XVII

[532] Auf dem rechten Flügel, welchen Bagration kommandierte, hatte um neun Uhr der Kampf noch nicht begonnen. Da Bagration einerseits dem Verlangen Dolgorukows, daß er den Kampf beginnen solle, nicht willfahren und andrerseits jede Verantwortlichkeit von sich abwälzen wollte, so schlug er dem Fürsten Dolgorukow vor, zu dem Oberkommandierenden hinzuschicken und diesen zu befragen. Bagration wußte, daß bei dem fast zehn Werst betragenden Abstand des einen Flügels vom andern der Abgesandte, wenn er nicht erschossen wurde (was sehr wahrscheinlich war), und selbst wenn er den Oberkommandierenden fand (was sehr schwer war), nicht vor dem Nachmittag zurück sein konnte.

Bagration musterte seine Suite mit seinen großen, ausdruckslosen, schläfrigen Augen, und unwillkürlich erregte Rostows kindliches, vor Aufregung und Hoffnung starres Gesicht zuerst seine Aufmerksamkeit. Es bestimmte ihn für diese Sendung.

»Aber wenn ich Seine Majestät früher treffe als den Oberkommandierenden, Euer Durchlaucht?« fragte Rostow, die Hand am Mützenschirm.

»Dann können Sie Seiner Majestät die Anfrage vorlegen«, sagte Dolgorukow eilig, ohne Bagration zu Wort kommen zu lassen.[532]

Rostow hatte, nach seiner Ablösung vom Vorpostendienst, vor Tagesanbruch noch die Möglichkeit gehabt, ein paar Stunden zu schlafen; er fühlte sich jetzt munter, unternehmungslustig und energisch; dank der Elastizität seiner Bewegungen, dem Vertrauen auf sein Glück und seiner frohen Gemütsstimmung schien ihm alles leicht, vergnüglich und ausführbar.

Alle seine Wünsche waren an diesem Morgen in Erfüllung gegangen: es wurde eine Entscheidungsschlacht geliefert, und er nahm an ihr teil; und damit nicht genug, war er auch Ordonnanzoffizier bei einem hervorragend tapferen General; und endlich ritt er mit einem Auftrag zu Kutusow, vielleicht sogar zum Kaiser selbst. Der Morgen war klar, das Pferd, das er ritt, tüchtig. Ihm war froh und glückselig zumute. Nachdem er den Auftrag erhalten hatte, trieb er sein Pferd an und sprengte an der Schlachtlinie entlang. Anfangs ritt er an der Front der Truppen Bagrations hin, die noch nicht in den Kampf eingetreten waren und dastanden, ohne sich zu rühren; dann kam er zu derjenigen Strecke, die von Uwarows Kavallerie ausgefüllt wurde, und hier bemerkte er schon eine gewisse Bewegung und Anzeichen von Vorbereitungen auf den Kampf; als er aber an der Uwarowschen Kavallerie vorbei war, da hörte er schon deutlich den Ton von Geschütz- und Gewehrfeuer vor sich. Und das Schießen nahm immer mehr zu.

In der frischen Morgenluft ertönten jetzt nicht mehr, wie vorher, in unregelmäßigen Zwischenräumen je zwei oder je drei Flintenschüsse und dann ein oder zwei Kanonenschüsse; sondern auf den Bergabhängen vor Pratzen erscholl ein unaufhörliches Geknatter von Gewehrfeuer, welches von so häufigen Kanonenschüssen unterbrochen wurde, daß manchmal mehrere Kanonenschüsse nicht mehr voneinander zu unterscheiden waren, sondern in ein einziges allgemeines Dröhnen zusammenflossen.[533]

Man konnte sehen, wie die kleinen Rauchwölkchen der Gewehre an den Bergabhängen gleichsam hinliefen, einander jagten und einholten, und wie die großen Rauchwolken der Geschütze wirbelnd aufstiegen, sich ausbreiteten und miteinander zusammenflossen. Man konnte in den Lücken des Rauches marschierende Infanteriemassen sehen, die an dem Blitzen der Bajonette kenntlich waren, und die schmalen Streifen der Artillerie mit den grünen Munitionswagen.

