XVII

[497] Gegen zwei Uhr standen die vier Rostowschen Equipagen bepackt und angespannt vor der Haustür. Die Fuhrwerke mit den Verwundeten fuhren eines nach dem andern vom Hof.

Die Kalesche, in welcher Fürst Andrei lag, erregte, als er an der Freitreppe vorbeifuhr, die Aufmerksamkeit Sonjas, die mit Hilfe eines Stubenmädchens in der gewaltig großen, hohen Kutsche, die vor der Haustür hielt, einen Sitz für die Gräfin zurechtmachte.

»Wessen Kalesche ist denn das?« fragte Sonja, indem sie den Kopf aus dem Kutschfenster steckte.

»Haben Sie das noch nicht gehört, Fräulein?« antwortete das Stubenmädchen. »Die gehört dem verwundeten Fürsten, der bei uns übernachtet hat und nun auch mit uns fährt.«

»Aber wer ist es denn? Wie heißt er?«

»Es ist unser gewesener Bräutigam, Fürst Bolkonski«, erwiderte das Stubenmädchen seufzend. »Es heißt, er ist dem Tod nahe.«

Sonja sprang aus der Kutsche und lief zur Gräfin hin. Die Gräfin ging, schon zur Reise angekleidet, mit Hut und Schal, müde im Salon auf und ab und wartete auf die Hausgenossen, damit sie sich alle vor der Abreise bei geschlossenen Türen für einen Augenblick hinsetzten und beteten. Natascha war nicht im Zimmer.

»Mama«, sagte Sonja. »Fürst Andrei ist hier, tödlich verwundet. Er fährt mit uns.«[497]

Erschrocken öffnete die Gräfin weit die Augen, ergriff Sonja bei der Hand und blickte um sich.

»Und Natascha?« fragte sie.

Sowohl für Sonja als auch für die Gräfin hatte diese Nachricht im ersten Augenblick nur in einer Beziehung Wichtigkeit. Sie kannten beide ihre Natascha, und die Angst vor der Wirkung, die diese Nachricht auf sie ausüben würde, übertäubte bei ihnen das Mitgefühl für den Mann, den sie beide gern gehabt hatten.

»Natascha weiß es noch nicht; aber er wird mit uns mitfahren«, sagte Sonja.

»Du sagst, er ist tödlich verwundet?«

Sonja nickte mit dem Kopf.

Die Gräfin umarmte sie und brach in Tränen aus.

»Die Wege des Herrn sind unerforschlich«, dachte sie und wurde sich bewußt, daß in allem, was jetzt geschah, sich eine allmächtige Hand fühlbar zu machen begann, die bisher den Blicken der Menschen verborgen gewesen war.

»Nun, Mama, es ist alles fertig. Wovon redet ihr denn da noch?« fragte Natascha, die mit lebhaft erregtem Gesicht ins Zimmer gelaufen kam.

»Oh, von nichts«, antwortete die Gräfin. »Nun, wenn alles fertig ist, dann wollen wir fahren.«

Sie beugte sich über ihren Ridikül, um ihre Verwirrung zu verbergen. Sonja umarmte Natascha und küßte sie.

Natascha blickte sie fragend an.

»Was hast du? Was ist denn vorgefallen?«

»Nichts ... gar nichts ...«

»Etwas sehr Schlimmes für mich? Was ist es denn?« fragte Natascha, die ein feines Gefühl besaß.

Sonja seufzte und gab keine Antwort. Der Graf, Petja,[498] Madame Schoß, Mawra Kusminitschna und Wasiljewitsch traten in den Salon, und nachdem die Türen geschlossen waren, setzten sich alle hin und saßen so, schweigend und ohne einander anzusehen, einige Sekunden lang.

Der Graf stand zuerst auf und bekreuzte sich, laut seufzend, vor dem Heiligenbild. Alle andern taten dasselbe. Dann umarmte der Graf Mawra Kusminitschna und Wasiljewitsch, die in Moskau blieben, und klopfte sie, während sie nach seiner Hand griffen und ihn auf die Schulter küßten, leise auf den Rücken, wobei er undeutlich ein paar freundliche Worte zu ihrer Beruhigung sagte.

Die Gräfin begab sich in das Betzimmer, und Sonja fand sie dort auf den Knien vor den hier und da an den Wänden zurückgebliebenen Heiligenbildern. (Diejenigen Bilder, die durch langjährige Familientraditionen einen besonderen Wert hatten, waren mitgenommen worden.)

An der Freitreppe und auf dem Hof nahmen diejenigen Dienstboten, welche mit wegreisten (Petja hatte sie mit Dolchen und Säbeln bewaffnet; sie hatten die Hosen in die Stiefel gesteckt und sich mit Lederriemen und Leibbinden fest umgürtet), Abschied von denen, die zurückblieben.

Wie es beim Abreisen immer geht, war vieles vergessen oder an falscher Stelle untergebracht, und recht lange standen zwei Diener rechts und links von dem geöffneten Kutschenschlag und dem niedergelassenen Tritt bereit, um der Gräfin beim Einsteigen zu helfen, während Mädchen mit Kissen und Bündeln aus dem Haus zu den Kutschen, der Kalesche und der Britschke und wieder zurück liefen.

»Nein, diese Menschen, ihre Zerstreutheit und Vergeßlichkeit legen sie doch ihr Leben lang nicht ab!« sagte die Gräfin. »Du weißt doch, daß ich so nicht sitzen kann.«

Dunjascha preßte die Zähne zusammen und sprang, ohne zu[499] antworten, mit verdrossenem Gesicht in die Kutsche, um den Sitz umzuändern.

»Ach ja, dieses Volk!« stimmte der Graf seiner Frau bei und wiegte den Kopf hin und her.

Der alte Kutscher Jefim (mit einem andern zu fahren konnte sich die Gräfin unter keinen Umständen entschließen) saß hoch auf seinem Bock und sah sich nach dem, was hinter ihm geschah, gar nicht einmal um. Aus dreißigjähriger Erfahrung wußte er, daß es noch eine ganze Weile dauerte, bis man ihm sagen würde: »Nun, dann in Gottes Namen!« und daß, wenn das gesagt war, man ihn noch zweimal halten ließ und Leute zurückschickte, um vergessene Sachen zu holen, und daß er darauf noch einmal halten mußte und die Gräfin selbst den Kopf aus dem Kutschfenster heraussteckte und ihn um Jesu Christi willen bat, wo es bergab ginge, nur ja recht vorsichtig zu fahren. Das alles wußte er, und daher wartete er geduldig auf das, was da kommen sollte, geduldiger als seine Pferde, von denen namentlich das linke, ein Fuchs namens »Falke«, mit dem Huf schlug und auf dem Mundstück kaute. Endlich waren alle zum Sitzen gekommen; der Wagentritt wurde zusammengeklappt und an den Wagen hinaufgeschlagen, die Wagentür geschlossen; es wurde noch nach einer Schatulle geschickt; die Gräfin bog sich hinaus und erteilte dem Kutscher die unvermeidliche Ermahnung. Dann nahm Jefim langsam seinen Hut vom Kopf und bekreuzte sich. Der Reitknecht, der auf einem der Pferde saß, und alle Dienstboten taten das gleiche. »In Gottes Namen!« sagte Jefim und setzte seinen Hut wieder auf. »Vorwärts!« Der Reitknecht trieb sein Pferd an. Das rechte Deichselpferd legte sich in das Kummet, die hohen Wagenfedern knackten, und der Wagenkasten setzte sich in schaukelnde Bewegung. Der Lakai sprang, während der Wagen schon fuhr, auf den Bock. Die Kutsche bekam, als sie vom Hof[500] auf das holperige Pflaster fuhr, ein paar kräftige Stöße, desgleichen die andern Equipagen, und nun bewegte sich der Zug die Straße hinauf. In den Kutschen, der Kalesche und der Britschke bekreuzten sich alle nach der gegenüberliegenden Kirche hin. Was von dem Dienstpersonal in Moskau zurückblieb, ging zu beiden Seiten der Equipagen, um ihnen das Geleit zu geben.

Natascha hatte selten ein so freudiges Gefühl empfunden wie jetzt, wo sie neben der Gräfin in der Kutsche saß und nach den langsam vorüberziehenden Häusermauern des halbverödeten, beunruhigten Moskau hinblickte. Ab und zu steckte sie den Kopf aus dem Kutschfenster hinaus und blickte bald zurück, bald nach vorn nach dem langen Wagenzug mit Verwundeten, der vor ihnen herfuhr. Fast ganz an der Spitze desselben war das hochgeschlagene Verdeck der Kalesche des Fürsten Andrei sichtbar. Sie wußte nicht, wer sich in diesem Wagen befand; aber jedesmal, wenn sie den Bereich ihres Zuges musterte, suchte sie mit den Augen nach dieser Kalesche. Sie wußte, daß er beinahe ganz vorn war.

Auf dem Kudrinskaja-Platz trafen aus der Nikitska ja-Straße, der Prjesnenskaja-Straße und dem Podnowinski-Boulevard noch mehrere solcher Züge wie der Rostowsche zusammen, und in der Sadowaja-Straße mußten die Equipagen und die andern Fuhrwerke schon in zwei Reihen nebeneinander fahren.

