XII

[468] Die Familie Rostow blieb bis zum 1. September, also bis zum Tag vor dem Einrücken des Feindes in Moskau, in der Stadt.

Nachdem Petja in das Obolenskische Kosakenregiment eingetreten und nach Bjelaja Zerkow abgegangen war, wo dieses Regiment formiert wurde, lebte die Gräfin in einer beständigen Angst. Der Gedanke, daß ihre beiden Söhne sich im Krieg befänden und sich beide aus dem Schutz ihrer mütterlichen Flügel entfernt hätten und heute oder morgen einer von ihnen oder vielleicht sogar beide zugleich (wie die drei Söhne einer ihr befreundeten Dame) getötet werden könnten, dieser Gedanke drängte sich ihr zum erstenmal jetzt in diesem Sommer mit grausamer Klarheit auf. Sie versuchte Nikolai loszubekommen, damit er zu ihr zurückkehre; sie wollte selbst zu Petja hinreisen und ihn bei irgendeinem Regiment in Petersburg unterbringen; aber das eine wie das andere stellte sich als unmöglich heraus. Petja konnte in keiner andern Weise zurückkehren, als entweder mit seinem Regiment oder durch Versetzung in ein anderes aktives Regiment. Nikolai befand sich irgendwo bei der Armee und hatte nach seinem letzten Brief, in welchem er eingehend seine Begegnung mit Prinzessin Marja geschildert hatte, nichts mehr von sich hören lassen. Die Gräfin schlief keine Nacht ordentlich, und wenn sie wirklich einschlief, so träumte ihr, ihre Söhne[468] seien gefallen. Nach vielen Beratungen und Unterhandlungen hatte der Graf endlich ein Mittel ausfindig gemacht, um die Gräfin zu beruhigen. Er veranlaßte, daß Petja aus dem Obolenskischen Regiment in das Regiment Besuchows versetzt wurde, das in der Nähe von Moskau formiert wurde. Obgleich Petja im Militärdienst blieb, hatte infolge dieser Versetzung die Gräfin doch den Trost, wenigstens den einen Sohn wieder unter ihren Flügeln zu sehen, und hoffte, es nun mit ihrem Petja so einrichten zu können, daß sie ihn nicht mehr von sich zu lassen brauchte und er immer nur in solchen dienstlichen Stellungen verwendet würde, wo er nie in eine Schlacht hineingeraten könnte. Solange Nikolai allein in Gefahr gewesen war, hatte die Gräfin die Empfindung gehabt (und sie hatte sich sogar deswegen ernstlich gescholten), daß ihr Ältester ihr lieber sei als alle ihre übrigen Kinder; aber nun ihr Jüngster, der Wildfang, der immer schlecht gelernt und alles im Haus zerbrochen und die Geduld aller auf eine harte Probe gestellt hatte, Petja, dieser Petja mit seiner Stupsnase, seinen munteren, schwarzen Augen, seiner frischen Gesichtsfarbe und dem erst ganz schwach hervorsprießenden Flaum auf den Backen, nun ihr Petja unter diese großen, schrecklichen, grausamen Männer gegangen war, die dort solche Schlachten lieferten und daran eine Art von Vergnügen fanden: jetzt schien es der Mutter, als fühle sie für ihn mehr, weit mehr Liebe als für all ihre andern Kinder. Je näher der Zeitpunkt heranrückte, zu welchem der sehnlich erwartete Petja nach Moskau zurückkehren sollte, um so mehr stieg die Unruhe der Gräfin. Sie dachte schon, all ihr Warten auf dieses Glück sei vergeblich. Nicht nur Sonjas Anwesenheit, sondern auch die ihrer geliebten Natascha, ja sogar die ihres Mannes machte die Gräfin nervös. »Was kümmere ich mich um sie alle; ich will niemand haben als meinen Petja«, dachte sie.[469]

In den letzten Tagen des August erhielten Rostows einen zweiten Brief von Nikolai. Er schrieb aus dem Gouvernement Woronesch, wohin er geschickt war, um Pferde zu holen. Aber dieser Brief beruhigte die Gräfin nicht. Jetzt, wo sie den einen Sohn außer Gefahr wußte, ängstigte sie sich noch mehr um Petja.

