmal in diesen Schwarm hineingeraten war, sich nur schwer wieder herausarbeiten konnte. Der eine schrie: »So mach doch, daß du weiterkommst! Was hältst du uns auf?« Ein andrer wandte sich um und schoß sein Gewehr in die Luft ab. Ein dritter versetzte dem Pferd, auf dem Kutusow saß, einen Schlag. Mit der größten Anstrengung arbeitete sich Kutusow aus dem Strom der Fliehenden nach links hinaus und ritt mit seiner um mehr als die Hälfte zusammengeschmolzenen Suite dahin, von wo nahes Geschützfeuer ertönte.

Fürst Andrei, der sich gleichfalls durch die Masse der Flüchtlinge hindurchgedrängt hatte und bemüht war, nicht hinter Kutusow zurückzubleiben, sah, wie am Abhang des Berges im Pulverrauch eine russische Batterie noch feuerte und die Franzosen gegen sie heranstürmten. Etwas höher hinauf stand russische Infanterie, die weder vorrückte, um der Batterie zu[528] Hilfe zu kommen, noch in gleicher Richtung mit den Fliehenden zurückging. Ein General zu Pferd löste sich von dieser Truppe und ritt zu Kutusow heran. Von Kutusows Suite waren nur noch vier Personen übriggeblieben; alle waren blaß und sahen einander an.

»Halten Sie diese Halunken auf!« sagte, vor Wut fast erstickend, Kutusow zu dem Regimentskommandeur und zeigte auf die Fliehenden; aber in demselben Augenblick kam, gleichsam zur Strafe für diese Worte, wie ein Vogelschwarm eine Menge Kugeln pfeifend auf das Regiment und Kutusows Suite zugeflogen.

Die Franzosen hatten die Batterie angegriffen und, als sie Kutusow erblickten, auf diesen geschossen. Bei dieser Salve griff der Regimentskommandeur nach seinem Bein; mehrere Soldaten fielen, und der Fähnrich, der mit der Fahne dagestanden hatte, ließ sie aus den Händen sinken; die Fahne schwankte und fiel, wobei sie an den Gewehren der nächststehenden Soldaten hängenblieb. Die Soldaten begannen zu schießen, ohne ein Kommando abzuwarten.

»O-o-oh!« stöhnte Kutusow mit einer Miene der Verzweiflung und blickte um sich. »Bolkonski«, flüsterte er, und seine Stimme bebte in dem niederdrückenden Bewußtsein der Kraftlosigkeit des Alters, »Bolkonski«, flüsterte er und wies auf das in Auflösung begriffene Bataillon und auf die Feinde, »wie ist das möglich?«

Aber bevor er diese Worte zu Ende gesprochen hatte, war schon Fürst Andrei, welcher fühlte, wie ihm Tränen der Scham und des Zornes in die Kehle kamen, vom Pferd gesprungen und lief zur Fahne hin.

»Vorwärts, Kinder!« rief er; seine Stimme gellte schrill wie die eines Knaben.

»Nun ist es da!« dachte Fürst Andrei, ergriff die Fahnenstange[529] und horchte mit Wonne auf das Pfeifen der Kugeln, die offenbar ganz besonders auf ihn gerichtet waren. Mehrere Soldaten fielen.

»Hurra!« rief Fürst Andrei, der die schwere Fahne kaum mit den Händen halten konnte, und lief vorwärts, in der festen Überzeugung, daß das ganze Bataillon ihm folgen werde.

Und wirklich brauchte er nur wenige Schritte allein zu laufen. Es setzte sich ein Soldat in Bewegung, dann ein zweiter, und mit dem Ruf: »Hurra!« lief das ganze Bataillon vorwärts und überholte ihn. Ein Unteroffizier kam herbeigelaufen und ergriff die Fahne, die infolge ihres Gewichtes in den Händen des Fürsten Andrei schwankte, wurde aber sofort erschossen. Fürst Andrei erfaßte die Fahne wieder und lief mit dem Bataillon, indem er die Fahnenstange am Boden nachschleifen ließ. Vor sich sah er unsere Artilleristen, von denen die einen kämpften, andere aber die Kanonen im Stich ließen und ihm entgegenliefen; er sah auch französische Infanteristen, welche die Artilleriepferde am Zügel faßten und die Kanonen umdrehten. Fürst Andrei war mit dem Bataillon schon bis auf zwanzig Schritte an die Geschütze herangekommen. Er hörte über seinem Kopf das beständige Pfeifen der Kugeln, und fortwährend stöhnten rechts und links von ihm Soldaten auf und fielen zu Boden. Aber er sah nicht zu ihnen hin; er blickte nur auf das, was vor ihm vorging, bei der Batterie. Er sah schon deutlich die Gestalt eines rothaarigen Artilleristen mit schiefsitzendem Tschako; der Artillerist hielt einen Stückwischer an dem einen Ende gepackt und zog ihn an sich, während ein Franzose am andern Ende zog. Fürst Andrei sah schon deutlich den ratlosen und zugleich ingrimmigen Gesichtsausdruck der beiden Soldaten, die sich offenbar nicht recht klar darüber waren, was sie taten.

»Was tun die beiden?« dachte Fürst Andrei, nach ihnen hinblickend.[530] »Warum läuft der rothaarige Artillerist nicht weg, wenn er doch keine Waffen hat? Warum sticht ihn der Franzose nicht nieder? Sowie er anfängt wegzulaufen, wird dem Franzosen einfallen, daß er ja ein Gewehr mit einem Bajonett hat, und er wird ihn niederstechen.«

Wirklich kam ein anderer Franzose mit gefälltem Bajonett zu den beiden Ringenden hingelaufen, und das Schicksal des rothaarigen Artilleristen, der immer noch nicht begriff, was ihm bevorstand, und triumphierend seinem Gegner den Stückwischer aus den Händen riß, mußte sich jetzt entscheiden. Aber Fürst Andrei sah nicht, wie die Sache endete. Er hatte die Empfindung, als ob einer von den zunächst befindlichen Soldaten ihn mit einem starken Knüttel mit voller Wucht auf den Kopf schlüge.

Der Schmerz war nicht besonders groß; das Unangenehmste dabei war, daß dieser Schmerz seine Gedanken in Anspruch nahm und ihn hinderte, das zu sehen, wonach er soeben hingeblickt hatte.

»Was ist das? Falle ich? Die Knie knicken mir ja ein!« dachte er und fiel rücklings auf die Erde. Dann öffnete er wieder die Augen, in der Hoffnung, zu sehen, welchen Ausgang der Kampf der beiden Franzosen mit dem Artilleristen genommen habe, ob der rothaarige Artillerist getötet sei oder nicht; auch hätte er gern gewußt, ob die Kanonen genommen oder gerettet waren. Aber er sah nichts mehr als über sich den Himmel, den hohen Himmel, der jetzt nicht klar, aber doch unermeßlich hoch war, mit ruhig über ihn hingleitenden grauen Wolken. »Wie still und ruhig und feierlich das ist«, dachte Fürst Andrei. »Das hat so gar keine Ähnlichkeit mit unserm Laufen, Schreien und Kämpfen; das stille Dahingleiten der Wolken an diesem hohen, unendlichen Himmel hat so gar nichts gemein mit dem Ringen des Franzosen und des Artilleristen, die mit erregten, grimmigen Gesichtern einander[531] den Stückwischer zu entreißen suchten. Wie ist es nur zugegangen, daß ich diesen hohen Himmel früher nie gesehen habe? Und wie glücklich bin ich, daß ich ihn endlich kennengelernt habe. Ja, alles ist nichtig, alles ist Irrtum und Lug, außer diesem unendlichen Himmel. Es gibt nichts, nichts außer ihm. Aber auch er ist nicht vorhanden; es gibt nichts als Stille und Ruhe. Und dafür sei Gott Dank ...!«

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 1, S. 526-532.
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