Als sie um den Sucharew-Turm herumfuhren, rief Natascha, die schnell und neugierig die vorbeifahrenden und vorbeigehenden Leute betrachtete, plötzlich freudig und erstaunt aus:

»Herrgott! Mama, Sonja, seht mal, das ist er!«

»Wer? Wer?«

»Seht nur, wahrhaftigen Gottes, Besuchow!« sagte Natascha, bog sich aus dem Kutschfenster und blickte nach einem hochgewachsenen, dicken Mann, der zwar einen Kutscherrock trug,[501] dem Gang und der Haltung nach aber entschieden ein verkleideter Edelmann war. In Begleitung eines bartlosen, kleinen, alten Mannes, mit gelblicher Gesichtsfarbe, in einem Friesmantel, ging er eben unter das Gewölbe des Sucharew-Turmes.

»Wahrhaftig, Besuchow, in einem langen Kaftan, mit irgendeinem alten Mann. Wahrhaftig«, sagte Natascha, »seht nur, seht nur!«

»Aber nein, das ist er nicht. Wie kannst du nur solchen Unsinn reden!«

»Mama«, rief Natascha, »ich lasse mir den Kopf abschneiden, wenn er es nicht ist. Ich will es Ihnen beweisen. Halt, halt!« rief sie dem Kutscher zu.

Aber der Kutscher konnte nicht anhalten, weil aus der Mjeschtschanskaja-Straße andere Equipagen und gewöhnliche Fuhrwerke herausgefahren kamen und deren Kutscher ihm zuschrien, er solle weiterfahren und andere nicht aufhalten.

Wirklich erblickten nun alle Rostows, wiewohl in erheblich größerer Entfernung als vorher, Pierre oder einen Menschen, der diesem außerordentlich ähnlich war, in einem Kutscherrock, wie er mit gesenktem Kopf und ernstem Gesicht neben einem kleinen, bartlosen, alten Mann, der wie ein Diener aussah, auf der Straße ging. Der Alte bemerkte, daß sich ein Gesicht aus der Kutsche hinausbog und nach ihnen hinsah; respektvoll berührte er Pierre am Ellbogen, sagte ihm etwas und zeigte auf die Kutsche. Pierre verstand längere Zeit nicht, was sein Gefährte zu ihm sagte; so vertieft war er offenbar in seine Gedanken. Als er endlich verstanden hatte, blickte er nach der ihm gewiesenen Richtung hin, und als er Natascha erkannte, ging er sofort in demselben Augenblick, dem ersten Impuls folgend, schnell auf die Kutsche zu. Aber nachdem er etwa zehn Schritte zurückgelegt hatte, fiel ihm offenbar etwas ein, und er blieb stehen.[502]

Nataschas Gesicht, das sich aus dem Kutschfenster bog, strahlte von spöttischer Freundlichkeit.

»Pjotr Kirillowitsch, kommen Sie doch her! Wir haben Sie ja erkannt! Das ist ja erstaunlich!« rief sie und streckte ihm die Hand entgegen. »Wie kommen Sie hierher? Und warum sehen Sie so aus?«

Pierre ergriff die hingestreckte Hand und küßte sie unbeholfen während des Fahrens, da die Kutsche sich weiterbewegte.

»Was ist denn mit Ihnen vorgegangen, Graf?« fragte die Gräfin in verwundertem, mitleidigem Ton.

»Was vorgegangen ist? Warum ich hier bin? Fragen Sie mich nicht«, erwiderte Pierre und blickte dann wieder zu Natascha hin, deren strahlender, freudiger Blick ihn (das fühlte er, auch während er sie nicht ansah) mit seinem Zauber umfing.

»Was haben Sie denn vor? Bleiben Sie etwa in Moskau?« fragte Natascha.

»In Moskau?« erwiderte er fragend. »Ja, ich bleibe in Moskau. Leben Sie wohl.«

»Ach, ich wollte, ich wäre ein Mann; dann bliebe ich bestimmt mit Ihnen hier. Ach, wie schön das wäre!« sagte Natascha. »Mama, wenn Sie es erlauben, bleibe ich hier.«

Pierre blickte Natascha zerstreut an und wollte etwas sagen; aber die Gräfin ließ ihn nicht zu Worte kommen:

»Wie wir gehört haben, sind Sie bei der Schlacht dabeigewesen?« fragte sie.

»Ja, ich bin dort gewesen«, antwortete Pierre. »Morgen wird wieder eine Schlacht stattfinden ...«, begann er; aber Natascha unterbrach ihn:

»Aber was ist denn mit Ihnen vorgegangen, Graf? Sie sehen so ganz verändert aus ...«

»Ach, fragen Sie mich nicht, fragen Sie mich nicht; ich weiß es[503] selbst nicht. Morgen ... Aber nein! Leben Sie wohl, leben Sie wohl«, murmelte er; »es ist eine schreckliche Zeit!«

Er trat von der Kutsche zurück und ging auf das Trottoir.

Natascha blieb noch lange so aus dem Kutschfenster gebeugt und schaute mit einem strahlenden, heiteren, freundlichen und ein wenig spöttischen Lächeln zu ihm hin.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 497-504.
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