Obgleich fast alle Bekannten der Familie Rostow schon vom 20. August an einer nach dem andern Moskau verlassen und alle der Gräfin zugeredet hatten, so schnell wie möglich wegzureisen, wollte sie doch von Abreise nichts hören, solange nicht ihr Kleinod, ihr vergötterter Petja, zurückgekehrt wäre. Am 28. August kam Petja an. Die krankhaft leidenschaftliche Zärtlichkeit, mit der die Mutter ihn behandelte, behagte dem sechzehnjährigen Offizier nicht. Obwohl die Mutter ihre Absicht, ihn nun nicht wieder aus dem Schutz ihrer Flügel wegzulassen, vor ihm verbarg, durchschaute Petja doch ihr Vorhaben, und da er instinktiv befürchtete, im Verkehr mit der Mutter selbst weichlich und sozusagen ein altes Weib zu werden (so dachte er darüber), so benahm er sich gegen sie kühl, mied sie und hielt sich während seines Aufenthalts in Moskau ausschließlich an die Gesellschaft Nataschas, für die er von jeher eine ganz besondere, beinahe verliebte, brüderliche Zärtlichkeit gehegt hatte.

Infolge der gewöhnlichen Lässigkeit des Grafen war am 28. August noch nichts zur Abreise in Ordnung, und die Fuhrwerke, die sie von den im Rjasanschen und bei Moskau gelegenen Gütern zum Transport des gesamten Hausrates erwarteten, kamen erst am 30. an.

In der Zeit vom 28. bis zum 31. August war ganz Moskau in geschäftiger Tätigkeit und unruhiger Bewegung. Täglich wurden Tausende von Verwundeten aus der Schlacht bei Borodino durch das Dorogomilowskaja-Tor hereingebracht und dann in der[470] Stadt verteilt, und Tausende von Fuhrwerken mit Einwohnern und ihrer Habe fuhren aus den andern Toren hinaus. Trotz der Flugblätter Rastoptschins, und zwar entweder unabhängig von ihnen oder gerade infolge derselben, wurden die widersprechendsten und seltsamsten Neuigkeiten in der Stadt ausgestreut. Der eine sagte, es sei verboten worden, daß irgend jemand abreise; ein anderer im Gegenteil erzählte, alle Heiligtümer seien aus den Kirchen entfernt worden und alle Einwohner sollten mit Gewalt weggeschickt werden; ein anderer sagte, es habe nach Borodino noch eine Schlacht stattgefunden, in der die Franzosen geschlagen seien, ein anderer dagegen, das ganze russische Heer sei vernichtet; wieder jemand sprach von der Moskauer Landwehr, die, mit der Geistlichkeit voran, auf die Drei Berge ziehen werde; ein anderer erzählte als Heimlichkeit, daß dem Metropoliten Awgustin verboten worden sei, die Stadt zu verlassen, und daß man eine Anzahl von Verrätern verhaftet habe, und daß die Bauern revoltierten und die Wegfahrenden ausplünderten, usw., usw. Das waren ja freilich nur Redereien; aber tatsächlich hatten sowohl die Wegfahrenden als auch die Zurückbleibenden (wiewohl der Kriegsrat in Fili, in dem die Preisgabe Moskaus beschlossen wurde, noch nicht stattgefunden hatte) sämtlich die Empfindung, wenn sie sie auch nicht aussprachen, daß Moskau jedenfalls dem Feind werde überlassen werden und daß man so schnell wie möglich sich selbst davonmachen und seine Habe retten müsse. Sie fühlten, daß alles auf einmal zusammenstürzen und anders werden würde; aber bis zum 1. September hatte sich noch nichts geändert. Wie der Verbrecher, der zum Tode geführt wird, weiß, daß er in ganz kurzer Zeit sterben wird, aber doch noch die Dinge um sich herum betrachtet und die schief sitzende Mütze zurechtschiebt, so setzte auch Moskau unwillkürlich seine gewohnte Lebensweise fort, obgleich es wußte, daß die Zeit des[471] Unterganges nahe sei, wo alle die Lebensverhältnisse, an die man sich gewöhnt hatte, zerstört werden würden.

