II

[420] Die Streitkräfte von zwölf verschiedensprachigen Völkern Europas brechen in Rußland ein. Das russische Heer und die Einwohnerschaft weichen unter Vermeidung eines Zusammenstoßes bis Smolensk zurück, und von Smolensk bis Borodino. Das französische Heer eilt mit beständig wachsendem Drang nach Moskau, dem Ziel seiner Bewegung. Sein Drang nimmt mit der Annäherung an das Ziel zu, so wie die Schnelligkeit eines fallenden Körpers wächst, je mehr er sich der Erde nähert. Hinter sich hat es mehrere tausend Werst eines hungrigen, feindlichen Landes, vor sich nur noch gegen hundert Werst, die es von seinem Ziel trennen. Das fühlt jeder Soldat des napoleonischen Heeres, und das Invasionsheer bewegt sich ganz von selbst, kraft des ihm innewohnenden Dranges, weiter.

In dem russischen Heer entbrennt, je mehr es sich zurückzieht, der Ingrimm gegen den Feind immer heftiger; infolge des Zurückweichens konzentriert es sich und wächst. Bei Borodino findet[420] der Zusammenstoß statt. Weder das eine noch das andere Heer wird vernichtet; aber das russische Heer weicht unmittelbar nach dem Zusammenstoß mit derselben Notwendigkeit zurück, mit der eine Kugel nach dem Zusammenprallen mit einer anderen zurückrollt, die ihr mit größerer Wucht entgegengekommen ist; und mit derselben Notwendigkeit (wiewohl sie bei dem Zusammenstoß viel von ihrer Kraft verloren hat) rollt die eilig laufende andere Kugel, das Invasionsheer, noch eine Strecke weiter.

Die Russen ziehen sich hundertundzwanzig Werst zurück, bis hinter Moskau; die Franzosen erreichen Moskau und machen dort halt. In den darauffolgenden fünf Wochen findet kein Kampf statt. Die Franzosen rühren sich nicht. Gleich einem tödlich verwundeten Tier, das verblutend seine Wunden leckt, bleiben sie fünf Wochen lang in Moskau, ohne etwas zu unternehmen; dann fliehen sie plötzlich, ohne daß irgendeine neue Ursache hinzugekommen wäre, zurück. Sie schlagen die Kalugaer Heerstraße ein; selbst nach einem Sieg, da ja wieder bei Malo-Jaroslawez das Schlachtfeld in ihrem Besitz geblieben war, lassen sie sich auf keinen ernsten Kampf mehr ein, sondern fliehen immer schneller nach Smolensk zurück, über Smolensk hinaus, über die Beresina, über Wilna hinaus, und immer weiter.

Am Abend des 26. August waren sowohl Kutusow als auch die ganze russische Armee überzeugt, daß die Schlacht bei Borodino von den Russen gewonnen sei. Das schrieb Kutusow auch an den Kaiser. An die Truppen ließ er den Befehl ergehen, sie sollten sich zu einem neuen Kampf vorbereiten, um den Feind völlig niederzuschlagen, nicht weil er jemand hätte täuschen wollen, sondern weil er, wie jeder andere Russe, der an der Schlacht teilgenommen hatte, des festen Glaubens war, daß der Feind besiegt sei.

Aber noch an demselben Abend und dann am folgenden Tag[421] kam eine Nachricht nach der andern von den unerhörten Verlusten, von dem Verlust des halben Heeres; und eine neue Schlacht erschien als physisch unmöglich.

Es war einfach unmöglich, eine Schlacht zu liefern, ehe nicht neue Rekognoszierungen angestellt, die Verwundeten aufgesammelt, die Munition ergänzt, die Toten gezählt, neue Kommandeure an Stelle der gefallenen ernannt waren und die Soldaten sich sattgegessen und ausgeschlafen hatten. Dazu rückte gleich nach der Schlacht, schon am andern Morgen, das französische Heer kraft jenes Dranges, der jetzt noch sozusagen in umgekehrter Proportion der Quadrate der Entfernungen gewachsen war, wie von selbst auf das russische Heer los. Kutusow hatte beabsichtigt, am andern Tag anzugreifen, und dasselbe wünschte die ganze Armee. Aber um anzugreifen, dazu genügt nicht der Wunsch, es zu tun; es muß auch die Möglichkeit, es zu tun, vorhanden sein, und an dieser Möglichkeit fehlte es. Es war unbedingt notwendig, einen Tagesmarsch zurückzugehen, dann ebenso not wendig, einen zweiten zurückzugehen und einen dritten, und als schließlich am 1. September die Armee sich Moskau näherte, da verlangte, trotzdem das Gefühl in den Reihen der Truppen sich dagegen sträubte, doch die Macht der Verhältnisse, daß die Truppen auch noch hinter Moskau zurückgingen. Und sie gingen noch einen, den letzten, Tagesmarsch zurück und überließen Moskau dem Feind.

