XXV

[539] Um neun Uhr vormittags, als die russischen Truppen schon durch Moskau hindurchzogen, kam niemand mehr, um Anordnungen des Grafen einzuholen. Wer wegziehen konnte, zog von selbst weg, und die Zurückbleibenden trafen selbst Entscheidung darüber, was sie tun sollten.

Der Graf hatte befohlen, seinen Wagen anzuspannen, um nach Sokolniki zu fahren, und saß nun finster und schweigsam, mit gelblichem Gesicht und mit zusammengelegten Händen in seinem Arbeitszimmer.

Jeder hohe Verwaltungsbeamte hat in ruhigen, nicht stürmischen Zeiten die Vorstellung, daß nur infolge seiner Anstrengungen sich die ganze ihm unterstellte Bevölkerung bewegt, und in diesem Gefühl seiner Unentbehrlichkeit findet jeder hohe Verwaltungsbeamte den hauptsächlichsten Lohn seiner Mühe und Arbeit. Es ist ja auch begreiflich, daß, solange das Meer der Weltgeschichte ruhig ist, der Verwaltungsbeamte, der von seinem schwachen Kahn aus sich mit einer Stange gegen das Schiff des Volkes stemmt und selbst sich mit Händen und Füßen bewegt, glauben muß, das Schiff, gegen das er sich stemmt, bewege sich infolge seiner Anstrengungen. Aber es braucht sich nur ein Sturm zu erheben, das Meer unruhig zu werden und das Schiff sich von selbst zu bewegen, so wird ein Verharren in diesem Irrtum unmöglich. Das Schiff geht unabhängig in mächtiger Fahrt vorwärts, die Stange reicht nicht mehr an das sich bewegende Schiff heran, und der hohe Beamte geht auf einmal aus seiner Stellung als Machthaber und als Quelle der Kraft in die eines nichtigen, unnützen, schwachen Menschen über.

Rastoptschin empfand dies, und das war es, was ihn so reizbar machte.[540]

Der Polizeimeister, den die Volksmenge angehalten hatte, trat zu dem Grafen ins Zimmer, und mit ihm zugleich der Adjutant, welcher meldete, daß der Wagen bereitstehe. Beide sahen bleich aus. Nachdem der Polizeimeister über die Ausführung seines Auftrags Bericht erstattet hatte, teilte er dem Grafen mit, daß eine große Volksmenge, draußen auf dem Hof stehe und ihn zu sehen wünsche.

Rastoptschin stand, ohne ein Wort zu erwidern, auf, begab sich mit schnellen Schritten in seinen luxuriös ausgestatteten, hellen Salon, trat an die Balkontür und griff nach der Klinke; aber er ließ sie wieder los und ging an ein Fenster, von dem aus er die ganze Volksmenge besser sehen konnte. Der lange Bursche stand unter den vordersten und redete etwas mit ernster Miene und beständigen Gestikulationen. Der Schmied mit dem blutigen Gesicht stand in finsterer Haltung neben ihm. Durch die geschlossenen Fenster war das dumpfe Stimmengewirr zu hören.

»Ist der Wagen bereit?« fragte Rastoptschin, vom Fenster zurücktretend.

»Jawohl, Euer Erlaucht«, antwortete der Adjutant.

Rastoptschin trat wieder an die Balkontür.

»Aber was wollen sie denn eigentlich?« fragte er den Polizeimeister.

»Euer Erlaucht, sie sagen, sie hätten sich auf Ihren Befehl versammelt, um gegen die Franzosen zu ziehen, und dann schrien sie etwas von Verrat. Aber die Volksmenge ist gewalttätig, Euer Erlaucht. Ich bin nur mit Mühe von ihr losgekommen. Ich erlaube mir den Vorschlag, Euer Erlaucht ...«

»Sie können gehen; ich weiß ohne Sie, was ich zu tun habe«, schrie Rastoptschin ärgerlich.

Er stand an der Balkontür und blickte auf die Menge hinunter. »Das haben sie nun aus Rußland gemacht! Das haben sie aus[541] mir gemacht!« dachte er und fühlte, wie in seinem Herzen ein unbändiger Ingrimm gegen jemand aufstieg, dem die Schuld an allem Geschehenen beigemessen werden könnte. Wie das bei hitzigen Menschen oft vorkommt, hatte sich der Zorn seiner schon bemächtigt, während er immer noch nach einem Gegenstand für denselben suchte. »Da ist sie nun, diese Bande, die Hefe des Volkes«, dachte er, indem er auf die Volksmenge hinblickte, »der Pöbel, den sie durch ihre Dummheit aufgewiegelt haben. Dieser Pöbel braucht ein Opfer«, ging es ihm durch den Kopf, als er den gestikulierenden langen Burschen ansah. Und dieser Gedanke kam ihm deshalb in den Kopf, weil er selbst ein solches Opfer, einen Gegenstand für seinen Zorn, brauchte.

»Ist der Wagen bereit?« fragte er noch einmal.

»Jawohl, Euer Erlaucht. Was befehlen Sie in betreff Wereschtschagins? Er wartet an der Freitreppe«, antwortete der Adjutant.

»Ah!« rief Rastoptschin, wie von einem plötzlichen Einfall überrascht.

Schnell riß er die Tür auf und trat mit entschlossenen Schritten auf den Balkon hinaus. Die Gespräche verstummten sofort; die Mützen wurden abgenommen, und alle Augen richteten sich nach oben zu dem draußen stehenden Grafen.

»Guten Tag, Kinder!« sagte der Graf schnell und laut. »Ich danke euch, daß ihr gekommen seid. Ich werde sofort zu euch nach unten kommen; aber vor allen Dingen müssen wir mit einem Bösewicht fertigwerden. Wir müssen einen Bösewicht bestrafen, der schuld daran ist, daß Moskau zugrunde geht. Wartet einen Augenblick auf mich!«

Der Graf kehrte ebenso schnell wieder in sein Zimmer zurück und schlug die Tür kräftig hinter sich zu.

Durch die Menge lief ein beifälliges Gemurmel der Befriedigung.[542] »Seht ihr wohl, er wird schon mit allen Bösewichtern fertigwerden! Und du sagtest, er wäre ein heimlicher Franzose ... er wird ihnen schon ihren Lohn geben!« sagten die Leute, als wollten sie sich untereinander wegen ihres mangelnden Zutrauens Vorwürfe machen.

Einige Minuten darauf trat aus dem Hauptportal eilig ein Offizier heraus, gab den dort stehenden Dragonern einen Befehl, und diese nahmen zum Zeichen des Gehorsams eine stramme Haltung an. Die Menge strömte in Spannung vom Balkon zur Freitreppe hin. Rastoptschin trat mit schnellen Schritten und zorniger Miene aus dem Haus auf die Freitreppe hinaus und warf einen raschen Blick um sich, wie wenn er jemand suchte.

»Wo ist er?« fragte der Graf.

In demselben Augenblick, in dem er das sagte, sah er, wie um die Ecke des Hauses zwischen zwei Dragonern ein junger Mensch herumkam, mit langem, dünnem Hals und halb abrasiertem, halb von Haar bedecktem Kopf. Dieser junge Mann trug einen kurzen, mit blauem Tuch überzogenen Pelz von Fuchsfell, der ehemals elegant gewesen war, jetzt aber sehr abgenutzt aussah, und schmutzige Sträflingshosen von Hanfleinwand, die in ungeputzte, schiefgetretene, dünne Stiefel hineingesteckt waren. An den dünnen, schwachen Beinen hingen schwere Fußfesseln, die den unsicheren Gang des jungen Mannes noch mehr erschwerten.

»Ah!« machte Rastoptschin. Er wandte seinen Blick von dem jungen Mann im Fuchspelz schnell ab und sagte, indem er auf die unterste Stufe der Freitreppe wies: »Stellt ihn hierher!«

Der junge Mann trat, mit den Fußfesseln klirrend, schwerfällig auf die ihm angewiesene Stufe, drehte, indem er mit einem Finger den ihn kneifenden Kragen des Pelzes festhielt, den langen Hals zweimal hin und her und legte seufzend mit einer[543] demütigen Gebärde seine schmalen, an körperliche Arbeit offenbar nicht gewöhnten Hände vor dem Leib zusammen.

Einige Sekunden, während deren der junge Mensch sich auf der Stufe zurechtstellte, vergingen unter Stillschweigen. Nur in den hinteren Reihen der nach einem Punkt hindrängenden Menge hörte man Räuspern, Stöhnen, Stoßen und das Geräusch hin und her tretender Füße.

Rastoptschin, der gewartet hatte, bis der junge Mensch auf dem angewiesenen Platz stand, zog finster die Brauen zusammen und rieb sich mit der Hand das Gesicht.

»Kinder!« sagte Rastoptschin mit metallisch klingender, volltönender Stimme, »dieser Mensch, Wereschtschagin, das ist der Schurke, durch den Moskau zugrunde geht.«

Der junge Mensch in dem kurzen Fuchspelz stand in demütiger Haltung da, die Hände vor dem Leib zusammengelegt, die ganze Gestalt ein wenig zusammengekrümmt. Sein abgemagertes, durch den rasierten Kopf entstelltes jugendliches Gesicht mit dem hoffnungslosen Ausdruck war zu Boden gesenkt. Bei den ersten Worten des Grafen hatte er langsam den Kopf erhoben und von unten nach dem Grafen hingeblickt, als wollte er ihm etwas sagen oder wenigstens seinen Blick auffangen. Aber Rastoptschin sah ihn nicht an. An dem langen, dünnen Hals des jungen Mannes schwoll die Ader hinter dem Ohr wie ein Strick an und färbte sich bläulich, und plötzlich wurde sein Gesicht rot.

Alle Augen waren auf ihn gerichtet. Er blickte nach der Volksmenge hin, und wie wenn der Ausdruck, den er auf den Gesichtern der Leute wahrnahm, seine Hoffnung ein wenig belebt hätte, lächelte er traurig und schüchtern; dann ließ er den Kopf wieder sinken und stellte sich mit den Füßen auf der Stufe zurecht.

»Er hat seinen Zaren und sein Vaterland verraten, er hat sich[544] diesem Bonaparte hingegeben, er allein unter allen Russen hat dem Namen eines Russen Schande gemacht, und durch seine Schuld geht Moskau zugrunde«, sagte Rastoptschin mit gleichmäßiger, scharfer Stimme; plötzlich aber sah er schnell auf Wereschtschagin hinunter, der immer noch in derselben demütigen Haltung dastand. Wie wenn dieser Anblick ihn in Empörung versetzt hätte, hob er den Arm in die Höhe und rief, zum Volk gewendet, fast schreiend:

»Vollstreckt selbst an ihm das Urteil! Ich übergebe ihn euch!«

Das Volk schwieg und drängte sich nur noch enger aneinander. So dicht einander zu berühren, diese verdorbene, stickige Luft zu atmen, sich nicht bewegen zu können und auf etwas Unbekanntes, Unbegreifliches, Furchtbares zu warten, das wurde unerträglich. Diejenigen, die sich in den vorderen Reihen befanden und alles, was vor ihnen vorging, gesehen und gehört hatten, standen alle mit angstvoll aufgerissenen Augen und offenem Mund da und hielten unter Anspannung aller ihrer Kräfte mit ihrem Rücken den Andrang ihrer Hintermänner auf.

»Schlagt ihn nieder ...! Möge der Verräter umkommen und nicht länger den Namen eines Russen verunehren!« schrie Rastoptschin. »Schlagt ihn nieder! Ich befehle es!«

Durch die Menge, die nicht sowohl die Worte als den zornigen Klang der Stimme Rastoptschins gehört hatte, ging ein Ton wie ein Stöhnen; sie bewegte sich vorwärts, blieb dann aber wieder stehen.

»Graf!« sagte inmitten des wieder eingetretenen momentanen Schweigens Wereschtschagin mit schüchterner und zugleich etwas theatralisch klingender Stimme. »Graf, nur Gott, der über uns ist ...« Er hatte den Kopf aufgerichtet, und von neuem füllte sich die dicke Ader an seinem dünnen Hals mit Blut, und eine schnelle Röte trat auf sein Gesicht und verschwand wieder.[545]

Er kam nicht dazu, das, was er sagen wollte, zu Ende zu sprechen.

»Schlagt ihn nieder! Ich befehle es!« schrie Rastoptschin, der auf einmal ebenso blaß wurde wie Wereschtschagin.

»Blank ziehen!« schrie der Offizier den Dragonern zu und zog selbst den Säbel aus der Scheide.

Eine zweite, noch stärkere Welle ging durch die Volksmenge dahin, setzte, als sie zu den ersten Reihen gelangt war, die vorn Stehenden in Bewegung und trug sie schaukelnd bis dicht an die Stufen der Freitreppe. Der lange Bursche stand mit gleichsam versteinertem Gesichtsausdruck, den Arm regungslos erhoben, neben Wereschtschagin.

»Haut zu!« sagte, beinahe flüsternd, der Offizier zu den Dragonern.

Und einer von den Soldaten versetzte mit wutentstelltem Gesicht Wereschtschagin plötzlich mit der flachen Klinge einen Hieb über den Kopf.

»Ah!« schrie Wereschtschagin vor Überraschung kurz auf, indem er sich erschrocken umblickte und nicht zu begreifen schien, warum man ihm das tat. Ein ähnliches Stöhnen der Überraschung und des Schrecks lief durch die Menge. »O mein Gott!« rief jemand in klagendem Ton.

Aber unmittelbar nach diesem Ausruf der Überraschung, den Wereschtschagin unwillkürlich ausgestoßen hatte, schrie er kläglich vor Schmerz auf, und dieser Schrei war sein Verderben. Jene bereits dem Höchstdruck ausgesetzte Schranke menschlichen Gefühls, durch die bisher noch die Menge zurückgehalten war, wurde nun augenblicklich durchbrochen. Das Verbrechen war begonnen; jetzt mußte es auch durchgeführt werden. Das klagende Stöhnen des Vorwurfs wurde übertäubt von dem drohenden Zorngebrüll der Menge. Wie die letzte, siebente Meereswoge, die[546] die Schiffe zerschmettert, so wälzte sich von den hinteren Reihen her diese letzte Woge unwiderstehlich heran, gelangte bis zu den vordersten Reihen, schlug auf sie nieder und verschlang alles. Der Dragoner, der dem Unglücklichen den ersten Schlag versetzt hatte, wollte noch einmal zuschlagen. Wereschtschagin stürzte mit einem Angstschrei, die Arme zum Schutz über den Kopf haltend, auf die Volksmenge zu. Der lange Bursche, gegen den er prallte, umklammerte Wereschtschagins dünnen Hals mit seinen Händen und fiel, einen wilden Schrei ausstoßend, mit ihm zusammen unter die Füße der brüllenden Menge, die sich über sie warf.

Die einen schlugen und zerrten Wereschtschagin, die andern den langen Burschen. Und das Geschrei der gequetschten Menschen und derjenigen, die den langen Burschen zu retten suchten, diente nur dazu, die Wut der Menge noch zu steigern. Lange konnten die Dragoner den blutüberströmten, halbtot geschlagenen Fabrikarbeiter nicht befreien. Und lange konnten, trotz der fieberhaften Eile, mit der die Menge das einmal begonnene Werk zu Ende zu führen suchte, diejenigen, die Wereschtschagin schlugen, würgten und zerrten, ihn nicht töten; denn die Menge preßte sie von allen Seiten zusammen, schwankte dabei, sie in ihrer Mitte fest umschlossen haltend, wie eine einzige Masse von einer Seite zur andern und ließ ihnen weder die Möglichkeit, ihn vollends zu töten, noch auch, ihn loszulassen.

»Schlagt ihn doch mit dem Beil! Zu, zu ...! Habt ihr ihn erwürgt ...? Der Verräter! Hat seinen Herrn Jesus Christus verraten ...! Er lebt noch ... Der hat ein zähes Leben ...! Wie die Taten, so der Lohn. Mit dem Beil ...! Ist er denn noch lebendig?«

Erst als das Opfer sich nicht mehr wehrte und sein Schreien in ein gleichmäßiges, langgezogenes Röcheln übergegangen war,[547] begann die Menge eilig um den daliegenden, blutbefleckten Leichnam herum Platz zu machen. Ein jeder trat heran, betrachtete, was geschehen war, und drängte mit einer Miene des Schreckens, des Vorwurfs und des Staunens zurück.

»O mein Gott! Das Volk ist doch wie ein wildes Tier! Wer kann dagegen aufkommen?« wurde in der Menge geredet. »Und es ist ein so junger Mensch ... gewiß aus dem Kaufmannsstand. Ja, dieses Volk, dieses Volk ...! Sie sagen, es ist nicht der richtige ... Gewiß wird es nicht der richtige sein ... O Gott ...! Sie haben noch einen andern zerhauen; es heißt, er ist kaum noch am Leben ... Ach, dieses Volk ...! Fürchtet sich vor keiner Sünde ...« So redeten jetzt dieselben Menschen, die soeben noch mit gerast hatten, und betrachteten mit schmerzlich klagender Miene den toten Körper mit dem bläulich gewordenen, von Blut und Staub beschmutzten Gesicht und dem zerschlagenen langen, dünnen Hals.

Ein diensteifriger Polizeibeamter, der es ungehörig fand, daß ein Leichnam auf dem Hof Seiner Erlaucht liege, befahl den Dragonern, den Körper auf die Straße zu schleppen. Die beiden Dragoner ergriffen ihn an den verunstalteten Beinen und zogen ihn nach draußen. Der blutige, von Staub verunreinigte, rasierte Kopf an dem langen Hals schleifte, sich drehend, auf der Erde. Das Volk drängte sich von dem Leichnam weg.

In dem Augenblick, als Wereschtschagin hingefallen war und die Menge sich mit wildem Geheul um ihn gedrängt und über dem Niedergesunkenen hin und her geschwankt hatte, war Rastoptschin plötzlich blaß geworden, und statt nach dem hinteren Ausgang zu gehen, wo ihn sein Wagen erwartete, ging er, ohne selbst zu wissen, wohin er ging und warum er das tat, mit gesenktem Kopf schnellen Schrittes den Korridor entlang, der nach den Zimmern des unteren Stockwerks führte. Das Gesicht des[548] Grafen war bleich, und er vermochte nicht, seinen wie im Fieber zitternden Unterkiefer still zu halten.

»Euer Erlaucht, hierher ... Wohin belieben Euer Erlaucht zu gehen ...? Hierher, bitte!« sagte hinter ihm her ein Diener mit ängstlich zitternder Stimme.

Graf Rastoptschin war nicht imstande, etwas zu erwidern; gehorsam machte er kehrt und schlug die ihm gewiesene Richtung ein. An der Hintertür stand sein Wagen. Das ferne Getöse der brüllenden Menge war auch hier noch zu hören. Graf Rastoptschin setzte sich eilig in den Wagen und befahl dem Kutscher, ihn nach seinem Landhaus in Sokolniki zu fahren.

Als er in die Mjasnizkaja-Straße einbog und das Geschrei der Volksmenge nicht mehr hörte, begann er sich über sich selbst zu ärgern. Mit Verdruß dachte er jetzt an die Beängstigung und Aufregung, die er vor seinen Untergebenen hatte merken lassen. »Der Pöbel ist schrecklich, geradezu scheußlich«, dachte er auf französisch. »Sie sind wie die Wölfe, die man auch nur durch Fleisch zur Ruhe bringen kann.« »Graf, nur Gott, der über uns ist ...« Diese Worte Wereschtschagins fielen ihm auf einmal ein, und ein unangenehmes Gefühl der Kälte lief ihm den Rücken entlang. Aber dieses Gefühl war nur ein momentanes, und Graf Rastoptschin lächelte sofort geringschätzig über sich selbst. »Ich hatte andere Pflichten«, dachte er. »Ich mußte das Volk beruhigen. Es sind schon gar manche Opfer um des Gemeinwohls willen umgekommen und werden noch viele umkommen.« Und nun dachte er über die allgemeinen Pflichten nach, die er gegen seine Familie, gegen die seiner Obhut anvertraute Hauptstadt und gegen sich selbst hatte, d.h. nicht gegen Fjodor Wasiljewitsch Rastoptschin persönlich (er war der Ansicht, daß Fjodor Wasiljewitsch Rastoptschin sich für das Gemeinwohl aufopfere), sondern gegen sich als den Oberkommandieren von Moskau, den[549] Repräsentanten der Staatsgewalt und den Bevollmächtigten des Zaren. »Wäre ich weiter nichts als Fjodor Wasiljewitsch, so wäre mir eine ganz andere Richtlinie für mein Verhalten vorgezeichnet; so aber mußte ich das Leben und die Würde des Oberkommandierenden beschützen.«

Jetzt, wo er auf den weichen Federn der Equipage leise geschaukelt wurde und die furchtbaren Laute der Volksmenge nicht mehr hörte, beruhigte Rastoptschin sich physisch, und wie das immer so geht, lieferte ihm, gleichzeitig mit der physischen Beruhigung, der Verstand auch Gründe für die Beruhigung der Seele. Der Gedanke, welcher dem Grafen zur Beruhigung verhalf, war nicht neu. Seit die Welt steht und die Menschen einander totschlagen, begeht nie ein Mensch ein Verbrechen gegen einen Mitmenschen, ohne sich durch ebendiesen Gedanken zu beruhigen. Dieser Gedanke ist das vermeintliche Gemeinwohl.