Während dieser drei Tage, die der Besetzung Moskaus vorhergingen, befand sich die ganze Familie Rostow in unruhiger Tätigkeit von mancherlei Art. Das Haupt der Familie, Graf Ilja Andrejewitsch, fuhr fortwährend in der Stadt umher und sammelte von überallher die umlaufenden Gerüchte; zu Hause erteilte er nur ganz allgemeine, oberflächliche, hastige Weisungen über die Vorbereitungen zur Abreise.

Die Gräfin sah beim Einpacken der Sachen zu, war mit allem unzufrieden und ging hinter Petja her, der ihr beständig auswich; sie war ordentlich eifersüchtig auf Natascha, mit der er die ganze Zeit über zusammen war. Sonja war die einzige, die praktisch tätig war und für das Einpacken der Sachen sorgte. Aber Sonja war in dieser ganzen letzten Zeit recht traurig und schweigsam. Nikolais Brief, in welchem er von der Prinzessin Marja sprach, hatte die Gräfin zu Kombinationen freudiger Art angeregt, die sie denn auch in Sonjas Gegenwart ausgesprochen hatte: sie hatte geäußert, in dem Zusammentreffen der Prinzessin Marja mit Nikolai sehe sie eine Fügung Gottes.

»Damals«, sagte die Gräfin, »als Bolkonski Nataschas Bräutigam war, bin ich nie so recht froh gewesen; aber daß unser lieber Nikolai die Prinzessin heiraten möchte, das habe ich immer gewünscht, und ich habe eine Ahnung, daß es so kommen wird. Ach, wie gut wäre das, wie gut!«

Sonja sagte sich selbst, daß dies die Wahrheit sei und daß eine Heirat Nikolais mit einem reichen Mädchen für die Familie Rostow die einzige Möglichkeit bilde, ihre Verhältnisse wieder zu ordnen, und daß die Prinzessin eine solche gute Partie sei. Aber für sie selbst war das tief schmerzlich. Trotz ihres Kummers jedoch, oder vielleicht gerade infolge ihres Kummers, nahm sie die schwere[472] Aufgabe auf sich, beim Zusammensuchen und Einpacken der Sachen alles Nötige anzuordnen, und war ganze Tage lang ununterbrochen damit beschäftigt. Und wenn der Graf und die Gräfin irgendeinen Befehl erteilen wollten, so wandten sie sich damit an Sonja.

Petja und Natascha hingegen waren ihren Eltern nicht nur nicht behilflich, sondern fielen sogar meistenteils allen im Haus lästig und störten nur. Fast den ganzen Tag über hörte man die beiden im Haus herumlaufen, schreien und ohne Anlaß lachen. Sie lachten und freuten sich keineswegs, weil sie eine Ursache zum Lachen gehabt hätten; sondern sie waren nun einmal in heiterer, fröhlicher Stimmung, und darum war alles, was ihnen vorkam, für sie ein Grund zur Freude und zum Lachen. Petja war vergnügt, weil er, der das Elternhaus als ein Knabe verlassen hatte, nun als ein tüchtiger junger Mann (wie ihm alle sagten) zurückgekehrt war; er war vergnügt, weil er sich zu Hause befand und weil er von Bjelaja Zerkow, wo er nicht so bald hätte hoffen können, an einer Schlacht teilzunehmen, nach Moskau gekommen war, wo in den nächsten Tagen ein Kampf stattfinden sollte; und ganz besonders war er vergnügt, weil es auch Natascha war, deren Gemütsstimmungen er immer zu teilen pflegte. Natascha aber war vergnügt, weil sie allzulange traurig gewesen war und jetzt durch nichts mehr an die Ursache ihrer Traurigkeit erinnert wurde, und weil sie gesund war. Und dann war sie noch deswegen vergnügt, weil sie jemanden hatte, der von ihr entzückt war; denn daß andere Leute von ihr entzückt waren, das war sozusagen das Öl an den Rädern, dessen Nataschas Lebensmaschine bedurfte, um sich frei zu bewegen; und Petja war von ihr entzückt. Die Hauptsache aber war: sie waren vergnügt, weil der Krieg vor den Mauern Moskaus stand und weil dicht vor dem Tor eine Schlacht geliefert werden sollte, und weil Waffen[473] verteilt wurden, und weil alle Leute irgendwohin wegliefen und wegfuhren, und weil überhaupt etwas Ungewöhnliches vorging, was den Menschen immer in eine freudige Stimmung versetzt, namentlich wenn er noch jung ist.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 468-474.
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