XI

[464] Mitten in diesem neuen Gespräch wurde Pierre zum Oberkommandierenden gerufen.

Pierre trat in das Arbeitszimmer des Grafen Rastoptschin. Dieser rieb sich gerade die finster gerunzelte Stirn und die Augen mit der Hand. Ein Mann von kleinem Wuchs redete mit ihm, verstummte aber bei Pierres Eintritt und ging hinaus.

»Ah, guten Tag, Sie großer Krieger!« sagte Rastoptschin, sobald dieser Mann gegangen war. »Wir haben von Ihren Heldentaten[464] gehört. Aber darum handelt es sich jetzt nicht. Unter uns, mein Lieber: sind Sie Freimaurer?« fragte Graf Rastoptschin in strengem Ton, als ob das etwas Schlimmes wäre, er aber trotzdem beabsichtige, Gnade walten zu lassen. Pierre schwieg. »Mein Lieber, ich bin gut unterrichtet; aber ich weiß, daß zwischen Freimaurern und Freimaurern ein Unterschied ist, und ich hoffe, daß Sie nicht zu denen gehören, die unter dem Vorwand, sie wollten die Menschheit retten, es auf das Verderben Rußlands absehen.«

»Ja, ich bin Freimaurer«, antwortete Pierre.

»Nun also, sehen Sie wohl, mein Lieber. Ich meine, es wird Ihnen nicht unbekannt geblieben sein, daß die Herren Speranzki und Magnizki dahin geschickt sind, wo sie hingehören; dasselbe ist auch mit Herrn Klutscharew geschehen und mit manchen andern, die unter dem Vorwand, sie wollten den Tempel Salomonis wieder aufbauen, den Tempel ihres eigenen Vaterlandes zu zerstören suchten. Sie können sich wohl denken, daß ich zu diesem Verfahren meine Gründe habe und daß ich den hiesigen Postdirektor nicht hätte in die Verbannung schicken können, wenn er nicht ein gefährlicher Mensch wäre. Jetzt ist zu meiner Kenntnis gelangt, daß Sie ihm zur Abreise aus der Stadt Ihren Wagen geschickt und sogar Papiere von ihm zur Aufbewahrung übernommen haben. Ich bin Ihnen wohlgesinnt und wünsche Ihnen nichts Schlechtes, und da Sie nur halb so alt sind wie ich, so möchte ich Ihnen den väterlichen Rat geben, allen Verkehr mit solchen Leuten abzubrechen und selbst sobald wie möglich diese Stadt zu verlassen.«

»Aber worin besteht denn Klutscharews Verschulden, Graf?« fragte Pierre.

»Es genügt, wenn ich das weiß, und es steht Ihnen nicht zu, mich danach zu fragen«, schrie Rastoptschin.

»Wenn er beschuldigt wird, Proklamationen Napoleons verbreitet[465] zu haben, so ist das doch noch nicht bewiesen«, sagte Pierre, ohne Rastoptschin anzublicken, »und was Wereschtschagin anlangt ...«

»Das ist eben der Punkt!« unterbrach ihn plötzlich Rastoptschin mit finsterer Miene und mit noch lauterer Stimme als vorher. »Wereschtschagin ist ein Hochverräter und Aufwiegler, der seine verdiente Strafe erhalten wird«, sagte Rastoptschin mit jener ingrimmigen Wut, welche manche Leute bei der Erinnerung an erlittene Kränkungen zu überkommen pflegt. »Aber ich habe Sie nicht rufen lassen, um Ihr Urteil über meine Handlungen zu vernehmen, sondern um Ihnen einen Rat zu geben, oder einen Befehl, wenn Sie es so nennen wollen. Ich ersuche Sie, den Verkehr mit solchen Herren wie Klutscharew abzubrechen und die Stadt zu verlassen. Ich werde den Leuten solche Torheiten schon austreiben, mag es sein, wer da will.« Aber hier mochte es ihm doch zum Bewußtsein kommen, daß er Besuchow, dem noch kein Verschulden nachgewiesen war, zu heftig angeschrien hatte, und so fügte er denn, indem er freundlich Pierres Hand ergriff, hinzu: »Wir stehen am Vorabend eines Unglückes für unsere Stadt, und ich habe keine Zeit dazu, allen denen, die mit mir zu tun haben, Liebenswürdigkeiten zu sagen. Der Kopf ist mir manchmal ganz wirbelig. Nun also, mein Lieber, was werden Sie tun, Sie für Ihre eigene Person?«

»Gar nichts«, antwortete Pierre; er hob immer noch nicht die Augen in die Höhe und änderte auch seine nachdenkliche Miene nicht.

Der Graf zog ein finsteres Gesicht.

»Einen freundschaftlichen Rat möchte ich Ihnen geben, mein Lieber. Machen Sie, daß Sie möglichst schnell von hier wegkommen; das ist alles, was ich Ihnen zu sagen habe. Es wird Ihnen nützlich sein, wenn Sie meine Worte beherzigen. Leben[466] Sie wohl, mein Lieber. Ach ja«, rief er Pierre noch nach, als dieser schon in der Tür war, »ist das wahr, daß die Gräfin in die Klauen der frommen Männer von der Gesellschaft Jesu geraten ist?«

Pierre gab keine Antwort; mit so grimmiger, zorniger Miene, wie man sie noch nie an ihm gesehen hatte, verließ er Rastoptschin.

Als er nach Hause kam, senkte sich schon die Abenddämmerung herab. Etwa acht Personen verschiedenster Art kamen an diesem Abend zu ihm, um mit ihm zu sprechen: der Sekretär eines Komitees, der Oberst seines Regiments, der Oberadministrator, der Haushofmeister und mehrere Bittsteller. Alle trugen ihm Anliegen materieller Art vor, und er sollte darüber seine Entscheidung geben. Pierre verstand nichts von dem, was sie sagten, interessierte sich für diese Dinge auch gar nicht und gab auf alle Fragen nur solche Antworten, durch die er am ehesten diese Leute loszuwerden hoffen konnte. Als sie ihn endlich alleingelassen hatten, öffnete er den Brief seiner Frau und las ihn.

»Sie, die Soldaten auf der Batterie ... Fürst Andrei gefallen ... Der alte Mann ... Die Einfalt ist der Gehorsam gegen Gott ... Wir müssen leiden ... Das wahre Wesen aller Dinge ... Wir müssen alles umspannen ... Meine Frau will sich verheiraten ... Man muß vergessen und verstehen ...«, so wirbelten die Gedanken in seinem Kopf umher. Er trat an sein Bett, warf sich unausgekleidet darauf und schlief sofort ein.

Als er am andern Morgen aufwachte, kam der Haushofmeister, um ihm zu melden, es sei, vom Grafen Rastoptschin expreß geschickt, ein Polizeibeamter dagewesen und habe sich erkundigt, ob Graf Besuchow schon abgereist sei oder bald abreisen werde.

Ungefähr zehn Personen, die ihn in allerlei geschäftlichen Angelegenheiten zu sprechen wünschten, warteten auf ihn im Salon. Pierre kleidete sich eilig an; aber statt sich zu den Wartenden zu[467] begeben, ging er nach der Hintertür und von dort durch das Tor hinaus.

Von diesem Augenblick an bekam ihn bis zum Ende der Zerstörung Moskaus trotz aller Nachforschungen niemand von seinen Hausgenossen mehr zu sehen, und niemand wußte, wo er geblieben war.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 464-468.
Lizenz:
Kategorien: