[415] Dem menschlichen Verstand ist die absolute Stetigkeit einer Bewegung unbegreiflich. Begreiflich werden dem Menschen die Gesetze irgendeiner Bewegung nur dann, wenn er willkürlich herausgegriffene Einzelteile dieser Bewegung betrachtet. Aber gerade aus dieser willkürlichen Teilung der stetigen Bewegung in unterbrochene Einzelteile entspringt der größte Teil der menschlichen Irrtümer.
Bekannt ist ein sogenannter Sophismus der Alten, nach welchem Achilles nie eine vor ihm einherkriechende Schildkröte einholen könne, obwohl Achilles zehnmal so schnell laufe als die Schildkröte: denn während Achilles die Strecke zurücklege, die ihn von der Schildkröte trenne, durchwandere die Schildkröte vor ihm her ein Zehntel dieser Strecke; Achilles durchmesse nun dieses Zehntel, aber die Schildkröte unterdes ein Hundertstel, und so weiter bis ins Unendliche. Diese Aufgabe erschien den Alten als unlösbar. Die Sinnlosigkeit der Folgerung (daß Achilles nie die Schildkröte einholen könne) rührte nur von der willkürlichen Ansetzung gesonderter Einzelteile der Bewegung her, während sich doch die Bewegung sowohl des Achilles als auch der Schildkröte in stetiger Weise vollzog.
Wenn wir immer kleinere und kleinere Einzelteile der Bewegung nehmen, so nähern wir uns der Lösung der Frage nur, erreichen sie aber niemals. Nur wenn wir eine unendlich kleine Größe und eine von ihr aufsteigende geometrische Progression ansetzen und die Summe dieser Progression nehmen, erreichen wir die Lösung der Frage. Ein neuer Zweig der Mathematik, der die Kunst gelehrt hat, mit unendlich kleinen Größen zu operieren, gibt jetzt auch bei anderen, komplizierteren[415] Fragen der Bewegung Antwort auf Fragen, die früher unlösbar schienen.
Dieser neue, den Alten unbekannte Zweig der Mathematik, der bei der Erörterung von Fragen der Bewegung unendlich kleine Größen ansetzt, d.h. solche, bei denen die wichtigste Eigenschaft der Bewegung (absolute Stetigkeit) wiederhergestellt wird, korrigiert eben dadurch jenen unvermeidlichen Fehler, den der menschliche Verstand notwendigerweise begeht, wenn er statt einer stetigen Bewegung gesonderte Einzelteile der Bewegung betrachtet.
Bei der Erforschung der Gesetze der historischen Bewegung zeigt sich völlig der gleiche Vorgang.
Die aus einer unzähligen Menge menschlicher Willensäußerungen resultierende Bewegung der Menschheit vollzieht sich in stetiger Folge.
Die Gesetze dieser Bewegung zu verstehen ist das Ziel der Geschichtsforschung. Aber um die Gesetze der stetigen Bewegung der Summe aller menschlichen Willensäußerungen zu begreifen, setzt der menschliche Verstand willkürliche, gesonderte Einzelteile an. Dabei bedient sich die Geschichtsforschung zweier Methoden. Die eine Methode besteht darin, willkürlich eine Reihe stetiger Ereignisse herauszugreifen und diese Reihe von den andern gesondert zu betrachten, obwohl es doch den Anfang irgendeines Ereignisses nicht gibt und nicht geben kann, sondern immer ein Ereignis in stetiger Folge sich aus dem andern entwickelt. Die zweite Methode besteht darin, die Handlungen eines einzelnen Menschen, eines Herrschers, eines Feldherrn, als die Summe der Willensäußerungen aller Menschen zu betrachten, obwohl doch diese Summe menschlicher Willensäußerungen niemals in der Tätigkeit einer einzelnen historischen Person zum Ausdruck kommt.[416]
Die Geschichtswissenschaft macht in ihrer Weiterentwicklung beständig immer kleinere und kleinere Einzelteile zum Gegenstand der Betrachtung und bemüht sich, auf diesem Weg der Wahrheit näherzukommen. Aber mögen die Einzelteile, die die Geschichtswissenschaft annimmt, auch noch so klein sein, wir fühlen doch, daß die Ansetzung eines von einem andern gesonderten Einzelteiles, nämlich die Ansetzung des Anfanges irgendeiner Erscheinung und die Annahme, daß die Willensäußerungen aller Menschen in den Taten einer einzelnen historischen Person zum Ausdruck kommen, von vornherein unrichtig ist.
Jede Schlußfolgerung der Geschichte zerfallt, ohne die geringste Anstrengung von seiten der Kritik, wie ein Staubgebilde, ohne etwas Bleibendes zu hinterlassen, einfach dadurch, daß die Kritik einen größeren oder kleineren gesonderten Einzelteil zum Gegenstand der Prüfung macht; und dazu hat sie stets ein Recht, da der herausgegriffene historische Einzelteil stets auf Willkür beruht.
Nur wenn wir einen unendlich kleinen Einzelteil (das Differential der Geschichte, d.h. die gleichartigen Bestrebungen der Menschen) zum Gegenstand der Betrachtung machen und uns auf die Integralrechnung verstehen (die Kunst, die Summe dieser unendlich kleinen Einzelteile zu berechnen), nur dann können wir hoffen, zu einem Verständnis der Gesetze der Geschichte zu gelangen.
