XIX

[550] Auf der Höhe von Pratzen, an derselben Stelle, wo er mit der Fahne in der Hand gefallen war, lag Fürst Andrei Bolkonski; er verlor viel Blut und stöhnte, ohne sich dessen selbst bewußt zu sein, leise und kläglich nach Art eines Kindes.

Gegen Abend hörte er auf zu stöhnen und wurde vollständig still. Er wußte nicht, wie lange dieser Zustand der Bewußtlosigkeit gedauert hatte; aber plötzlich fühlte er wieder, daß er lebte[550] und daß ihn ein brennender Schmerz quälte; es war ihm, als wäre ihm etwas im Kopf zerrissen.

»Wo ist er, dieser hohe Himmel, den ich bisher nicht gekannt hatte und heute zum erstenmal gesehen habe?« Das war sein erster Gedanke. »Auch diesen Schmerz hatte ich bisher nicht gekannt«, dachte er. »Ja, ich habe bisher nichts gekannt, gar nichts. Aber wo bin ich?«

Er begann zu horchen und vernahm das Geräusch sich nähernder Hufschläge und Stimmen, die Französisch sprachen. Er öffnete die Augen. Über ihm war wieder derselbe hohe Himmel mit den Wolken, die sich noch höher hinaufgezogen hatten und leise dahinzogen, und zwischen denen er hineinblickte in die blaue Unendlichkeit. Er drehte den Kopf nicht um und sah die Menschen nicht, die, nach dem Klang der Hufschläge und der Stimmen zu urteilen, zu ihm herangeritten kamen und in der Nähe anhielten.

Die herbeigekommenen Reiter waren Napoleon und zwei ihn begleitende Adjutanten. Bonaparte, der das Schlachtfeld beritt, gab die letzten Befehle über die Verstärkung der Batterien, die den Damm von Aujesd beschossen, und besichtigte die Gefallenen und Verwundeten, die auf dem Schlachtfeld geblieben waren.

»Prächtige Leute!« sagte Napoleon, indem er einen getöteten russischen Grenadier betrachtete, der, das Gesicht in die Erde gedrückt, den sonnengebräunten Nacken nach oben, auf dem Bauch dalag und den einen Arm, der schon starr geworden war, weit von sich streckte.

»Die Munition der Positionsgeschütze ist erschöpft, Sire!« meldete in diesem Augenblick ein Adjutant, der von den Batterien herübergeritten kam, welche die Gegend von Aujesd beschossen.[551]

»Lassen Sie die von der Reserve herbeischaffen«, antwortete Napoleon, ritt einige Schritte weiter und hielt dicht vor dem Fürsten Andrei, der auf dem Rücken dalag mit der hingesunkenen Fahnenstange neben sich (die Fahne selbst hatten die Franzosen schon als Trophäe mitgenommen).

»Ein schöner Tod!« sagte Napoleon, indem er den Fürsten Andrei betrachtete.

Fürst Andrei merkte, daß dies mit Bezug auf ihn gesagt wurde, und daß der Redende Napoleon war; er hatte gehört, daß derjenige, der diese Worte gesprochen hatte, Sire genannt worden war. Aber er hörte diese Worte so achtlos, wie wenn er das Summen einer Fliege hörte. Er interessierte sich nicht für diese Worte, ja, er merkte nicht einmal darauf, sondern vergaß sie sofort wieder. Der Kopf brannte ihm; er fühlte, wie sein Blut dahinfloß, und er sah über sich den fernen, hohen, ewigen Himmel. Er wußte, daß der Mann, der da vor ihm zu Pferd hielt, Napoleon war, sein Held; aber in diesem Augenblick erschien ihm Napoleon als ein so kleiner, nichtiger Mensch im Vergleich mit alledem, was jetzt zwischen seiner Seele und diesem hohen, unendlichen Himmel mit den darüber hinziehenden Wolken vorging. Es war ihm in diesem Augenblick vollkommen gleichgültig, wer da vor ihm stand, und was er von ihm sagte; nur darüber freute er sich, daß Menschen bei ihm standen, und er wünschte nur, daß diese Menschen ihm helfen und ihn dem Leben wiedergeben möchten, das ihm so schön erschien, weil er es jetzt so ganz anders verstand als früher. Er nahm alle seine Kräfte zusammen, um sich zu bewegen und einen Laut von sich zu geben. Er regte ein wenig das Bein und stieß ein schwaches, schmerzliches Stöhnen aus, das ihn selbst rührte.

»Ah, er lebt noch!« sagte Napoleon. »Lassen Sie den jungen Mann aufheben und zum Verbandsplatz bringen.«[552]

Nach diesen Worten ritt Napoleon weiter, dem Marschall Lannes entgegen, der, den Hut in der Hand, lächelnd herbeigeritten kam und den Kaiser zu seinem Sieg beglückwünschte.

Für das, was sich weiter ereignete, hatte Fürst Andrei nachher keine Erinnerung: er hatte das Bewußtsein verloren infolge des furchtbaren Schmerzes, den ihm das Hinauflegen auf die Tragbahre, die Stöße während des Transportes und das Sondieren der Wunde auf dem Verbandsplatz verursachten. Er kam erst am Ende des Tages wieder zu sich, als er nebst anderen verwundeten und gefangenen russischen Offizieren in das Hospital geschafft wurde. Auf diesem Transport fühlte er sich ein wenig besser und war imstande, sich umzusehen und sogar zu reden.

Die ersten Worte, die er hörte, als er wieder zur Besinnung gekommen war, waren die Worte des den Transport leitenden französischen Offiziers, der hastig sagte:

»Wir müssen hier haltmachen; der Kaiser kommt sogleich vorbei, und es wird ihm Vergnügen bereiten, diese gefangenen Herren zu sehen.«

»Es sind heute so viele, fast die ganze russische Armee wurde gefangengenommen, daß ihm die Sache gewiß schon langweilig geworden ist«, sagte ein anderer Offizier.

»Na, wollen es trotzdem tun! Dieser hier ist, wie es heißt, der Kommandeur der ganzen Garde des Kaisers Alexander«, sagte der erste und wies auf einen verwundeten russischen Offizier in der weißen Uniform der Chevaliergarde.

Bolkonski erkannte den Fürsten Repnin, mit dem er in Petersburg auf Gesellschaften zusammengetroffen war. Neben ihm stand ein anderer, gleichfalls verwundeter Offizier der Chevaliergarde, ein junger Mensch von neunzehn Jahren.

Bonaparte kam im Galopp herangesprengt und hielt sein Pferd an.[553]

»Wer ist der höchste im Rang?« fragte er, die Gefangenen musternd.

Man bezeichnete ihm als solchen den Obersten Fürst Repnin.

»Sie sind der Kommandeur des Chevaliergarde-Regiments des Kaisers Alexander?« fragte Napoleon.

»Ich habe eine Eskadron kommandiert«, antwortete Repnin.

»Ihr Regiment hat ehrenhaft seine Schuldigkeit getan«, sagte Napoleon.

»Das Lob eines großen Feldherrn ist der schönste Lohn für einen Soldaten«, erwiderte Repnin.

»Ich spreche Ihnen mit Freuden meine Anerkennung aus«, sagte Napoleon. »Wer ist der junge Mann neben Ihnen?«

Fürst Repnin nannte den Leutnant Suchtelen.

Napoleon blickte ihn an und sagte lächelnd:

»Er hat in sehr jungen Jahren mit uns angebunden.«

»Die Jugend hindert niemanden, tapfer zu sein«, antwortete Suchtelen mit stockender Stimme.

»Eine vortreffliche Antwort!« sagte Napoleon. »Sie werden es noch einmal weit bringen, junger Mann!«

Um die Siegestrophäen zu vervollständigen, war auch Fürst Andrei in der vordersten Reihe der Gefangenen dem Kaiser zur Schau gestellt und fesselte unwillkürlich dessen Aufmerksamkeit. Napoleon erinnerte sich offenbar, daß er ihn auf dem Schlachtfeld gesehen hatte, und bediente sich jetzt, wo er sich zu ihm wandte, derselben Bezeichnung »junger Mann«, unter der sich Bolkonski beim erstenmal seinem Gedächtnis eingeprägt hatte.

»Nun, und Sie, junger Mann?« redete er ihn an. »Wie fühlen Sie sich, mon brave?«

Obwohl Fürst Andrei fünf Minuten vorher imstande gewesen war, zu den Soldaten, die ihn trugen, einige Worte zu sagen, schwieg er jetzt, die Augen gerade auf Napoleon gerichtet ...[554] Alle die Interessen, die den Kaiser beschäftigten, erschienen ihm in diesem Augenblick so nichtig, sein Held selbst kam ihm so un bedeutend vor mit dieser kleinlichen Eitelkeit und Siegesfreude im Vergleich mit jenem hohen, gerechten, guten Himmel, den er gesehen und verstanden hatte, daß er es nicht vermochte, ihm zu antworten.

Und überhaupt erschien ihm alles, alles so wertlos und nichtig gegenüber jener ernsten, erhabenen Gedankenreihe, welche die Abnahme seiner Kräfte infolge des Blutverlustes, der Schmerz und der Hinblick auf den nahen Tod in seiner Seele hervorgerufen hatten. Während Fürst Andrei dem Kaiser Napoleon in die Augen sah, dachte er an die Nichtigkeit menschlicher Größe und an die Nichtigkeit des Lebens, dessen Sinn und Bedeutung niemand begreifen kann, und an die noch größere Nichtigkeit des Todes, dessen wahres Wesen kein Lebender zu verstehen und einem andern zu erklären vermag.

Der Kaiser wandte sich, nachdem er vergebens auf eine Antwort gewartet hatte, ab und sagte, ehe er wegritt, noch zu einem der höheren Offiziere:

»Veranlassen Sie, daß für diese Herren gut gesorgt wird und daß sie in mein Biwak gebracht werden; mein Arzt Larrey soll ihre Wunden untersuchen. Auf Wiedersehen, Fürst Repnin!« Er gab seinem Pferd die Sporen und galoppierte weiter.

Sein Gesicht glänzte von Selbstzufriedenheit und von Freude über sein Glück.

Die Soldaten, die den Fürsten Andrei getragen und ihm das silberne, einst von der Prinzessin Marja ihrem Bruder umgehängte Heiligenbildchen abgenommen hatten, das ihnen vor die Augen gekommen war, beeilten sich jetzt, es ihm wiederzugeben, da sie sahen, mit welcher Freundlichkeit der Kaiser die Gefangenen behandelte.[555]

Fürst Andrei sah nicht, von wem und wie es ihm wieder umgehängt war; aber auf einmal befand sich das Heiligenbild an der feinen silbernen Kette auf seiner Brust über der Uniform.

»Ja, es wäre schön«, dachte Fürst Andrei, während er dieses Heiligenbild betrachtete, das ihm seine Schwester in so tiefer Empfindung und inniger Frömmigkeit umgehängt hatte, »es wäre schön, wenn alles so klar und einfach wäre, wie es sich meine Schwester Marja denkt. Wie schön wäre es, wenn man wüßte, wo man in diesem Leben Hilfe suchen kann, und was man nach diesem Leben dort jenseits des Grabens zu erwarten hat! Wie glücklich und ruhig würde ich sein, wenn ich jetzt sagen könnte: Herr, erbarme dich meiner ...! Aber zu wem soll ich das sagen? Ist jene unbestimmte, unbegreifliche Kraft, an die ich mich nicht wenden, ja, die ich nicht einmal mit Worten bezeichnen kann, das große All oder das große Nichts, ist das wirklich jener Gott, den Marja hier auf dieses Weihrauchkissen festgenäht hat? Es gibt nichts Gewisses, nichts Gewisses, als daß alles, was ich begreifen kann, nichtig ist, und daß etwas Unbegreifliches gewaltig groß, ja das Allerwichtigste ist!«

Die Tragbahre wurde in Bewegung gesetzt. Bei jedem Stoß fühlte er wieder einen unerträglichen Schmerz; das Fieber wurde schlimmer, und er begann irre zu reden. Gedanken an seinen Vater, an seine Frau, an seine Schwester und an seinen erhofften Sohn, dann die zärtlichen Empfindungen, die ihn in der Nacht vor der Schlacht erfüllt hatten, ferner die Gestalt Napoleons, dieses kleinlichen, nichtigen Menschen, und über dem allem der hohe Himmel: das waren die Hauptgegenstände seiner Fieberphantasien.

Das stille Leben und das ruhige Familienglück in Lysyje-Gory stellte sich seinem geistigen Blick dar. Schon schickte er sich an, dieses Glück zu genießen, da erschien plötzlich der kleinliche Napoleon[556] mit seinem Egoismus, seinem beschränkten Gesichtskreis und seiner aus dem Unglück anderer Menschen erwachsenden Freude, und dann begannen die Zweifel und die Qualen, und nur der Himmel versprach Beruhigung. Gegen Morgen vermengten sich alle diese Phantasien miteinander und flossen zu einem dunklen Chaos der Bewußtlosigkeit und Selbstvergessenheit zusammen, ein Zustand, von welchem Napoleons Arzt Larrey meinte, es sei wahrscheinlicher, daß er mit dem Tod, als daß er mit der Genesung enden werde.

»Er ist ein nervöses, galliges Individuum«, sagte Larrey. »Er wird nicht durchkommen.«

Fürst Andrei wurde dann mit anderen hoffnungslos Verwundeten der Fürsorge der Einwohner überlassen.[557]

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 1, S. 550-558.
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