XXI

[519] Die russischen Truppen zogen von zwei Uhr nachts bis zwei Uhr mittags durch Moskau hindurch, und ihnen schlossen sich die letzten der wegfahrenden Einwohner und Verwundeten an.

Das schlimmste Gedränge bei diesem Marsch der Truppen fand bei der Kamenny-, der Moskworezki-und der Jauski-Brücke statt.

Während die Truppen, die sich um den Kreml herum in zwei Kolonnen gespalten hatten, sich auf der Moskworezki- und auf der Kamenny-Brücke drängten, machten sich sehr viele Soldaten den Aufenthalt und das Gewühl zunutze, kehrten von den Brücken um und schlüpften verstohlen und stillschweigend an der Wasili-Blaschenny-Kirche vorbei oder durch das Borowizkija-Tor zurück bergauf nach dem Roten Platz; denn ein gewisser Instinkt sagte ihnen, daß man sich dort ohne Mühe fremdes Gut aneignen könne. Die Menschenmenge, die den Basar in allen seinen Haupt- und Nebengängen erfüllte, war so groß, wie sie überall da zu sein pflegt, wo billige Waren zu haben sind. Aber es fehlten die heuchlerisch-freundlichen, lockenden Stimmen der Verkäufer, es fehlten die umherwandernden Händler und der bunte Schwarm kauflustiger Weiber; man sah nur die Uniformen und Mäntel von Soldaten, die ohne Gewehre schweigsam teils mit Lasten von den Ladenreihen fortgingen, teils ohne Lasten sich dorthin begaben. Die Kaufleute und Ladendiener, deren nur sehr wenige da waren, bewegten sich verstört zwischen den Soldaten, öffneten und schlossen ihre Läden und brachten selbst mit[519] Hilfe von Trägern ihre Waren irgendwohin weg. Auf dem Platz beim Basar standen Tambours und schlugen Appell. Aber der Ton der Trommel veranlaßte die plündernden Soldaten nicht wie früher, sich da zu sammeln, wohin er sie rief, sondern vielmehr weiter von der Trommel wegzulaufen. Zwischen den Soldaten konnte man in den Läden und Gängen Männer bemerken, die an ihren grauen Röcken und rasierten Köpfen als Sträflinge kenntlich waren. Zwei Offiziere, von denen der eine eine Schärpe über der Uniform trug und auf einem abgemagerten dunkelgrauen Pferd saß, der andere einen Mantel anhatte und zu Fuß war, standen an der Ecke der Iljinka-Straße und redeten miteinander. Ein dritter Offizier kam zu ihnen herangesprengt.

»Der General hat befohlen, die Soldaten sofort unter allen Umständen sämtlich von den Läden fortzutreiben. Dieses Benehmen ist ja unerhört! Die Hälfte der Leute ist von der Truppe weggelaufen!«

»Wohin willst du da ...? Wo wollt ihr da hin?« schrie er drei Infanteristen an, die ohne Gewehre, die Mantelschöße ein wenig anhebend, nach den Läden zu an ihm vorbeischlüpfen wollten. »Halt, ihr Kanaillen!«

»Ja, versuchen Sie nur, die zusammenzubekommen!« erwiderte einer der beiden andern Offiziere. »Die kriegt man nicht zusammen. Wir müßten schneller marschieren, damit uns die letzten nicht davongehen; das ist das einzige Mittel!«

»Wie sollen wir schneller marschieren? Wir haben dort haltmachen müssen; auf der Brücke ist ein furchtbares Gedränge; man kommt nicht vom Fleck. Oder sollen wir eine Postenkette aufstellen, damit die letzten nicht davonlaufen?«

»Gehen Sie doch einmal hin und jagen Sie sie hinaus!« rief der höchste der Offiziere.[520]

Der Offizier mit der Schärpe stieg vom Pferd, rief einen Tambour heran und ging mit ihm zusammen unter die Arkaden. Ein Haufe Soldaten machte schleunigst, daß er davonkam. Ein Kaufmann mit roten Pusteln auf den Backen neben der Nase und mit einem ruhigen, festen, berechnenden Gesichtsausdruck, trat eilig und in gezierter Manier unter lebhaften Gestikulationen auf den Offizier zu.

»Euer Wohlgeboren«, sagte er, »haben Sie die Gewogenheit und beschützen Sie uns. Auf eine Kleinigkeit soll es uns nicht ankommen; mit dem größten Vergnügen; wenn es Ihnen beliebt, bringe ich sofort, sagen wir, zwei Stücke Tuch heraus, Tuch für einen vornehmen Herrn; mit dem größten Vergnügen; denn wir sehen das ja ein. Aber dies hier, was stellt das vor? Das ist ja der reine Raub! Bitte, haben Sie die Güte! Wenn Sie eine Wache hinstellen wollten, damit man wenigstens die Möglichkeit hätte, den Laden zuzumachen.«

Es drängten sich noch ein paar andere Kaufleute um den Offizier herum.

»Ach was! Unnützes Gebelfer!« sagte einer von ihnen, ein hagerer Mann mit strengem Gesichtsausdruck. »Wem der Kopf abgeschnitten wird, der weint nicht um sein Haar. Mag doch jeder von der Ware nehmen, was ihm gefällt!« Er machte eine energische Handbewegung, als sei ihm das alles gleichgültig, und wendete sich um, so daß er dem Offizier die Seite zukehrte.

»Ja, du hast gut reden, Iwan Sidorowitsch!« sagte der erste Kaufmann ärgerlich. »Bitte, haben Sie die Güte, Euer Wohlgeboren!«

»Was redest du!« rief der Hagere. »Ich habe hier in drei Läden für hunderttausend Rubel Ware. Aber beschützen kann ich die ja doch nicht, da unser Heer abzieht. Ach, ihr Menschen, ihr[521] Menschen! Gottes allmächtigen Willen werdet ihr mit euren schwachen Händen nicht hemmen!«

»Bitte, haben Sie die Güte, Euer Wohlgeboren«, sagte der erste Kaufmann mit einer tiefen Verbeugung.

Der Offizier stand zweifelnd, was er tun sollte, und auf seinem Gesicht malte sich seine Unschlüssigkeit.

»Ach, was geht mich das an!« rief er plötzlich und ging mit schnellen Schritten vorwärts durch die Ladenreihe hin.

Aus einem offenstehenden Laden war Schlägerei und Schimpfen zu hören, und als der Offizier sich ihm näherte, wurde gerade ein Mann in grauem Kittel und mit rasiertem Kopf aus der Tür hinausgeworfen.

Dieser Mensch schlüpfte in gebückter Haltung an den Kaufleuten und dem Offizier vorbei. Der Offizier fuhr die Soldaten an, die sich in dem Laden befanden. Aber in diesem Augenblick erscholl ein furchtbares Geschrei vieler Menschen von der Moskworezki-Brücke her und der Offizier lief auf den Platz.

»Was gibt es? Was gibt es?« fragte er; aber der eine seiner Kameraden sprengte schon in der Richtung nach dem Geschrei davon, an der Wasili-Blaschenny-Kirche vorbei.

Der Offizier stieg zu Pferd und ritt ihm nach. Als er zur Brücke kam, sah er zwei abgeprotzte Kanonen dastehen, Infanterie, die über die Brücke marschierte, einige umgeworfene Bauernwagen, erschrockene Gesichter von Einwohnern und lachende Soldatengesichter. Neben den Kanonen stand ein zweispänniges Fuhrwerk. Hinter den Hinterrädern dieses Fuhrwerkes drängten sich vier Windhunde mit Halsbändern zusammen. Auf dem Fuhrwerk lag ein ganzer Berg von Sachen, und ganz obendrauf, neben einem Kinderstühlchen, das die Beine nach oben streckte, saß eine Frau, die ein durchdringendes,[522] verzweifeltes Jammergeschrei ausstieß. Die Kameraden erzählten dem Offizier, weshalb die Menge so gekreischt habe und das Weib so jammere. General Jermolow sei angeritten gekommen, habe gesehen, daß die Brücke durch Haufen von Einwohnern versperrt sei, und erfahren, daß infolgedessen die Soldaten sich in den Läden zerstreuten; da habe er befohlen, ein paar Geschütze abzuprotzen, als ob er auf die Brücke schießen lassen wolle. Die Menge habe, einander halbtot drückend, unter entsetzlichem Geschrei und Gedränge die Brücke geräumt, so daß die Truppen nun hinübermarschieren könnten.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 519-523.
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