Die ersten fünfzehn Jahre des neunzehnten Jahrhunderts weisen in Europa eine ungewöhnliche Bewegung von Millionen von Menschen auf. Die Menschen verlassen ihre gewohnten Beschäftigungen, streben von einem Ende Europas nach dem andern, berauben und töten sich wechselseitig, triumphieren und verzweifeln; der ganze Gang des Lebens ändert sich für einige Jahre und bietet das Bild einer verstärkten Bewegung, die zuerst[417] wächst und dann wieder schwächer wird. Da fragt sich der menschliche Geist: welches war die Ursache dieser Bewegung, oder nach welchen Gesetzen hat sich diese Bewegung vollzogen?
Bei der Beantwortung dieser Frage tragen uns die Geschichtsschreiber die Reden und Taten von ein paar Dutzend Leuten in einem Gebäude von Paris vor und bezeichnen diese Reden und Taten mit dem Wort Revolution; dann geben sie uns eine ausführliche Lebensbeschreibung Napoleons und einiger Menschen, die teils auf seiner Seite standen, teils ihm feindlich gesinnt waren, erzählen uns von der Einwirkung dieser Männer aufeinander und sagen: daraus ist diese Bewegung entstanden, und das sind ihre Gesetze.
Aber der menschliche Verstand weigert sich nicht nur, diese Erklärung für richtig zu halten, sondern sagt geradezu, daß das bei dieser Erklärung angewandte Verfahren falsch ist, weil bei dieser Erklärung eine schwächere Erscheinung als Ursache einer stärkeren aufgefaßt wird. Vielmehr war es die Summe der menschlichen Willensäußerungen, die sowohl die Revolution als auch den Kaiser Napoleon hervorgebracht hat, und nur die Summe dieser Willensäußerungen war es, die jene Erscheinungen trug und dann vernichtete.
»Aber«, sagt die Geschichtsforschung, »jedesmal, wenn Eroberungen stattgefunden haben, hat es Eroberer gegeben; und jedesmal, wenn sich Staatsumwälzungen zugetragen haben, hat es große Männer gegeben.« Darauf erwidert der menschliche Verstand: Gewiß, jedesmal, wenn Eroberer auftraten, hat es auch Kriege gegeben; aber das beweist nicht, daß die Eroberer die Ursache der Kriege gewesen wären und daß es möglich wäre, die Gesetze des Krieges in der persönlichen Tätigkeit eines einzelnen Menschen zu finden. Jedesmal, wenn ich bei einem Blick auf meine Uhr wahrnehme, daß der Zeiger sich der Zehn nähert,[418] höre ich, daß in der nahen Kirche die Glocken zu läuten anfangen; aber darum bin ich noch nicht berechtigt zu schließen, daß die Stellung des Zeigers die Ursache der Bewegung der Glocken ist.
Jedesmal, wenn ich die Bewegung der Lokomotive sehe, höre ich den Ton der Dampfpfeife und sehe, wie sich das Ventil öffnet und die Räder sich bewegen; aber dies gibt mir noch kein Recht zu folgern, daß das Pfeifen und die Bewegung der Räder die Ursachen der Bewegung der Lokomotive wären.
Die Bauern sagen, im Spätfrühling wehe deswegen ein kalter Wind, weil dann die Knospen der Eiche aufbrechen, und tatsächlich weht in jedem Frühling ein kalter Wind zu der Zeit, wo die Eiche zu blühen beginnt. Aber obgleich mir die Ursache des beim Aufblühen der Eiche wehenden kalten Windes unbekannt ist, kann ich doch nicht den Bauern darin zustimmen, daß die Ursache des kalten Windes in dem Aufbrechen der Eichenknospen zu suchen sein sollte; denn die Kraft des Windes liegt außerhalb der Wirkungssphäre der Knospen. Ich sehe nur ein Zusammentreffen von Umständen, wie es bei jeder Erscheinung des Lebens vorkommt, und sehe, daß, mag ich den Zeiger der Uhr, das Ventil und die Räder der Lokomotive und die Knospen der Eiche auch noch so genau beobachten, ich dadurch die Ursache des Glockengeläutes und der Bewegung der Lokomotive und des Frühlingswindes nicht erkennen werde. Zu diesem Zweck muß ich vielmehr meinen Standpunkt als Beobachter vollständig ändern und die Gesetze für die Bewegung des Dampfes, der Glocke und des Windes studieren. Ebendasselbe muß auch die Geschichtsforschung tun. Versuche nach dieser Richtung hin sind bereits unternommen.
Um die Gesetze der Geschichte zu studieren, müssen wir in dem Gegenstand der Betrachtung einen vollständigen Wechsel vornehmen,[419] müssen die Herrscher, Minister und Generale beiseite lassen und die gleichartigen, unendlich kleinen Triebkräfte untersuchen, durch welche die Massen sich leiten lassen. Niemand kann sagen, bis zu welchem Grade es dem Menschen beschieden ist, auf diesem Weg zu einem Verständnis der Gesetze der Geschichte zu gelangen; aber soviel ist klar, daß nur auf diesem Weg die Möglichkeit liegt, die Gesetze der Geschichte zu erfassen, und daß auf diesem Weg der menschliche Verstand noch nicht den millionsten Teil der Anstrengungen aufgewandt hat, denen sich die Historiker unterzogen haben, um uns die Taten von allerlei Herrschern, Feldherren und Ministern zu erzählen und uns ihre eigenen Gedanken über diese Taten darzulegen.
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