Rostow hielt auf einem Bergvorsprung sein Pferd einen Augenblick an, um das, was da vorging, zu betrachten; aber wie sehr er auch seine Aufmerksamkeit anstrengte, er konnte die Vorgänge nicht verstehen und nicht daraus klug werden: es bewegten sich da im Rauch allerlei Menschen, es bewegten sich allerlei Truppenkolonnen vorwärts und rückwärts; aber wozu? wer? wohin? Das war nicht zu begreifen. Aber dieser Anblick und diese Töne riefen bei ihm nicht etwa ein Gefühl der Niedergeschlagenheit oder der Angst hervor, sondern sie steigerten vielmehr seine Energie und Entschlossenheit.

»Nun, immer noch mehr, immer kräftiger!« sagte er in Gedanken zu diesen Tönen und sprengte wieder an der Linie entlang, wobei er immer weiter in den Bereich derjenigen Truppen kam, die bereits in den Kampf eingetreten waren.

»In welcher Weise sich die Sache abspielen wird, das weiß ich nicht«, dachte Rostow; »aber jedenfalls wird alles gut werden.«

Nachdem Rostow an einigen österreichischen Truppenteilen vorbeigeritten war, bemerkte er, daß der darauffolgende Teil der Schlachtlinie (es war die Garde) bereits im Kampf stand.

»Um so besser! Dann sehe ich es mir aus der Nähe an«, dachte er.

Er ritt fast an der vordersten Linie entlang. Eine Anzahl von Reitern kam, in der Richtung auf ihn zu, angejagt. Es waren unsere Leibulanen, die in aufgelösten Reihen von der Attacke[534] zurückkehrten. Rostow kam nahe an ihnen vorbei, bemerkte unwillkürlich, daß einer von ihnen blutig war, und sprengte weiter.

»Das kümmert mich nicht!« dachte er. Er war nach dieser Begegnung noch nicht ein paar hundert Schritte weitergeritten, als sich links von ihm über die ganze Ausdehnung des Feldes hin eine gewaltige Masse Kavallerie, auf Rappen, in weißen, glänzenden Uniformen, zeigte, welche eine auf der seinigen senkrecht stehende Richtung verfolgte und im Trab gerade auf ihn zukam. Rostow ließ sein Pferd die schnellste Gangart anschlagen, um diesen Reitern aus dem Weg zu kommen, und dies wäre ihm auch gelungen, wenn sie immer in demselben Tempo weitergeritten wären; aber sie steigerten ihre Geschwindigkeit fortwährend, so daß manche Pferde schon galoppierten. Immer deutlicher und deutlicher hörte Rostow die Hufschläge der Pferde und das Klirren der Waffen; immer genauer sah er die Pferde und die Gestalten der Reiter und sogar ihre Gesichter. Es waren unsere Chevaliergardisten, die zur Attacke auf die französische Kavallerie vorgingen, welche gegen sie heranrückte.

Die Chevaliergardisten ritten in scharfem Tempo, verhielten aber ihre Pferde noch. Rostow sah schon ihre Gesichter und hörte das Kommando: »Marsch, marsch!«, das ein Offizier erteilte, indem er sein Vollblut in vollen Galopp versetzte. Rostow, der in Gefahr war, überritten oder in die Attacke auf die Franzosen mit hineingezogen zu werden, jagte vor der Front entlang, was sein Pferd nur laufen konnte; aber dennoch schien es, daß es ihm nicht gelingen werde, an ihnen vorbeizukommen.