Einem Menschen, der nicht von Leidenschaft befallen ist, ist dieses Gemeinwohl niemals bekannt; aber ein Mensch, der ein Verbrechen begeht, weiß immer ganz genau, worin dieses Gemeinwohl besteht. Und Rastoptschin wußte es jetzt.

Weit entfernt, daß er sich in seinen Reflexionen Vorwürfe über die von ihm begangene Tat gemacht hätte, fand er vielmehr allen Grund, mit sich selbst zufrieden zu sein, weil er es so geschickt verstanden hatte, diese gute Gelegenheit zu benutzen: einen Verbrecher zu bestrafen und gleichzeitig das Volk zu beruhigen.

»Wereschtschagin war gerichtet und zum Tod verurteilt«, dachte Rastoptschin (allerdings war Wereschtschagin vom Senat nur zu Zwangsarbeit verurteilt worden). »Er war ein Verräter und Staatsfeind; ich durfte ihn nicht unbestraft lassen, und so erreichte ich denn mit einem Schlag zweierlei: ich beruhigte das Volk, indem ich ihm ein Opfer preisgab, und bestrafte einen Verbrecher.«[550]

Als der Graf nach seinem Landhaus gekommen war und sich nun dort mit seinen häuslichen Angelegenheiten beschäftigte, beruhigte er sich vollständig.

Eine halbe Stunde darauf fuhr er in schnellem Trab über das Feld von Sokolniki; an das, was geschehen war, dachte er nicht mehr; er erwog und überlegte nur, was nun weiter kommen werde. Er fuhr jetzt zur Jauski-Brücke, wo sich, wie ihm gesagt war, Kutusow befand.

Graf Rastoptschin legte sich in Gedanken die zornigen, spitzen Vorwürfe zurecht, die er Kutusow wegen der von diesem begangenen Täuschung zu machen beabsichtigte. Er wollte es diesem alten, höfisch schlauen Fuchs schon zu verstehen geben, daß die Verantwortung für all das Unglück, das aus der Preisgabe der Hauptstadt und dem Zusammenbruch Rußlands (wie Rastoptschin dachte) hervorgehen werde, einzig und allein auf seinen vor Altersschwäche allen Verstandes baren Kopf falle. Während Rastoptschin so im voraus überlegte, was er zu Kutusow sagen wollte, rückte er zornig in seinem Wagen hin und her und blickte ärgerlich nach rechts und links.

Das Feld von Sokolniki war menschenleer. Nur am Rand desselben, bei dem Armenhaus und dem Irrenhaus, waren kleine Gruppen von Menschen in weißen Anzügen zu sehen sowie einige einzelne Leute derselben Art, die über das Feld gingen und irgend etwas schrien und lebhaft mit den Armen gestikulierten.

Einer von ihnen kam von der Seite herangelaufen, um dem Wagen des Grafen Rastoptschin den Weg abzuschneiden. Graf Rastoptschin selbst und sein Kutscher und die Dragoner, alle sahen sie mit einem unklaren Gefühl von Schrecken und Neugier nach diesen freigelassenen Irren und besonders nach dem, der zu ihnen herangelaufen kam.[551]

Auf seinen langen, mageren Beinen hin und her schwankend, lief dieser Irrsinnige in seinem flatternden Kittel aus Leibeskräften vorwärts, ohne die Augen von Rastoptschin wegzuwenden; dabei schrie er ihm mit heiserer Stimme etwas zu und machte ihm Zeichen, daß er anhalten möchte. Das mit ungleichmäßigen Bartflocken bewachsene, finstere, feierlich ernste Gesicht des Irren war mager und gelblich. Die schwarzen, achatartigen Pupillen in den safrangelben Augäpfeln liefen unruhig umher.

»Warte mal! Halt an, sage ich!« schrie er mit durchdringender Stimme und fügte dann ganz außer Atem noch etwas mit großem Nachdruck und heftigen Armbewegungen hinzu.

Nun hatte er den Wagen erreicht und lief neben ihm her.

