XIII

[474] Sonnabend, den 31. August, ging im Rostowschen Haus alles drunter und drüber. Alle Türen waren geöffnet, alle Möbel hinausgetragen oder von ihren Plätzen gerückt, die Spiegel, die Bilder abgenommen. In den Zimmern standen Kisten; Heu, Packpapier und Bindfäden lagen auf dem Fußboden umher. Die Bauern und Gutsleute, die die Sachen hinaustrugen, gingen mit schweren Schritten über das Parkett. Auf dem Hof standen dichtgedrängt Bauernwagen, teils bereits hoch beladen und verschnürt, teils noch leer.

Die Stimmen und Schritte der zahlreichen Dienerschaft und der mit den Fuhrwerken gekommenen Bauern erschollen lärmend sowohl auf dem Hof als auch im Haus. Der Graf war schon frühmorgens weggefahren, man wußte nicht wohin. Die Gräfin, die von dem Treiben Kopfschmerzen bekommen hatte, lag in dem Sofazimmer mit Essigumschlägen auf dem Kopf. Petja war nicht zu Hause; er war zu einem Kameraden gegangen, mit dem zusammen er von der Landwehr zur aktiven Armee überzugehen beabsichtigte. Sonja half im Saal beim Einpacken des Kristalls und des Porzellans. Natascha saß in ihrem wüst aussehenden Zimmer auf dem Fußboden zwischen bunt durcheinander hingeworfenen Kleidern, Bändern und Schärpen; regungslos auf den Boden blickend, hielt sie ein altes Ballkleid in den Händen, eben jenes schon unmodern gewordene Kleid, in dem sie zum erstenmal auf einem Petersburger Ball gewesen war.[474]

Natascha hatte sich geschämt, im Haus müßig zu sein, während alle so eifrig beschäftigt waren, und im Laufe des Vormittags mehrmals versucht, sich an der Arbeit zu beteiligen; aber sie hatte kein rechtes seelisches Interesse an dieser Tätigkeit gehabt, und es lag nun einmal in ihrer Natur, daß sie nichts tun konnte, was sie nicht von ganzem Herzen und aus aller Kraft tat. Sie hatte ein Weilchen neben Sonja gestanden, welche gebeugt Porzellan einpackte, und ihr helfen wollen; aber sie hatte sehr bald damit wieder aufgehört und war auf ihr Zimmer gegangen, um ihre eigenen Sachen zu packen. Anfangs hatte es ihr Vergnügen gemacht, dies und das von ihren Kleidern und Bändern den Stubenmädchen zu schenken; aber dann, als es nun doch nötig geworden war, das übrige einzupacken, hatte sie das langweilig gefunden.

»Liebe Dunjascha, du wirst einpacken, ja? Ja?« Und als Dunjascha ihr gern versprochen hatte, alles zu besorgen, hatte Natascha sich auf den Fußboden gesetzt, das alte Ballkleid in die Hände genommen und war in Gedanken versunken, aber in Gedanken an ganz andere Dinge als an die, welche jetzt ihr Interesse hätten in Anspruch nehmen sollen. Aus ihrer Versunkenheit wurde sie geweckt durch ein Gespräch der Mädchen im anstoßenden Mädchenzimmer und durch den Schall ihrer eiligen Schritte, die sich vom Mädchenzimmer nach der Hintertür bewegten. Natascha stand auf und blickte durch das Fenster. Auf der Straße stand eine lange Reihe von Wagen und Verwundeten.

Stubenmädchen, Diener, die Haushälterin, die Kinderfrau, Köche, Kutscher, Reitknechte und Küchenjungen standen am Tor und betrachteten die Verwundeten.

Natascha warf sich ein weißes Taschentuch über das Haar, hielt es mit beiden Händen an den Zipfeln fest und ging auf die Straße hinaus.[475]

Die ehemalige Haushälterin, die alte Mawra Kusminitschna, löste sich von dem Haufen ab, der am Tor stand, ging an einen Bauernwagen heran, der mit einem Verdeck aus Matte versehen war, und redete mit dem darin liegenden jungen, blassen Offizier. Natascha trat einige Schritte näher heran und blieb dann schüchtern stehen; sie hielt immer noch ihr Tuch fest und hörte zu, was die Haushälterin sagte.

»Aber haben Sie denn so gar niemand hier in Moskau?« fragte Mawra Kusminitschna. »Sie würden doch in irgendeinem Privathaus mehr Bequemlichkeit haben ... Gleich zum Beispiel hier bei uns. Die Herrschaft fährt weg.«

»Ich weiß nicht, ob das erlaubt ist«, antwortete der Offizier mit schwacher Stimme. »Da ist der Kommandeur dieses Transportes ... fragen Sie den.« Er zeigte auf einen dicken Major, der auf der Straße an der Wagenreihe entlang nach dem hinteren Ende zurückging.

Natascha blickte mit erschrockenen Augen in das Gesicht des verwundeten Offiziers und ging sogleich auf den Major zu.

»Dürfen einige von den Verwundeten in unserm Haus bleiben?« fragte sie.

Der Major legte lächelnd die Hand an den Mützenschirm.

»Wen möchten Sie denn gern haben, Mamsellchen?« sagte er und kniff lächelnd die Augen zusammen.

Natascha wiederholte ruhig ihre Frage, und obwohl sie immer noch ihr Tuch an den Zipfeln hielt, waren doch ihr Gesicht und ihr ganzes Wesen so ernst, daß der Major aufhörte zu lächeln; nachdem er zunächst ein Weilchen überlegt hatte, wie wenn er sich selbst fragte, ob das zulässig sei, antwortete er bejahend.

