XX

[515] Moskau aber war öde. Es waren noch Menschen in der Stadt, da ungefähr der fünfzigste Teil aller früheren Einwohner zurückgeblieben war; aber die Stadt war öde. Sie war öde wie ein absterbender, weisellos gewordener Bienenstock.

In einem weisellos gewordenen Bienenstock ist kein Leben mehr, obwohl er bei oberflächlicher Betrachtung ebenso lebendig erscheint wie andere. Ebenso munter tummeln sich in den heißen Strahlen der Mittagssonne Bienen um den weisellosen Stock wie um die andern, lebendigen Stöcke; ebenso riecht er von weitem nach Honig; ebenso kommen aus ihm Bienen herausgeflogen. Aber man braucht nur aufmerksamer darauf zu achten, so merkt man, daß in diesem Stock kein Leben mehr ist. Die Bienen fliegen anders als bei den lebendigen Stöcken, und ein anderer Geruch und ein anderes Geräusch treten dem Imker entgegen.[515] Wenn der Imker an die Wand des kranken Korbes klopft, so vernimmt er nicht die frühere sofortige, gemeinsame Antwort, den zischenden Ton vieler Tausende von Bienen, die drohend den Hinterleib erheben und mit schnellen Flügelschlägen diesen frischen, lebensvollen Laut hervorbringen; sondern es antwortet ihm nur ein vereinzeltes Summen, das dumpf an verschiedenen Stellen des öde gewordenen Korbes erschallt. Aus dem Flugloch strömt nicht wie früher der aromatische Geruch des Honigs und des Giftes, auch nicht die Wärme, die durch das Vollsein erzeugt wird; sondern mit dem Geruch des Honigs vereinigt sich ein Geruch nach Leere und Fäulnis. Bei dem Flugloch sind nicht mehr jene Wachen zu finden, die zur Verteidigung des Stockes ihr Leben hinzugeben bereit waren, den Hinterleib in die Höhe hoben und Alarm gaben. Es fehlt jener gleichmäßige, leise Ton, das Geräusch der Arbeit, das wie das Brodeln siedenden Wassers klingt, und man hört nur unharmonische, vereinzelte Töne, Zeichen der Unordnung. In den Stock fliegen mit scheuer Gewandtheit schwarze, längliche Raubbienen hinein und kommen mit Honig bedeckt wieder heraus; sie stechen nicht, sondern entfliehen vor Gefahren. Früher flogen Bienen nur mit Trachten herein und leer hinaus; jetzt kommen sie mit Trachten herausgeflogen. Der Imker öffnet die untere Klappe und sieht in den unteren Teil des Korbes hinein. Statt der früheren bis auf den Boden herabhängenden, schwarzen, friedlich arbeitenden Ketten kräftiger Bienen, die einander bei den Füßen hielten und unter dem ununterbrochenen Geräusch der Arbeit das Wachs ausreckten, irren einige verschrumpfte Bienen nach verschiedenen Richtungen schläfrig und zwecklos am Boden und an den Wänden des Stockes umher. Während sonst der Fußboden sauber mit Leim überzogen und durch Wehen mit den Flügeln ausgefegt war, liegen jetzt dort Wachsbröckchen, Exkremente von Bienen,[516] sowie halbtote, kaum noch die Beinchen bewegende Bienen, und ganz tote, die nicht weggeräumt sind.

Der Imker öffnet den oberen Deckel und sieht in den Kopf des Bienenstocks hinein. Von den dichten Scharen von Bienen, die sonst auf allen Höhlungen der Waben saßen und die Brut wärmten, ist nichts mehr zu sehen. Der kunstvolle, komplizierte Bau der Waben ist zwar noch vorhanden, aber nicht mehr in dem Zustand jungfräulicher Reinheit wie früher. Alles ist vernachlässigt und beschmutzt. Schwarze Raubbienen schlüpfen hurtig und verstohlen durch die Bauten; die im Stock einheimischen Bienen, die zusammengetrocknet, kürzer geworden, matt und gewissermaßen gealtert aussehen, wandern langsam umher, ohne einem Eindringling zu wehren und ohne mehr etwas zu begehren; sie haben sozusagen das Bewußtsein des Lebens verloren. Drohnen, Hornissen, Hummeln und Schmetterlinge stoßen einfältig im Flug gegen die Wände des Bienenstockes. Hier und da läßt sich zwischen den Waben mit toter Brut und Honig mitunter ein zorniges Brummen hören. An einer Stelle bemühen sich zwei Bienen aus alter Gewohnheit und Erinnerung, den gemeinsamen Wohnsitz, den Bienenstock, zu reinigen, indem sie, sich über ihre Kräfte anstrengend, eine tote Biene oder Hummel hinausschleppen, ohne selbst recht zu wissen, wozu sie das tun. In einer anderen Ecke kämpfen zwei alte Bienen lässig miteinander oder reinigen oder füttern sich gegenseitig, ohne sich darüber klar zu sein, ob sie einander feind oder freund sind. An einer dritten Stelle fällt ein dichtgedrängter Haufe von Bienen über irgendein Opfer her und schlägt und würgt es; und die ermattete oder getötete Biene fällt langsam und leicht wie eine Feder hinunter, oben auf den Haufen der schon daliegenden Leichen. Der Imker wendet zwei der mittleren Waben um, um das Nest zu sehen. Statt der früheren, dichten, schwarzen Massen[517] von tausend und abertausend Bienen, die Rücken an Rücken saßen und das hohe Geheimnis der Arterhaltung hüteten, sieht er nur einige hundert kümmerliche, halbtote, in Lethargie versunkene, übriggebliebene Bienen. Die andern sind, ohne es selbst zu merken, gestorben, während sie auf dem Heiligtum saßen, das sie hüteten und das nun nicht mehr ist; ein Geruch nach Fäulnis und Tod geht von ihnen aus. Nur einige bewegen sich noch, richten sich auf, fliegen matt umher und setzen sich ihrem Feind auf die Hand, vermögen aber nicht mehr, ihn zu stechen und dadurch zu sterben; die übrigen, die toten, fallen wie Fischschuppen leicht hinunter. Der Imker schließt den Deckel, macht mit Krei de ein Zeichen an den Stock und wählt sich dann später eine Zeit, um ihn zu entleeren und auszubrennen.

So öde war Moskau, als Napoleon, müde, beunruhigt und finster, beim Kamerkolleschski-Wall auf und ab ging und auf die Erfüllung jener zwar nur äußerlichen, aber nach seinen Begriffen unerläßlichen Forderung des Anstandes wartete: auf die Entsendung einer Deputation.

Nur in einigen Straßen Moskaus setzten die Menschen, gedankenlos die alten Gewohnheiten beibehaltend, ihr bisheriges Treiben fort, ohne selbst zu verstehen, was sie taten.

Als man dem Kaiser mit der erforderlichen Vorsicht mitgeteilt hatte, daß Moskau von den Einwohnern verlassen sei, warf er demjenigen, der ihm diese Meldung erstattete, einen zornigen Blick zu, wandte sich ab und setzte schweigend seine Wanderung fort.

»Der Wagen soll vorfahren«, befahl er.

Er setzte sich mit dem diensttuenden Adjutanten hinein und fuhr in die Vorstadt. »Moskau von den Einwohnern verlassen! Welch ein außerhalb aller Berechnungen liegendes Ereignis!« sagte er zu sich selbst.[518]

Er fuhr nicht in die Stadt, sondern ließ bei einer Herberge in der Dorogomilowskaja-Vorstadt halten.

Der Theatercoup war mißglückt.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 515-519.
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