»Dreimal haben sie mich totgeschlagen, und dreimal bin ich von den Toten auferstanden. Sie haben mich gesteinigt und gekreuzigt ... Ich werde auferstehen ... auferstehen ... auferstehen. Sie haben meinen Leib zerstückelt. Das Reich Gottes wird zerstört werden ... Dreimal werde ich es zerstören, und dreimal werde ich es wieder aufrichten!« schrie er immer lauter und lauter.

Graf Rastoptschin wurde plötzlich ebenso blaß wie vorhin, als die Menge sich auf Wereschtschagin gestürzt hatte. Er wandte sich weg. Der Wagen jagte dahin, so schnell die Pferde nur laufen konnten; aber noch lange hörte Graf Rastoptschin hinter sich das sinnlose, verzweifelte Schreien und sah vor seinen Augen das erstaunte, erschrockene, blutbefleckte Gesicht des Verräters im kurzen Pelzrock.

So frisch diese Erinnerung auch noch war, so fühlte Rastoptschin doch schon jetzt, daß sie tief, tief in sein Herz gegraben war. Er fühlte schon jetzt deutlich, daß die blutige Spur dieser Erinnerung nie vernarben werde, sondern diese furchtbare Erinnerung vielmehr bis an sein Lebensende in seinem Herzen fortdauern werde,[552] je länger um so schmerzlicher und peinvoller. Er glaubte jetzt den Klang seiner eigenen Worte zu hören: »Haut ihn nieder! Ihr steht mir dafür mit eurem Kopf!« »Warum habe ich diese Worte gesprochen? Sie sind mir nur so unversehens in den Mund gekommen. Ich hätte sie ungesprochen lassen können«, dachte er, »dann wäre alles Weitere nicht geschehen.« Er sah das erschrockene und darauf plötzlich einen grimmigen Ausdruck annehmende Gesicht des Dragoners, der dann zugeschlagen hatte, und den Blick stillschweigenden, schüchternen Vorwurfs, den dieser junge Mensch im Fuchspelz auf ihn gerichtet hatte. »Aber ich habe das nicht um meinetwillen getan. Ich mußte so handeln. Der Pöbel, der Verräter, das Gemeinwohl«, dachte er.

An der Jauski-Brücke drängten sich die Truppen immer noch. Es war heiß. Kutusow saß mit finsterer, niedergeschlagener Miene auf einer Bank bei der Brücke und spielte mit der Peitsche im Sand, als geräuschvoll eine Equipage zu ihm herangefahren kam. Ein Mann in Generalsuniform, einen Hut mit Federbusch auf dem Kopf, mit unstet umherlaufenden, halb zornigen, halb ängstlichen Augen trat an Kutusow heran und redete ihn französisch an. Es war Graf Rastoptschin. Er sagte Kutusow, er sei hergekommen, weil die Hauptstadt Moskau nicht mehr existiere und es nur noch eine Armee gebe.

»Es wäre anders gekommen, wenn Euer Durchlaucht mir nicht gesagt hätten, daß Sie Moskau nicht, ohne eine Schlacht zu liefern, preisgeben würden; dann hätte sich alles dies nicht ereignet!« sagte er.

Kutusow blickte Rastoptschin an, und wie wenn er den Sinn der an ihn gerichteten Worte nicht verstände, bemühte er sich mit Anstrengung, auf dem Gesicht des mit ihm Redenden etwas Besonderes, das etwa in diesem Augenblick darauf geschrieben wäre, zu lesen. Rastoptschin wurde verlegen und verstummte.[553] Kutusow wiegte sachte den Kopf hin und her, und ohne seinen forschenden Blick von Rastoptschins Gesicht wegzuwenden, sagte er leise:

»Ja, ich werde Moskau dem Feind nicht überlassen, ohne eine Schlacht geliefert zu haben.«

Ob nun Kutusow, als er diese Worte sprach, an etwas ganz anderes dachte, oder ob er sie absichtlich sagte, obwohl er wußte, daß sie sinnlos waren, jedenfalls gab Graf Rastoptschin darauf keine Antwort und trat eilig von Kutusow zurück. Und seltsam: der Oberkommandierende von Moskau, der stolze Graf Rastoptschin, nahm eine Peitsche in die Hand, ging zur Brücke hin und machte sich laut schreiend daran, die Fuhrwerke, die sich dort zusammendrängten, auseinanderzutreiben.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 539-554.
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