Der Flügelmann der Chevaliergardisten, ein riesenhaft großer, pockennarbiger Kerl, runzelte grimmig die Stirn, als er Rostow vor sich sah, mit dem er unfehlbar zusammenstoßen mußte. Dieser Chevaliergardist hätte Rostow mitsamt seinem »Beduinen«[535] zweifellos über den Haufen gerannt (Rostow selbst kam sich gar so klein und schwach vor im Vergleich mit diesen gewaltigen Männern und Pferden), wenn Rostow nicht auf den Gedanken gekommen wäre, mit der Kosakenpeitsche dem Pferd des Chevaliergardisten auf die Augen zu schlagen. Der schwere, große Rappe legte die Ohren zurück und bäumte sich; aber der pockennarbige Chevaliergardist stieß ihm, weit ausholend, die gewaltigen Sporen in die Seite, und das Pferd, mit dem Schweife schlagend und den Hals ausstreckend, stürmte noch schneller dahin. Kaum waren die Chevaliergardisten an Rostow vorbei, als er ihren Ruf: »Hurra!« hörte; er blickte sich um und sah, daß ihre vordersten Reihen sich mit fremden, also doch gewiß französischen Kavalleristen mit roten Epauletten vermengt hatten. Weiter aber konnte er nichts sehen, da unmittelbar darauf irgendwo in der Nähe eine heftige Kanonade begann und alles von Rauch bedeckt wurde.

Als Rostow die Chevaliergardisten, die an ihm vorbeigeritten waren, in dem Rauch aus den Augen verloren hatte, schwankte er, ob er ihnen nachjagen oder dahin reiten sollte, wohin seine Order lautete. Es war dies jene glänzende Attacke der Chevaliergardisten, die selbst den Franzosen imponierte. Für Rostow war es einige Zeit nachher eine furchtbare Empfindung, als er hörte, daß von diesem gesamten, nur aus großen, schönen Leuten bestehenden Regiment und von all diesen vornehmen, reichen, jungen Offizieren und Junkern, auf Pferden für tausend Rubel, daß von diesem ganzen Regiment, das an ihm vorbeigeritten war, nach der Attacke nur achtzehn Mann übriggeblieben waren.

»Ich brauche sie nicht zu beneiden; die Stunde des Kampfes wird auch für mich kommen. Und vielleicht sehe ich jetzt gleich den Kaiser!« dachte Rostow und jagte weiter.

Als er zur Gardeinfanterie gelangte, bemerkte er, daß über sie[536] hinweg und um sie herum Kanonenkugeln flogen; und zwar wurde er darauf nicht dadurch aufmerksam, daß er den Ton der Kugeln hörte, sondern weil er auf den Gesichtern der Soldaten eine gewisse Unruhe und auf den Gesichtern der Offiziere einen gekünstelten, martialischen Ernst wahrnahm.

Während er hinter einem der in der Schlachtlinie stehenden Gardeinfanterie-Regimenter vorbeiritt, hörte er, daß ihn jemand beim Namen rief.

»Rostow!«

»Was gibt es?« rief er zurück, ohne Boris zu erkennen.

»Was sagst du dazu? Wir sind in die erste Linie gekommen! Unser Regiment ist zur Attacke vorgegangen!« sagte Boris und lächelte so glückselig, wie das junge Männer, die zum erstenmal ins Feuer gekommen sind, zu tun pflegen.

Rostow hatte sein Pferd angehalten.

»Nun sieh einmal an!« sagte er. »Nun, wie ist es denn gegangen?«

»Wir haben den Feind zurückgeschlagen!« erwiderte Boris lebhaft und wurde nun sehr redselig. »Stell dir nur vor ...«

Und Boris begann zu erzählen, wie die Garde, die ruhig auf ihrem Platz gestanden und vor sich Truppen gesehen habe, diese für Österreicher gehalten habe und plötzlich durch Kanonenkugeln, die von diesen Truppen her zu ihr herübergeflogen seien, belehrt worden sei, daß sie in der vordersten Linie stehe, und wie sie nun unerwarteterweise habe in den Kampf eintreten müssen. Rostow ließ Boris seine Erzählung nicht zu Ende bringen, sondern trieb sein Pferd wieder an.

»Wohin willst du?« fragte Boris.

»Zu Seiner Majestät, mit einem Auftrag.«

»Da ist er«, sagte Boris, der verstanden hatte, Rostow wolle zu Seiner Hoheit, statt zu Seiner Majestät.[537]

Er zeigte ihm mit der Hand den hochschultrigen Großfürsten, der hundert Schritt von ihnen, im Koller der Chevaliergardisten, den Helm auf dem Kopf, mit zusammengezogenen Brauen einem weißgekleideten österreichischen Offizier, der ganz blaß aussah, etwas zurief.

»Aber das ist ja der Großfürst, und ich muß zum Oberkommandierenden oder zum Kaiser«, sagte Rostow und wollte sein Pferd wieder antreiben.

»Graf, Graf!« rief da Berg, der von einer andern Seite herbeigelaufen kam und in ebenso lebhafter Erregung zu sein schien wie Boris, »Graf, ich bin an der rechten Hand verwundet worden« (er zeigte seine blutige Hand, die mit einem Taschentuch verbunden war), »aber ich bin doch bei der Truppe geblieben. Graf, ich halte nun den Degen in der linken Hand; in meiner Familie, in der Familie von Berg, Graf, hat es von jeher nur tüchtige Kriegsleute gegeben.«

Berg sagte noch etwas; aber Rostow ritt schon, ohne zu Ende zu hören, weiter.

Nachdem Rostow bei der Garde vorbei und dann durch einen leeren Zwischenraum geritten war, nahm er, um nicht wieder wie bei der Attacke der Chevaliergardisten in die erste Linie hineinzugeraten, seinen Weg an der Linie der Reserven entlang, in weiter Entfernung von der Gegend, wo das stärkste Gewehr-und Geschützfeuer ertönte. Plötzlich hörte er vor sich und hinter unseren Truppen, in einer Gegend, wo er in keiner Weise Feinde vermuten konnte, nahes Gewehrfeuer.

»Was kann das sein?« dachte Rostow. »Feinde im Rücken unserer Truppen? Unmöglich!« Aber auf einmal überkam ihn eine Angst für seine eigene Person und um den Ausgang der ganzen Schlacht. »Was es auch sein mag«, sagte er sich, »Umwege zu machen, dazu habe ich jetzt keine Zeit. Ich muß hier den[538] Oberkommandierenden suchen, und wenn alles verloren ist, dann will auch ich mit zugrunde gehen.«

Die böse Ahnung, die ihn auf einmal befallen hatte, bestätigte sich immer mehr und mehr, je weiter er in das hinter dem Dorf Pratzen gelegene Terrain hineinkam, das von unordentlichen Haufen verschiedenartiger Truppenteile angefüllt war.

»Was gibt es hier? Was bedeutet das? Auf wen wird geschossen? Wer schießt da?« fragte Rostow, als er auf russische und österreichische Soldaten stieß, die in buntgemischtem Schwarm quer zu seiner eigenen Wegrichtung dahinliefen.

»Weiß der Teufel! Alle sind erschossen! Alles ist verloren!« wurde ihm auf russisch, auf deutsch und auf tschechisch aus den Haufen der Fliehenden geantwortet; diese verstanden ebensowenig wie er selbst, was hier vorging.

»Schlagt die Deutschen tot!« schrie einer.

»Hol sie der Teufel, die Verräter!«

»Zum Henker diese Russen ...!« brummte ein Deutscher vor sich hin.

Auch einige Verwundete kamen auf demselben Weg vorüber. Ihr Stöhnen floß mit dem Schimpfen und Schreien zu einem allgemeinen, wirren Getöse zusammen. Das Schießen war verstummt; wie Rostow später erfuhr, hatten russische und österreichische Soldaten aufeinander geschossen.

»Mein Gott! Wie ist es nur möglich, daß sie so fliehen?« dachte Rostow. »Und noch dazu hier, wo sie jeden Augenblick der Kaiser sehen kann ...! Aber nein, es sind gewiß nur einige Lumpen. Das ist eine vorübergehende Erscheinung; das ist kein wahres Bild der Sache; es ist nicht möglich!« dachte er. »Ich will nur recht schnell, recht schnell an ihnen vorbeireiten!«

Sein ganzes Wesen sträubte sich gegen den Gedanken an Niederlage und Flucht des Heeres. Obgleich er französische Geschütze[539] und französische Truppen auf den Höhen von Pratzen erblickte, also gerade da, wo er den Oberkommandierenden aufsuchen sollte, konnte und wollte er nicht daran glauben.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 1, S. 532-540.
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