Leute, die sich gewöhnt haben zu denken, daß die Kriegs- und Schlachtpläne von den Feldherren in derselben Weise entworfen werden, in der ein jeder von uns, in seinem Arbeitszimmer bei der Landkarte sitzend, sich die Anordnungen zurechtlegt, die er in dieser oder jener Schlacht getroffen haben würde, diese Leute mögen nun mancherlei Fragen aufwerfen: warum Kutusow bei dem Rückzug nicht so und so verfahren sei, warum er nicht vor[422] Fili eine günstige Position besetzt habe, warum er nicht gleich von vornherein, Moskau beiseite lassend, auf die Kalugaer Heerstraße zurückgegangen sei, usw. Wer so zu denken gewohnt ist, kennt nicht oder vergißt die unvermeidlichen Umstände und Verhältnisse, unter denen die Tätigkeit eines jeden Oberkommandierenden stets vor sich geht. Die Tätigkeit des Feldherrn entspricht nicht im entferntesten der Vorstellung, die wir uns von ihr machen, wenn wir bequem und ungestört in unserm Arbeitszimmer sitzen und den Gang eines Feldzuges nachprüfen, wobei wir dann die Truppenzahl auf der einen und auf der andern Seite kennen und mit der Örtlichkeit vertraut sind und unseren Kombinationen einen bestimmten Moment als Ausgangspunkt zugrunde legen. Der Oberkommandierende befindet sich nie in jenen den Anfang eines Ereignisses bildenden Umständen und Verhältnissen, von denen aus wir stets das Ereignis betrachten. Er steht immer mitten in einer sich bewegenden Reihe von Ereignissen, dergestalt, daß er niemals, in keinem Augenblick, imstande ist, die volle Tragweite eines sich vollziehenden Ereignisses zu ermessen. Das Ereignis wächst unmerklich, von einem Augenblick zum andern, zu seiner Bedeutung heran, und in jedem Augenblick dieses konsequenten, stetigen Heranwachsens des Ereignisses befindet sich der Oberkommandierende im Mittelpunkt eines höchst komplizierten Durcheinanderwirkens von Intrigen, Sorgen, Abhängigkeit, Amtsgewalt, Projekten, Ratschlägen, Drohungen und Täuschungen und sieht sich fortwährend genötigt, auf eine zahllose Menge ihm vorgelegter, einander stets widersprechender Fragen Antwort zu erteilen.

Gelehrte Militärschriftsteller sagen uns mit dem größten Ernst, Kutusow habe schon lange vor Fili die Truppen auf die Kalugaer Straße führen müssen; es habe ihm sogar jemand ein solches Projekt vorgelegt. Aber dem Oberkommandierenden liegen, besonders[423] in schwieriger Lage, nicht ein Projekt, sondern immer Dutzende von Projekten gleichzeitig vor. Und jedes dieser Projekte, die sich alle auf die Regeln der Strategie und Taktik gründen, widerspricht den andern. Nun könnte man meinen, die Aufgabe des Oberkommandierenden bestehe nur darin, aus diesen Projekten eines auszuwählen. Aber auch das zu tun ist er nicht imstande. Die Ereignisse und die Zeit warten nicht. Nehmen wir an, es sei ihm vorgeschlagen worden, am 28. nach der Kalugaer Straße hinüberzugehen; aber in diesem Augenblick kommt ein Adjutant von Miloradowitsch herangesprengt und fragt, ob er jetzt sogleich mit den Franzosen kämpfen oder zurückgehen soll. Es muß ihm sofort, in diesem Augenblick, ein Befehl erteilt werden. Der Befehl zum Rückzug aber macht es uns unmöglich, die Schwenkung nach der Kalugaer Straße auszuführen. Und gleich nach dem Adjutanten fragt der Intendant an, wohin der Proviant geschafft werden soll, und der Chef des Lazarettwesens, wohin er die Verwundeten bringen lassen soll; und ein Kurier aus Petersburg bringt einen Brief des Kaisers, der von einer Preisgabe Moskaus nichts wissen will; und der Rivale des Oberkommandierenden, der dessen Stellung zu untergraben sucht (solche Rivalen gibt es immer, und nicht einen, sondern mehrere), bringt ein neues Projekt in Vorschlag, das zu dem Plan, nach der Kalugaer Straße hinüberzugehen, in diametralem Gegensatz steht; und die erschöpften Kräfte des Oberkommandierenden selbst verlangen Schlaf und Stärkung; und ein bei der Verteilung von Anerkennungen übergangener angesehener General kommt, um sich zu beschweren; und die Einwohner bitten um Schutz; und ein zur Besichtigung des Terrains ausgesandter Offizier kommt zurück und meldet das gerade Gegenteil von dem, was ein vor ihm abgeschickter Offizier berichtet hat; und ein Kundschafter, ein Gefangener und ein General, der eine Rekognoszierung[424] vorgenommen hat, schildern die Stellung der feindlichen Armee alle drei in verschiedener Weise. Leute, die diese unvermeidlichen Begleitumstände der Tätigkeit eines jeden Oberkommandierenden nicht kennen oder nicht an sie denken, halten uns z.B. die Stellung unserer Truppen bei Fili vor und setzen dabei voraus, daß der Oberkommandierende am 1. September in der Lage gewesen sei, die Frage der Preisgabe oder Verteidigung Moskaus völlig frei zu entscheiden, während doch in Wirklichkeit bei der Stellung der russischen Armee fünf Werst von Moskau diese Frage überhaupt nicht mehr existierte. Wann war denn eigentlich diese Frage entschieden worden? Schon an der Drissa und bei Smolensk und am fühlbarsten am 24. bei Schewardino und am 26. bei Borodino und an jedem Tag, in jeder Stunde und Minute des Rückzuges von Borodino nach Fili.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 420-425.
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