»O ja, warum denn nicht? Das geht schon«, sagte er.

Natascha machte ihm eine leichte Verbeugung mit dem Kopf und kehrte mit schnellen Schritten zu Mawra Kusminitschna[476] zurück, die über den Offizier gebeugt dastand und mit mitleidiger Teilnahme zu ihm redete.

»Es geht; er hat gesagt, es geht!« flüsterte Natascha ihr zu.

Der Wagen mit dem Offizier bog in den Rostowschen Hof ein, und nun fuhren Dutzende von Wagen mit Verwundeten auf die Einladung der Städter in der Powarskaja-Straße auf die Höfe und vor die Haustüren. Natascha fand augenscheinlich Gefallen an diesen von den gewöhnlichen Lebensverhältnissen abweichenden Beziehungen zu unbekannten Menschen. Sie und Mawra Kusminitschna veranlaßten möglichst viele Wagen mit Verwundeten auf ihren Hof zu fahren.

»Wir müssen aber doch dem Papa davon Mitteilung machen«, meinte Mawra Kusminitschna.

»Ach was, das ist gar nicht nötig! Für den einen Tag siedeln wir in den Salon über. Dann können wir ihnen unsern ganzen Teil der Wohnung überlassen.«

»Aber Fräulein, was haben Sie für Einfälle! Aber auch wenn wir sie in das Nebengebäude und in die ofenlose Stube und in das Zimmer der Kinderfrau einquartieren wollen, auch dann müssen wir fragen.«

»Nun, dann werde ich fragen.«

Natascha lief ins Haus und ging auf den Zehen durch die halbgeöffnete Tür in das Sofazimmer, aus dem ein Geruch von Essig und Hoffmannstropfen herausdrang.

»Schlafen Sie, Mama?«

»Ach, wie werde ich denn schlafen!« antwortete die Gräfin, die soeben eingeschlafen war und nun aufwachte.

»Liebste Mama!« sagte Natascha, indem sie vor der Mutter niederkniete und ihr Gesicht nahe an das der Mutter hielt. »Bitte, verzeihen Sie mir; es soll nie wieder geschehen; ich habe Sie aufgeweckt. Mawra Kusminitschna schickt mich her; es sind Verwundete[477] gebracht worden, Offiziere. Erlauben Sie es? Es fehlt an Unterkunft für sie; ich weiß ja, daß Sie es erlauben ...«, sagte sie schnell in einem Atem.

»Was für Offiziere? Wer ist gebracht worden? Ich verstehe dich nicht«, antwortete die Gräfin.

Natascha lachte, und auch auf dem Gesicht der Gräfin zeigte sich ein schwaches Lächeln.

»Ich wußte ja, daß Sie es erlauben würden ... Dann werde ich es also auch so bestellen.«

Natascha küßte ihre Mutter, sprang auf und lief aus der Tür.

Im Saal traf sie ihren Vater, der mit üblen Nachrichten nach Hause zurückgekehrt war.

»Wir sind viel zu lange hiergeblieben!« sagte er mit unwillkürlich hervorbrechendem Ärger. »Der Klub ist geschlossen, und die Polizei verläßt die Stadt.«

»Papa, Sie sind doch damit einverstanden, daß ich Verwundete ins Haus aufgenommen habe?« sagte Natascha zu ihm.

»Selbstverständlich«, antwortete der Graf zerstreut. »Aber jetzt handelt es sich um andere Dinge, und ich muß dich bitten, dich jetzt nicht mit Torheiten abzugeben, sondern beim Einpacken zu helfen; wir müssen morgen abfahren, jawohl, abfahren.«

Auch dem Haushofmeister und der Dienerschaft erteilte der Graf denselben Befehl. Beim Mittagessen erzählte auch Petja, der nach Hause gekommen war, seine Neuigkeiten.

Er berichtete, es seien heute im Kreml an das Volk Waffen verteilt worden, und obgleich es in dem Rastoptschinschen Flugblatt geheißen habe, er werde zwei Tage vorher einen Aufruf erlassen, sei doch bereits fest angeordnet worden, daß das ganze Volk morgen mit den Waffen auf die Drei Berge kommen solle; dort werde eine große Schlacht geliefert werden.

Mit Angst und Schrecken betrachtete die Gräfin das vergnügte,[478] erregte Gesicht ihres Sohnes, während er das erzählte. Sie wußte, daß, wenn sie ihn auch nur mit einem Wort bäte, nicht mit in diese Schlacht zu gehen (auf die er sich, wie sie sah, freute), er etwas von Männern, von Ehre, von Vaterland sagen werde, so etwas Sinnloses, Männliches, Hartnäckiges, worauf sie nichts würde erwidern können, und daß damit ihre Sache vollends verdorben sein würde. Daher griff sie zu einem andern Mittel: in der Hoffnung, es so einrichten zu können, daß ihre Abreise schon vorher stattfände und sie dann Petja als Beschützer und Verteidiger mitnähmen, sagte sie zu Petja nichts, sondern rief nach dem Mittagessen den Grafen zu sich und flehte ihn unter Tränen an, sie recht bald wegzuschaffen, wenn es möglich wäre, noch in dieser Nacht. Mit der Schlauheit, die den Frauen die Liebe unwillkürlich eingibt, sagte sie, die bisher eine vollständige Furchtlosigkeit bekundet hatte, sie werde vor Angst sterben, wenn sie nicht noch heute nacht abreisten. Und sie fürchtete jetzt wirklich ohne Verstellung alles, auch das Schlimmste.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 474-479.
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