XVIII

[504] Seit Pierre am vorhergehenden Tag aus seinem Haus verschwunden war, wohnte er in der leerstehenden Wohnung des verstorbenen Basdjejew. Das war folgendermaßen zugegangen.

Als Pierre an dem Tag, der auf seine Rückkehr nach Moskau und sein Gespräch mit Graf Rastoptschin folgte, des Morgens aufgewacht war, konnte er lange nicht darüber ins klare kommen, wo er sich eigentlich befand und was man von ihm wollte. Als ihm unter den Namen anderer Personen, die im Wartezimmer darauf warteten, vorgelassen zu werden, auch gemeldet wurde, daß jener Franzose auf ihn warte, der den Brief der Gräfin Helene überbracht hatte, da überkam ihn plötzlich jenes Gefühl der Verwirrung und Hoffnungslosigkeit, dem er so oft und so leicht unterworfen war. Er hatte auf einmal die Vorstellung, jetzt sei alles zu Ende, alles in Verwirrung, alles zugrunde gerichtet, niemand sei schuldlos, niemand schuldig, die Zukunft könne nichts Gutes mehr bieten, und es gebe aus dieser Lage keinen Ausgang. Gezwungen lächelnd und etwas vor sich hinmurmelnd, setzte er sich bald in einer Haltung völliger Hilflosigkeit auf das Sofa, bald stand er wieder auf, ging an die Tür und sah durch die Spalte in das Wartezimmer, bald kehrte er mit einer resignierten Handbewegung zurück und griff nach einem[504] Buch. Der Haushofmeister kam zum zweitenmal, um ihm zu melden, daß der Franzose, der den Brief von der Gräfin gebracht habe, dringend bäte, ihn, wenn auch nur auf einen Augenblick, zu empfangen, und daß jemand von der Witwe Osip Alexejewitsch Basdjejews gekommen sei mit der Bitte, doch die Bücher in Empfang zu nehmen, da Frau Basdjejewa selbst aufs Land gefahren sei.

»Ach ja, sogleich, warte einen Augenblick ... oder nein! Nein, geh nur und sage, ich würde sogleich kommen«, sagte Pierre zu dem Haushofmeister.

Aber kaum war der Haushofmeister aus dem Zimmer, als Pierre seinen Hut nahm, der auf dem Tisch lag, und sein Arbeitszimmer durch die Hintertür verließ. Auf dem Korridor war niemand. Pierre durchschritt ihn in seiner ganzen Länge bis zur Treppe und stieg, die Stirn runzelnd und sie mit beiden Händen reibend, bis zum ersten Absatz hinunter. Der Portier stand beim Vorderportal. Von dem Absatz, zu dem Pierre hinuntergestiegen war, führte eine andere Treppe nach dem hinteren Ausgang. Hierher ging Pierre und trat auf den Hof hinaus. Niemand sah ihn. Aber sowie er durch das Tor auf die Straße kam, erblickten ihn die Kutscher, die dort mit ihren Equipagen hielten, sowie der Hausknecht und nahmen vor ihm die Mützen ab. Als er ihre Blicke auf sich gerichtet fühlte, machte es Pierre wie der Strauß, der seinen Kopf in einen Busch steckt, um nicht gesehen zu werden: er senkte den Kopf und ging mit beschleunigtem Schritt die Straße hinunter.

Von allen den Tätigkeiten, die ihn an diesem Morgen in Anspruch nehmen wollten, erschien ihm als die wichtigste die Sichtung der Bücher und Papiere Osip Alexejewitsch Basdjejews.

Er nahm die erste Droschke, die er fand, und befahl dem Kutscher,[505] nach den Patriarchenteichen zu fahren, wo das Haus der verwitweten Frau Basdjejewa lag.

Während er unaufhörlich die von überallher sich vorwärtsbewegenden Wagenzüge der aus Moskau flüchtenden Einwohner betrachtete und sich mit seinem dicken Körper zurechtrückte, um nicht aus der klappernden, alten Droschke herauszurutschen, empfand Pierre dasselbe freudige Gefühl wie ein Schüler, der aus der Schule davongelaufen ist. In dieser Stimmung ließ er sich mit dem Kutscher in ein Gespräch ein.

Der Kutscher erzählte ihm, heute würden im Kreml Waffen verteilt werden, und morgen werde man das ganze Volk aus dem Dreibergentor hinaustreiben, und da werde dann eine große Schlacht stattfinden.

Als Pierre zu den Patriarchenteichen gekommen war, suchte er sich Basdjejews Haus, in dem er seit langer Zeit nicht gewesen war. Er trat zu dem Pförtchen neben dem Tor. Gerasim, jener selbe gelbliche, bartlose Alte, den Pierre vor fünf Jahren in Torschok als Osip Alexejewitschs Begleiter gesehen hatte, kam auf sein Klopfen herbei.

»Ist jemand von der Herrschaft zu Hause?« fragte Pierre.

»Wegen der Zustände, die jetzt hier herrschen, ist Sofja Danilowna mit den Kindern nach dem Gut im Torschokschen gereist, Euer Erlaucht.«

»Ich möchte doch hineingehen; ich muß die Bücher sichten«, sagte Pierre.

»Bitte, treten Sie näher; Makar Alexejewitsch, der Bruder des verstorbenen Herrn (Gott gebe ihm das Himmelreich!), ist hiergeblieben; aber wie Sie wissen, ist er schwachsinnig«, sagte der alte Diener.

