XIV

[479] Madame Schoß, die einen Besuch bei ihrer Tochter gemacht hatte, steigerte noch die Furcht der Gräfin durch Erzählung dessen, was sie in der Mjasnizkaja-Straße bei einem Branntweinladen mit angesehen hatte. Als sie beim Rückweg durch diese Straße kam, hatte sie wegen einer betrunkenen Volksmenge, die bei dem Laden tobte, nicht hindurchkommen können. Sie hatte sich eine Droschke genommen und war auf dem Umweg durch eine Seitengasse nach Hause gefahren, und der Droschkenkutscher hatte ihr erzählt, das Volk habe die Fässer in dem Branntweinladen zerschlagen; das sei so befohlen worden.[479]

Nach dem Mittagessen machten sich bei Rostows alle Hausgenossen eilig und mit größtem Eifer daran, die Sachen einzupacken und die sonstigen Vorbereitungen für die Reise zu treffen. Der alte Graf, der sich auf einmal gleichfalls der Sache annahm, ging fortwährend vom Hof ins Haus und wieder zurück, indem er die an sich schon eilenden Leute sinnlos anschrie und zu noch größerer Eile anzutreiben versuchte. Petja erteilte auf dem Hof Anweisungen. Sonja wußte infolge der einander widersprechenden Befehle des Grafen nicht mehr, was sie tun sollte, und war ganz wirr im Kopf geworden. Die Leute liefen schreiend, streitend und lärmend in den Zimmern und auf dem Hof umher. Plötzlich machte sich auch Natascha mit der Leidenschaftlichkeit, die ihr bei allem eigen war, ans Werk. Anfangs begegnete ihre Einmischung in die Arbeit des Packens starkem Mißtrauen. Die Leute meinten, sie treibe doch nur Possen, und wollten nicht auf sie hören; aber hartnäckig und leidenschaftlich verlangte sie, daß man ihr gehorche, wurde zornig, weinte beinahe, daß man nicht nach ihrem Willen tat, und erreichte schließlich doch, daß man ihr Vertrauen schenkte. Ihre erste Heldentat, die ihr gewaltige Anstrengungen kostete, aber auch ihre Autorität begründete, war das Einpacken der Teppiche. Der Graf hatte im Haus wertvolle Gobelins und persische Teppiche in ziemlicher Menge. Als Natascha sich ans Werk machte, standen im Saal zwei offene Kisten: die eine war fast bis oben mit Porzellan vollgepackt, die andere mit Teppichen. Eine Menge Porzellan stand noch auf Tischen daneben, und aus der Geschirrkammer wurde immer noch mehr herbeigetragen. Es mußte eine neue, dritte Kiste angefangen werden, und es waren schon ein paar Leute weggegangen, um eine zu holen.

»Warte mal, Sonja, wir schaffen es mit dem Packen auch so«, sagte Natascha.[480]

»Es geht nicht, Fräulein; wir haben es schon versucht«, wandte der Büfettdiener ein.

»Nein, warte doch, bitte, warte mal!«

Damit begann Natascha hurtig aus der Kiste die in Papier gewickelten Schüsseln und Teller herauszunehmen.

»Die Schüsseln müssen hierher, zwischen die Teppiche«, sagte sie.

»Wir wollen Gott danken, wenn wir nur allein die Teppiche in drei Kisten hineinbekommen«, meinte der Büfettdiener.

»Nein, bitte, warte mal.« Und Natascha begann schnell und geschickt das Geschirr zu sortieren. »Das soll nicht mit«, sagte sie mit Bezug auf die Kiewer Teller. »Dies ja; das soll zwischen die Teppiche gelegt werden«, sagte sie von dem sächsischen Porzellan.

»Aber so hör doch auf, Natascha; laß es gut sein; wir werden das Packen schon besorgen«, sagte Sonja vorwurfsvoll.

»Ja, ja, Fräulein«, stimmte auch der Haushofmeister bei.

Aber Natascha hörte nicht darauf; sie nahm alle Sachen heraus und entschied dahin: die schlechteren Teppiche für den Hausgebrauch und das überflüssige Geschirr sollten überhaupt nicht mitgenommen werden. Als alles herausgenommen war, begannen sie von neuem einzupacken. Und wirklich: nach Ausscheidung fast aller geringen Sachen, die des Mitnehmens nicht wert waren, bekamen sie alles Wertvolle in zwei Kisten hinein. Nur wollte der Deckel der Teppichkiste nicht zugehen. Man hätte etwas von den Sachen wieder herausnehmen können; aber Natascha bestand auf ihrem Kopf. Sie packte auf die eine, dann auf eine andere Weise, drückte die Sachen zusammen, ließ den Büfettdiener und Petja, den sie zu der Arbeit des Einpackens mit herangezogen hatte, auf den Deckel drücken und machte selbst verzweifelte Anstrengungen.

»Hör doch auf, Natascha«, sagte Sonja zu ihr. »Ich sehe ein,[481] daß du mit deiner Art zu packen recht gehabt hast; aber nimm doch einen, den obersten, heraus.«

»Nein, das will ich nicht!« schrie Natascha, indem sie mit der einen Hand das aufgegangene Haar an dem schweißbedeckten Gesicht festhielt und mit der andern die Teppiche zusammenpreßte. »So drücke doch, Petja, drücke! Wasiljewitsch, drücke!« rief sie. Die Teppiche ließen sich noch etwas zusammendrücken, und der Deckel ging zu. Natascha klatschte in die Hände und jauchzte vor Freude; die Tränen stürzten ihr aus den Augen. Aber das dauerte nur einen Augenblick. Sofort machte sie sich an eine andere Arbeit und fand nun schon bei den andern volles Vertrauen, und der Graf wurde nicht ärgerlich, wenn ihm gesagt wurde, Natascha Jljinitschna habe einen seiner Befehle abgeändert, und die Gutsleute kamen zu Natascha, um zu fragen, ob eine Fuhre hinlänglich beladen sei und sie sie verschnüren sollten oder nicht. Die Arbeit machte dank Nataschas Anordnungen gute Fortschritte: die entbehrlichen Sachen wurden zurückgelassen und die wertvollen recht eng gepackt.

Aber wie geschäftig auch alle waren, so wurde es doch schon spät in der Nacht, und noch war nicht alles eingepackt. Die Gräfin hatte sich schon zur Ruhe gelegt, und der Graf verschob die Abreise auf den nächsten Tag und ging gleichfalls zu Bett.

Sonja und Natascha schliefen unausgekleidet im Sofazimmer.

In dieser Nacht wurde noch ein Verwundeter durch die Powarskaja-Straße gefahren, und Mawra Kusminitschna, die am Tor stand, suchte zu veranlassen, daß er zu Rostows hereingebracht würde. Dieser Verwundete war nach Mawra Kusminitschnas Ansicht ein sehr vornehmer Mann. Er wurde in einer Kalesche gefahren, der durch das Vorderleder und das aufgeschlagene Verdeck vollständig geschlossen war. Auf dem Bock[482] saß neben dem Kutscher ein alter, würdig aussehender Kammerdiener. Dahinter fuhren in einem Bauernwagen ein Arzt und zwei Soldaten.

»Bitte, kommen Sie doch zu uns, seien Sie so gut! Die Herrschaft reist ab, das ganze Haus ist leer«, sagte die Alte, sich an den bejahrten Diener wendend.

»Es ist eine schlimme Sache«, antwortete der Kammerdiener seufzend, »wir glauben kaum, daß wir ihn bis an unser Ziel bringen! Wir haben ein eigenes Haus hier in Moskau; aber es ist weit, und es wohnt auch jetzt niemand darin.«

»Nun, dann bitte kommen Sie zu uns; bei unserer Herrschaft ist alles reichlich vorhanden; bitte schön!« sagte Mawra Kusminitschna. »Steht es mit dem Herrn denn so schlimm?«

»Wir fürchten, wir bringen ihn nicht lebend bis zu unserm Haus. Ich muß den Arzt fragen, ob er hierbleiben soll.«

Der Kammerdiener stieg vom Bock und ging zu dem Bauernwagen hin.

»Schön«, sagte der Arzt.

Der Kammerdiener trat wieder an die Kalesche heran, blickte hinein, wiegte bedenklich den Kopf hin und her, befahl dem Kutscher, auf den Hof zu fahren, und ließ den Wagen neben Mawra Kusminitschna halten.

»Herr Jesus Christus!« rief sie beim Anblick des Verwundeten.

Mawra Kusminitschna schlug vor, den Verwundeten in das Hauptgebäude zu tragen.

»Die Herrschaft wird nichts dagegen haben«, sagte sie.

Aber das Hinauftragen auf die Treppe mußte vermieden werden, und daher wurde der Verwundete in das Nebengebäude getragen und in dem bisherigen Zimmer der Madame Schoß einquartiert. Dieser Verwundete war Fürst Andrei Bolkonski.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 479-483.
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