XVIII

[540] Rostow hatte Befehl, Kutusow und den Kaiser in der Nähe des Dorfes Pratzen zu suchen. Aber dort war keiner von beiden und überhaupt kein höherer Offizier, sondern nur buntscheckige Haufen, Reste aufgelöster Truppenteile. Er trieb sein bereits müde werdendes Pferd an, um möglichst schnell an diesen Haufen vorbeizukommen; aber je weiter er kam, um so ärger wurde der Zustand der Zerrüttung. Auf der breiten Landstraße, auf die er nun gelangte, drängten sich Fuhrwerke aller Art, russische und österreichische Soldaten aller Waffengattungen, Verwundete und Unversehrte. Alles das drängte in wildem Durcheinander und mit lautem Getöse vorwärts, unter der schrecklichen Begleitmusik der Kanonenkugeln, die von den Batterien auf den Höhen von Pratzen herübergeflogen kamen.

»Wo ist der Kaiser? Wo ist Kutusow?« fragte Rostow alle, deren er habhaft werden konnte; aber er erhielt von niemand Antwort.

Endlich hielt er einen Soldaten am Rockkragen fest und zwang ihn, ihm zu antworten.

»Ach, Bruder! Die sind alle schon lange nach da zu; die sind zuerst ausgerissen!« antwortete ihm der Soldat lachend und riß sich los.

Rostow ließ von diesem offenbar betrunkenen Soldaten ab, hielt das Pferd eines Offiziersburschen (es mochte auch der Reitknecht irgendeiner hohen Persönlichkeit sein) an und fragte diesen aus. Der Bursche erzählte ihm, der Kaiser sei vor einer Stunde in einem Wagen, was die Pferde nur laufen konnten,[540] auf dieser selben Landstraße davongefahren; er sei gefährlich verwundet.

»Das ist unmöglich«, sagte Rostow. »Es ist gewiß irgendein anderer gewesen.«

»Ich habe ihn selbst gesehen«, erwiderte der Bursche mit einem selbstbewußten Lächeln. »Ich werde doch den Kaiser kennen; wie oft habe ich ihn nicht in Petersburg aus nächster Nähe gesehen. Ganz blaß, ganz blaß saß er in seiner Kutsche. Er jagte nur so an uns vorbei; Donnerwetter, was griffen die vier Rappen aus! Ich werde doch die Pferde des Zaren und Ilja Iwanowitsch kennen; mit einem andern als mit dem Zaren fährt der Kutscher Ilja überhaupt nicht.«

Rostow ließ das Pferd des Burschen, das er bis dahin festgehalten hatte, los und wollte weiterreiten. Ein vorbeigehender verwundeter Offizier redete ihn an.

»Zu wem wollen Sie?« fragte der Offizier. »Zu dem Oberkommandierenden? Der ist von einer Kanonenkugel getötet worden; in die Brust hat sie ihn getroffen, in der Nähe unseres Regiments.«

»Er ist nicht getötet, sondern nur verwundet«, verbesserte ihn ein andrer Offizier.

»Wer denn? Kutusow?« fragte Rostow.

»Nein, Kutusow nicht, sondern ... wie heißt er doch gleich? Na, es ist ja ganz gleich; am Leben sind überhaupt nicht viele geblieben. Reiten Sie nur dorthin, sehen Sie, dort nach dem Dorf; da haben sich alle Kommandeure zusammengefunden«, sagte dieser zweite Offizier, auf das Dorf Hostieradek weisend, und ging vorbei.

Rostow ritt jetzt im Schritt; er wußte nicht, zu wem er jetzt reiten sollte, und was es noch für Zweck habe. Der Kaiser war verwundet, die Schlacht verloren. Es schien unmöglich, daran[541] noch zu zweifeln. Rostow ritt nach der Richtung, die ihm gezeigt worden war, und in der er schon in der Ferne eine Kirche mit Turm sah. Wozu sollte er sich jetzt noch beeilen? Was sollte er jetzt noch zum Kaiser oder zu Kutusow sagen, selbst wenn sie noch am Leben und unverwundet waren?

»Reiten Sie auf diesem Weg hier, Euer Wohlgeboren!« rief ihm ein Soldat zu. »Auf dem da geradeaus werden Sie totgeschossen. Jawohl, totgeschossen!«

»Ach, was redst du da!« sagte ein andrer. »Warum soll er denn hier reiten? Dort ist es näher.«

Rostow überlegte einen Augenblick lang und ritt dann absichtlich auf dem Weg, von dem ihm gesagt war, daß er dort totgeschossen werden würde.

»Jetzt ist schon alles gleich«, dachte er. »Wenn der Kaiser verwundet ist, wozu soll ich mich dann noch in acht nehmen?« Er gelangte jetzt an einen freien Platz, auf welchem eine ganz besonders große Anzahl derjenigen, die sich auf der Flucht aus Pratzen befunden hatten, vom Verderben ereilt worden war. Die Franzosen hatten diesen Platz noch nicht besetzt, und diejenigen Russen, die am Leben geblieben oder nur leicht verwundet waren, hatten ihn schon längst verlassen. Auf dem Feld lagen, wie Getreidemandel auf einem guten Acker, zehn, fünfzehn Tote oder Verwundete auf jedem Hektar Landes. Die Verwundeten krochen zu Gruppen von zweien oder dreien zusammen, und man hörte ihr schreckliches, mitunter, wie es Rostow schien, übertriebenes Schreien und Stöhnen. Rostow setzte sein Pferd in Trab, damit er nicht alle diese leidenden Menschen länger zu sehen brauche, und es wurde ihm beklommen zumute. Er fürchtete nicht für sein Leben, sondern für seine Mannhaftigkeit, deren er jetzt so dringend bedurfte, und die (das fühlte er) bei dem Anblick aller dieser Unglücklichen ihm untreu zu werden drohte.[542]

Die Franzosen hatten aufgehört gehabt, dieses mit Toten und Verwundeten übersäte Feld zu beschießen, weil kein unverletzter Gegner auf ihm mehr vorhanden war; aber als sie den darüber hinreitenden Adjutanten erblickten, richteten sie die Geschütze auf ihn und schossen ein paar Kugeln herüber. Diese furchtbaren, pfeifenden Töne und der Anblick der ihn umgebenden Leichen wirkten zusammen, um in Rostows Seele ein Gefühl des Schreckens und des Mitleides mit sich selbst wachzurufen. Es fiel ihm der letzte Brief seiner Mutter ein. »Wie würde ihr zumute sein«, dachte er, »wenn sie mich jetzt hier auf diesem Feld sähe, wie die Geschütze auf mich gerichtet sind?«

In dem Dorf Hostieradek befanden sich die russischen Truppen, die vom Kampfplatz abgezogen waren, zwar gleichfalls in Verwirrung, aber doch in etwas besserer Ordnung. Die französischen Geschütze reichten noch nicht bis hierher, und der Schall des Schießens klang nur von fern herüber. Hier waren sich alle bereits darüber klar und sprachen es auch aus, daß die Schlacht verloren war. Aber Rostow mochte sich wenden, an wen er wollte, niemand konnte ihm sagen, wo der Kaiser oder wo Kutusow wäre. Die einen behaupteten, das Gerücht von einer Verwundung des Kaisers sei zutreffend; andere dagegen bestritten es und suchten die Entstehung des unwahren Gerüchtes, das sich verbreitet habe, so zu erklären: der Oberhofmarschall Graf Tolstoi, der mit den anderen Herren der kaiserlichen Suite auf das Schlachtfeld hinausgeritten sei, sei tatsächlich in dem Wagen des Kaisers mit blassem, verstörtem Gesicht von dort in größter Eile wieder zurückgefahren. Von einem Offizier hörte Rostow, er habe hinter dem Dorf links einen der höheren Kommandeure gesehen, und Rostow ritt dorthin, nicht weil er noch gehofft hätte, jemand zu finden, sondern nur zur Beruhigung seines eigenen Gewissens. Nachdem er drei Werst geritten war und die letzten russischen[543] Truppen hinter sich gelassen hatte, erblickte er in der Nähe eines Obstgartens, der mit einem Graben umgeben war, zwei Reiter, die nicht weit von dem Graben, diesem zugewendet, hielten. Der eine, mit einem weißen Federbusch auf dem Hut, kam Rostow bekannt vor, ohne daß er eigentlich wußte warum; der andere ihm unbekannte Reiter, der auf einem schönen Fuchs saß (hier glaubte Rostow nun wieder das Pferd zu kennen), ritt an den Graben heran, gab dem Pferd die Sporen, ließ ihm die Zügel und setzte leicht und behend über den Graben. Nur etwas Erde stießen die Hinterhufe des Pferdes von der Böschung hinunter. Dann warf er sein Pferd kurz herum, sprang wieder über den Graben zurück und wandte sich respektvoll an den Reiter mit dem weißen Federbusch; offenbar forderte er ihn auf, dasselbe zu tun. Der erste Reiter, dessen Gestalt Rostow bekannt vorgekommen war und unwillkürlich seine Aufmerksamkeit fesselte, machte mit dem Kopf und der Hand eine verneinende Gebärde, und an dieser Gebärde erkannte Rostow augenblicklich seinen beweinten, angebeteten Kaiser.

»Aber er kann es nicht sein, hier so ganz allein mitten auf diesem menschenleeren Feld!« dachte Rostow. In diesem Augenblick wendete Alexander den Kopf, und Rostow erblickte die geliebten Züge, die sich so tief seinem Gedächtnis eingeprägt hatten. Der Kaiser war blaß; seine Wangen waren eingefallen; die Augen lagen tief in ihren Höhlen; aber um so milder und anziehender erschienen seine Züge. Rostow war glücklich, sich überzeugt zu haben, daß das Gerücht von einer Verwundung des Kaisers unzutreffend war. Er war glücklich, ihn zu sehen. Er wußte: er durfte, ja mußte sich unmittelbar an ihn wenden und an ihn ausrichten, was Fürst Dolgorukow ihm auszurichten befohlen hatte.

Aber wie ein verliebter Jüngling zittert und bangt, wenn der lang ersehnte Augenblick endlich gekommen ist und er »ihr« unter[544] vier Augen gegenübersteht, und wie er nicht wagt, das auszusprechen, was er sich in schlaflosen Nächten zurechtgelegt hat, sondern erschrocken um sich blickt und Hilfe oder eine Möglichkeit des Aufschubs und der Flucht sucht: so wußte auch Rostow jetzt, wo er das erreicht hatte, was sein größter Wunsch auf der Welt gewesen war, nicht, wie er sich dem Kaiser nähern sollte, und es traten ihm tausend Gründe entgegen, weshalb dies unangemessen, unpassend und unmöglich sei.

»Nein! Es würde ja scheinen, als freute ich mich, diese Gelegenheit benutzen zu können, wo er allein und niedergeschlagen ist. Die Anwesenheit jeder fremden Person muß ihm in diesem Augenblick des Kummers unangenehm und peinlich sein; und dann: was könnte ich jetzt zu ihm sagen, wo mir schon bei seinem bloßen Anblick der Herzschlag aussetzt und Lippen und Gaumen trocken werden?« Von all den zahllosen Ansprachen an den Kaiser, die er sich in Gedanken zurechtgelegt hatte, kam ihm jetzt keine einzige ins Gedächtnis. Diese Ansprachen sollten unter ganz anderen Verhältnissen gehalten werden; sie sollten größtenteils in Augenblicken des Sieges und Triumphes gesprochen werden, und ganz besonders, wenn er infolge der empfangenen Wunden auf dem Sterbebett liegen und der Kaiser ihm für sein heldenhaftes Verhalten danken würde; dann wollte er ihm sterbend seine durch die Tat bekräftigte Liebe aussprechen.

»Und dann: wie könnte ich jetzt noch den Kaiser nach seinen Befehlen für den rechten Flügel fragen, wo es doch schon drei Uhr vorbei und die Schlacht verloren ist? Nein, ich darf unter keinen Umständen zu ihm heranreiten. Ich darf ihn in seinen trüben Gedanken nicht stören. Lieber tausendmal sterben als einen zürnenden Blick von ihm erhalten und eine üble Meinung bei ihm erwecken!« sagte sich Rostow und ritt mit Trauer und Verzweiflung[545] im Herzen fort, indem er sich beständig nach dem Kaiser umblickte, der noch immer in derselben unentschlossenen Haltung bei dem Graben zu Pferd saß.

Während Rostow diese Erwägungen anstellte und dann traurigen Herzens von dem Kaiser fortritt, kam zufällig der Hauptmann von Toll zu Pferd in dieselbe Gegend, ritt, sobald er den Kaiser erblickte, geradewegs auf ihn zu, bot ihm seine Dienste an und war ihm behilflich, den Graben zu Fuß zu überschreiten. Der Kaiser, der sich unwohl fühlte und sich zu erholen wünschte, setzte sich unter einen Apfelbaum, und Toll blieb neben ihm stehen. Rostow sah von weitem mit Neid und Reue, wie von Toll lange und eifrig zum Kaiser sprach, und wie der Kaiser, der offenbar in Tränen ausbrach, die Augen mit der Hand bedeckte und dem Hauptmann die Hand drückte.

»Und ich hätte an seiner Stelle sein können!« dachte Rostow bei sich, und kaum imstande, die Tränen des Mitleids mit dem Schicksal des Kaisers zurückzuhalten, ritt er in voller Verzweiflung weiter, ohne zu wissen, wohin er ritt, und was sein Ritt jetzt noch für einen Zweck hatte.

Seine Verzweiflung war um so heftiger, da er fühlte, daß lediglich seine eigene Schwachmütigkeit an seinem Kummer schuld war.

Er hätte zum Kaiser heranreiten können ... er hätte es nicht nur tun können, nein, es wäre sogar seine Pflicht gewesen. Dies war nun die einzige Gelegenheit gewesen, dem Kaiser seine Ergebenheit zu bezeigen, und diese Gelegenheit hatte er nicht benutzt ... »Was habe ich getan?« dachte er. Er wendete sein Pferd und jagte wieder nach der Stelle zurück, wo er den Kaiser gesehen hatte; aber es war niemand mehr jenseits des Grabens. Nur Militärfuhrwerke und Equipagen fuhren auf der Landstraße. Von dem Lenker eines der ersteren erfuhr Rostow, daß Kutusows[546] Stab sich nicht weit davon in dem Dorf befinde, wohin die Fuhrwerke fahren würden. Rostow ritt hinter ihnen her.

Vor ihm ging ein Reitknecht Kutusows, der mehrere mit Decken versehene Pferde führte. Hinter dem Reitknecht fuhr ein Fuhrwerk, und hinter dem Fuhrwerk ging ein alter Leibeigener, mit krummen Beinen, in einem Halbpelz, eine Mütze auf dem Kopf.

»Tit, he, Tit!« sagte der Reitknecht.

»Was willst du?« erwiderte der Alte gedankenlos.

»Tit, Tit, Tit! Hast du Appetit, tit, tit?«

»Schäm dich was, du Dummrian, pfui!« sagte der Alte und spuckte ärgerlich aus. Es verging einige Zeit, in der sie schweigend weiterzogen; dann wiederholte sich derselbe Spaß.


Um fünf Uhr war die Schlacht überall verloren. Mehr als hundert Geschütze der Verbündeten befanden sich bereits in der Gewalt der Franzosen.

Przebyszewski mit seinem Korps hatte die Waffen gestreckt. Die anderen Abteilungen hatten ungefähr die Hälfte ihrer Leute verloren und zogen sich in ungeordneten, buntgemischten Haufen zurück.

Die durcheinandergeratenen Überreste der Truppen Langerons und Dochturows drängten sich auf den Dämmen und an den Ufern der Teiche bei dem Dorf Aujesd.

Nach fünf Uhr war nur noch bei dem Damm von Aujesd eine heftige, unbeantwortete Kanonade der Franzosen zu hören, welche eine aus vielen Geschützen bestehende Batterie auf dem Abhang der Pratzener Höhen aufgestellt hatten und von dort unsere auf dem Rückzug befindlichen Truppen beschossen.

In der Arrieregarde sammelten Dochturow und andere Führer ihre Bataillone und verteidigten sich durch Gewehrfeuer gegen[547] die französische Kavallerie, welche die Unsrigen verfolgte. Die Abenddämmerung senkte sich herab. Auf dem schmalen Damm bei Aujesd, auf welchem so viele Jahre lang friedlich der alte Müller, die Zipfelmütze auf dem Kopf, mit seiner Angel gesessen hatte, während sein Enkel mit aufgestreiften Hemdsärmeln in der Gießkanne unter den silberglänzenden, zappelnden Fischen umhergriff, auf diesem Damm, auf dem so viele Jahre lang friedlich die mährischen Bauern, in blauen Jacken, mit zottigen Mützen auf ihren zweispännigen, mit Weizen beladenen Fuhrwerken zur Mühle gefahren und, mit Mehl bepudert, mit weißer Ladung von der Mühle weggefahren waren: auf diesem schmalen Damm drängten sich jetzt zwischen Wagen und Kanonen, unter den Pferden und zwischen den Rädern eine Menge Menschen, die Gesichter von Todesangst entstellt, erdrückten einander, starben, schritten über Sterbende hinweg und töteten einander, nur um nach wenigen Schritten selbst in gleicher Weise getötet zu werden.

Alle zehn Sekunden fühlte man, wie die Luft zusammengedrückt wurde, und es fiel entweder eine klatschende Kanonenkugel oder eine platzende Granate mitten in diese dichtgedrängte Menschenmasse hinein, tötete einen oder mehrere und bespritzte die Nächststehenden mit Blut. Dolochow, der an der Hand verwundet war, ging mit etwa einem Dutzend Soldaten seiner Kompanie (er war bereits wieder Offizier) zu Fuß; sie und der Regimentskommandeur, der zu Pferd saß, bildeten den gesamten Rest des Regiments. Von dem Gewühl mit fortgezogen, hatten sie sich in den Eingang zum Damm hineingedrängt und mußten jetzt, von allen Seiten gepreßt, stehenbleiben, weil weiter vorn ein Pferd von der Bespannung einer Kanone gefallen war und die Menge sich bemühte, es aus dem Weg zu ziehen. Eine Kanonenkugel tötete jemand hinter ihnen; eine andere schlug vor ihnen ein, so daß Dolochow mit Blut bespritzt[548] wurde. Die Menge drängte wie rasend vorwärts, preßte sich zusammen, rückte einige Schritte vor und mußte dann wieder stehenbleiben.

»Komme ich noch diese hundert Schritte vorwärts, so bin ich wahrscheinlich gerettet; bleibe ich hier noch zwei Minuten stehen, so ist mein Untergang so gut wie sicher«, dachte ein jeder.

Dolochow, der mitten in der Menschenmasse stand, drängte sich, zwei Soldaten umstoßend, an den Rand des Dammes und lief auf das glatte Eis, das den Teich bedeckte.

»Lenkt hierher!« schrie er, auf dem Eis in die Höhe springend, das unter ihm knisterte. »Lenkt hierher!« schrie er der Mannschaft des Geschützes zu. »Es hält ...!«

Das Eis trug ihn; aber es bog sich und knisterte, und es war klar, daß es bald unter ihm brechen werde und nun gar für ein Geschütz oder eine größere Menschenmenge bei weitem nicht stark genug war. Die Leute blickten zu ihm hin und drängten sich an das Ufer, mochten sich aber noch nicht entschließen, auf das Eis zu gehen. Der Regimentskommandeur, der zu Pferd am Eingang zum Damm hielt, hob den Arm in die Höhe und öffnete den Mund, um Dolochow etwas zuzurufen. Plötzlich pfiff eine Kanonenkugel so niedrig über die Menge hin, daß alle sich duckten. Es klatschte etwas in eine feuchte, weiche Masse, und der General mit seinem Pferd sank in eine sich sofort bildende Blutlache nieder. Niemand sah zu ihm hin, niemand kam es in den Sinn, ihn aufzuheben.

»Geht doch aufs Eis! Geht doch übers Eis! Vorwärts! Lenk doch aufs Eis! Hörst du denn nicht! Vorwärts!« riefen auf einmal, nachdem die Kanonenkugel den General getroffen hatte, zahllose Stimmen, ohne daß die Leute selbst wußten, was und warum sie schrien.

Eines der hinten befindlichen Geschütze machte, als es auf den[549] Damm kam, Anstalten, auf das Eis zu lenken. Die Soldaten begannen scharenweise vom Damm auf den zugefrorenen Teich zu laufen. Unter einem der vordersten von ihnen brach das Eis, und er fuhr mit dem einen Bein in das Wasser; bei dem Versuch, wieder zurechtzukommen, sank er bis an den Gürtel ein. Die nächsten Soldaten schraken zurück, und der Vorderreiter des Geschützes hielt sein Pferd an; aber von hinten her wurde immer noch geschrien: »Geht doch aufs Eis! Was steht ihr? Vorwärts! Vorwärts!« Schreckensrufe wegen der Kanonenkugeln ertönten aus der Menge. Die Artilleristen, die das Geschütz umgaben, schwenkten die Arme gegen die Pferde und schlugen sie, damit sie seitwärts abbögen und dann leichter vorwärts kämen. Die Pferde gingen vom Ufer hinunter. Das Eis, das die Fußgänger noch getragen hatte, brach in weiter Ausdehnung ein; etwa vierzig Menschen, die sich an dieser Stelle auf dem Eis befanden, stürzten, um sich zu retten, teils vorwärts, teils zurück, zogen sich gegenseitig ins Wasser und ertranken.

Die Kanonenkugeln kamen fortwährend mit vollständiger Regelmäßigkeit pfeifend herangeflogen und fielen klatschend auf das Eis, ins Wasser und am häufigsten in die Menschenmenge, die den Damm, den Teich und das Ufer bedeckte.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 1, S. 540-550.
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