Makar Alexejewitsch war, wie Pierre wußte, der halbverrückte, dem Trunk ergebene Bruder von Osip Alexejewitsch.[506]

»Ja, ja, ich weiß. Wir wollen hineingehen«, sagte Pierre und ging ins Haus.

Ein großer, kahlköpfiger, rotnasiger, alter Mann, in einem Schlafrock, mit Überschuhen auf den bloßen Füßen, stand im Vorzimmer; als er Pierre erblickte, murmelte er ärgerlich etwas vor sich hin und ging hinaus auf den Korridor.

»Er besaß einen großen Verstand, ist aber jetzt, wie Sie sehen, schwachsinnig geworden«, sagte Gerasim. »Ist es Ihnen gefällig, in das Arbeitszimmer zu gehen?« Pierre nickte mit dem Kopf. »Das Arbeitszimmer ist in demselben Zustand geblieben, in dem es versiegelt wurde. Sofja Danilowna hat befohlen, wenn jemand, von Ihnen geschickt, herkäme, ihm die Bücher zu verabfolgen.«

Pierre trat in eben jenes Arbeitszimmer, in das er bei Lebzeiten seines edlen Freundes mit solchem Bangen eingetreten war. Das Zimmer, das jetzt verstaubt aussah und seit Osip Alexejewitschs Tode unberührt geblieben war, machte einen noch düsteren Eindruck als früher.

Gerasim öffnete einen Fensterladen und verließ auf den Fußspitzen das Zimmer. Pierre ging im Zimmer umher, trat an den Schrank, in dem die Manuskripte lagen, und nahm eines der einstmals hochwichtigen Heiligtümer des Freimaurerordens heraus. Es waren dies schottische Akten im Original, mit Bemerkungen und Erläuterungen von der Hand seines verstorbenen Freundes. Er setzte sich an den verstaubten Schreibtisch, legte die Handschriften vor sich hin, schlug sie auf, machte sie wieder zu und schob sie schließlich von sich weg, stützte den Kopf auf den Arm und überließ sich seinen Gedanken.

Gerasim blickte mehrere Male behutsam in das Zimmer hinein und sah, daß Pierre immer noch in derselben Haltung dasaß. So waren mehr als zwei Stunden vergangen. Nun erlaubte sich[507] Gerasim, an der Tür ein Geräusch zu machen, um Pierres Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Aber dieser hörte ihn nicht.

»Befehlen Sie, daß ich die Droschke wegschicke?«

»Ach ja«, antwortete Pierre, der nun zur Besinnung kam und rasch aufstand. »Höre mal«, sagte er, indem er Gerasim an einen Rockknopf faßte und von oben bis unten mit schwärmerischen, feucht glänzenden Augen ansah, »höre mal, weißt du, daß morgen eine Schlacht stattfinden wird?«

»Die Leute haben es gesagt«, antwortete Gerasim.

»Ich bitte dich, niemandem zu sagen, wer ich bin. Und führe mir einen Auftrag aus ...«

»Ich stehe zu Ihren Diensten«, sagte Gerasim. »Befehlen Sie etwas zu essen?«

»Nein, ich habe einen anderen Wunsch. Ich brauche einen Anzug, wie ihn geringe Leute tragen, und eine Pistole«, sagte Pierre und errötete plötzlich.

»Zu Befehl«, erwiderte Gerasim, nachdem er einen Augenblick nachgedacht hatte.

Den ganzen übrigen Teil dieses Tages verbrachte Pierre ganz allein in dem Arbeitszimmer seines Freundes; wie Gerasim hörte, ging er unruhig von einer Ecke nach der andern und redete dabei mit sich selbst. In demselben Zimmer übernachtete er auch; es war dort ein Nachtlager für ihn zurechtgemacht.

Gerasim nahm mit der langjährigen Übung eines Dieners, der in seinem Leben schon viele Wunderlichkeiten an seinen Herrschaften zu sehen bekommen hatte, Pierres Übersiedelung ohne Verwunderung auf und war anscheinend ganz damit zufrieden, daß er wieder jemand hatte, dem er dienen konnte. Noch an demselben Abend beschaffte er, ohne auch nur sich selbst die Frage vorzulegen, was das für einen Zweck habe, für Pierre einen Kaftan und eine Mütze und versprach, am andern Tag die gewünschte[508] Pistole zu besorgen. Makar Alexejewitsch kam an diesem Abend zweimal, mit seinen Überschuhen schlurrend, an die Tür, blieb dort stehen und blickte Pierre wie forschend an. Aber sobald Pierre sich zu ihm hinwandte, schlug er beschämt und ärgerlich die Schöße seines Schlafrocks übereinander und entfernte sich eilig. Als Pierre gerade in dem Kutscherrock, den ihm Gerasim besorgt und ausgebrüht hatte, mit diesem unterwegs war, um sich beim Sucharew-Turm eine Pistole zu kaufen, traf er die Familie Rostow.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 504-509.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Klopstock, Friedrich Gottlieb

Hermanns Schlacht. Ein Bardiet für die Schaubühne

Hermanns Schlacht. Ein Bardiet für die Schaubühne

Von einem Felsgipfel im Teutoburger Wald im Jahre 9 n.Chr. beobachten Barden die entscheidende Schlacht, in der Arminius der Cheruskerfürst das römische Heer vernichtet. Klopstock schrieb dieses - für ihn bezeichnende - vaterländische Weihespiel in den Jahren 1766 und 1767 in Kopenhagen, wo ihm der dänische König eine Pension gewährt hatte.

76 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon