XXIV

[534] Am Abend des 1. September kehrte Graf Rastoptschin nach seinem Zusammensein mit Kutusow nicht in der besten Stimmung nach Moskau zurück. Er fühlte sich gekränkt und beleidigt, weil er keine Einladung zum Kriegsrat erhalten hatte und weil Kutusow sein Anerbieten, sich an der Verteidigung der Hauptstadt zu beteiligen, gar keiner Beachtung gewürdigt hatte; auch war er erstaunt über die neue Anschauung, die ihm im Lager entgegengetreten war, wonach die Frage nach der Ruhe in der Hauptstadt und der patriotischen Gesinnung ihrer Einwohner nicht etwa nur als eine sekundäre, sondern als eine völlig gleichgültige und unerhebliche betrachtet wurde. In dieser Stimmung also kehrte Graf Rastoptschin nach Moskau zurück. Nachdem er zu Abend gegessen hatte, legte er sich unausgekleidet auf das Sofa und wurde nach Mitternacht durch einen Kurier geweckt, der ihm einen Brief von Kutusow überbrachte. Kutusow schrieb darin, da die Truppen sich hinter Moskau auf die Rjasansche Straße zurückzögen, so möchte der Graf einige Polizeibeamte abschicken, um die Truppen durch die Stadt hindurchzuführen. Diese Nachricht war für Rastoptschin keine Neuigkeit. Nicht erst seit der Begegnung mit Kutusow am vorhergehenden Tag auf dem Poklonnaja-Berg, sondern schon seit der Zeit unmittelbar nach der Schlacht bei Borodino, als alle Generale, die nach Moskau kamen, einstimmig sagten, es sei unmöglich, eine Schlacht zu liefern, und als auf seine, des Grafen Anordnung schon allnächtlich fiskalisches Eigentum weggeschafft wurde und die Hälfte der Einwohner wegzog, schon seitdem[534] hatte Graf Rastoptschin gewußt, daß Moskau preisgegeben werden würde; aber nichtsdestoweniger überraschte und kränkte es den Grafen, daß ihm diese Nachricht in Form eines einfachen Billetts, in Verbindung mit einem Befehl Kutusows mitgeteilt und ihm noch dazu bei Nacht, in der Zeit des ersten Schlafes, zugestellt wurde.

Als Graf Rastoptschin in der Folgezeit Aufklärungen über seine Tätigkeit während dieser Periode gab, hat er in seinen Memoiren an mehreren Stellen geschrieben, er habe damals zwei wichtige Ziele verfolgt: die Ruhe in Moskau aufrechtzuerhalten und die Einwohner zum Wegzug zu veranlassen. Läßt man diese zwiefache Absicht gelten, so erscheint jede einzelne Handlung Rastoptschins als tadelfrei. Warum wurden die Moskauer Heiligtümer, die Waffen, die Patronen, das Pulver, die Getreidevorräte nicht aus der Stadt geschafft? Warum wurden Tausende von Einwohnern durch die Vorspiegelung, Moskau werde dem Feind nicht überlassen werden, getäuscht und zu grunde gerichtet? Um die Ruhe in der Hauptstadt aufrechtzuerhalten, antwortet die Aufklärung des Grafen Rastoptschin. Warum wurden ganze Ballen wertloser Akten aus den Bureaus der Behörden und Leppichs Luftballon und andere Dinge wegtransportiert? Um die Stadt leer zurückzulassen, antwortet die Aufklärung des Grafen Rastoptschin. Man braucht nur als wahr anzunehmen, daß das ruhige Verhalten des Volkes irgendwie in Frage gestellt war, und jede Handlung des Grafen Rastoptschin wird gerechtfertigt erscheinen.

Alle Schreckenstaten seiner Gewaltherrschaft suchten ihre Begründung nur in seiner Sorge um das ruhige Verhalten des Volkes.

Aber worauf gründete sich die Furcht des Grafen Rastoptschin hinsichtlich des ruhigen Verhaltens des Volkes in Moskau im[535] Jahre 1812? Welcher Grund lag vor, eine Neigung zu Aufruhr in der Stadt vorauszusetzen? Die meisten Einwohner waren weggezogen; die auf dem Rückzug befindlichen Truppen erfüllten Moskau. Wie war unter solchen Umständen zu erwarten, daß das Volk einen Aufruhr veranstalten werde?

Weder in Moskau noch überhaupt in ganz Rußland ist bei der Invasion des Feindes etwas vorgekommen, was mit Aufruhr irgendwelche Ähnlichkeit gehabt hätte. Am 1. und 2. September waren über zehntausend Menschen in Moskau zurückgeblieben; aber abgesehen von einem Volkshaufen, der sich auf dem Hof des Oberkommandierenden von Moskau versammelte und den er selbst durch sein Verfahren dorthin zu kommen veranlaßt hatte, tat sich das Volk nirgends zusammen. Offenbar wäre eine Aufregung beim Volk noch weniger zu erwarten gewesen, wenn nach der Schlacht bei Borodino, als die Preisgabe Moskaus bereits sicher oder wenigstens wahrscheinlich war, Graf Rastoptschin, statt das Volk durch Austeilung von Waffen und durch Flugblätter zu erregen, Maßregeln zur Wegschaffung aller Heiligtümer, des Pulvers, der Munition und der fiskalischen Gelder getroffen und dem Volk geradeheraus gesagt hätte, daß man die Stadt dem Feind überlassen werde.

Rastoptschin, ein phantastischer, sanguinischer Mensch, der sich immer in den höchsten Verwaltungskreisen bewegt hatte, besaß zwar patriotisches Empfinden, aber nicht das geringste Verständnis für das Volk, das er zu leiten beabsichtigte. Gleich von der Zeit an, als der Feind in Smolensk eingerückt war, hatte sich Rastoptschin in Gedanken die Rolle eines Leiters des nationalen Empfindens der Stadt Moskau, dieses »Herzens von Rußland«, zurechtgelegt. Er meinte nicht nur (wie das jeder höhere Verwaltungsbeamte meint), die äußeren Handlungen der Einwohner von Moskau zu leiten, sondern glaubte auch ihre Stimmung[536] mittels seiner Aufrufe und Flugblätter lenken zu können, die in einer possenhaften Sprache geschrieben waren, welche das Volk im Mund seiner Standesgenossen geringachtet und für die es kein Verständnis hat, wenn es sie von Höherstehenden vernimmt. Die schöne Rolle eines Leiters des nationalen Empfindens gefiel dem Grafen Rastoptschin dermaßen, und er hatte sich so in sie hineingelebt, daß die Notwendigkeit, diese Rolle aufzugeben, die Notwendigkeit der Preisgabe Moskaus ohne jeden heroischen Effekt, ihn in Bestürzung versetzte und er plötzlich den Boden unter den Füßen verlor und schlechterdings nicht wußte, was er nun tun sollte. Obwohl er von der bevorstehenden Preisgabe Moskaus wußte, mochte er im Innersten seiner Seele bis zum letzten Augenblick nicht daran glauben und tat nichts nach dieser Richtung hin. Die Einwohner zogen gegen seinen Wunsch weg. Wenn die Behörden auswanderten, so geschah das nur auf Verlangen der Beamten, denen der Graf ungern nachgab. Er selbst interessierte sich lediglich für die Rolle, die er sich zurechtgemacht hatte. Wie das häufig bei Menschen vorkommt, die mit einer lebhaften Phantasie begabt sind, wußte er zwar schon längst, daß Moskau dem Feind werde überlassen werden, wußte es aber nur mit dem Verstand, ohne daß er imstande gewesen wäre, im Innersten seiner Seele daran zu glauben und sich mit der Phantasie in diese neue Lage hineinzuversetzen.

Seine ganze eifrige, energische Tätigkeit (inwieweit sie nützlich war und auf das Volk wirkte, ist eine andere Frage) war nur darauf gerichtet, bei den Einwohnern jenes Gefühl zu erwecken, das in ihm selbst lebendig war: einen patriotischen Haß gegen die Franzosen und Selbstvertrauen.

Aber als der Krieg seine wahren, geschichtlichen Dimensionen annahm, als es unzureichend war, seinen Franzosenhaß nur durch Worte auszudrücken, und unmöglich, es durch eine Schlacht[537] zu tun, als das Selbstvertrauen sich gerade bei der Frage der Verteidigung Moskaus als nutzlos erwies, als die ganze Bevölkerung, wie ein Mann, ihre Habe im Stich ließ und aus Moskau hinausströmte und durch diese negative Handlung die ganze Kraft ihres nationalen Empfindens an den Tag legte: da wurde die Rolle, die sich Rastoptschin ausgesucht hatte, auf einmal sinnlos. Er hatte plötzlich das Gefühl, daß er allein dastehe, schwach und lächerlich sei und keinen Boden unter den Füßen habe ...

Als er aus dem Schlaf aufgeweckt worden war und das in kühlem, befehlendem Ton abgefaßte Billett Kutusows erhalten hatte, geriet Rastoptschin in um so größere Entrüstung, je mehr er sich schuldig fühlte. In Moskau war alles zurückgeblieben, was gerade ihm anvertraut war, alles fiskalische Eigentum, das wegschaffen zu lassen seine Pflicht gewesen wäre. Alles jetzt noch wegzuschaffen, dazu war keine Möglichkeit.

»Wer ist nun schuld daran, wer hat es so weit kommen lassen?« fragte er sich. »Selbstverständlich ich nicht. Bei mir war alles bereit; ich hielt Moskau in fester Hand. Nun sieht man, wohin sie es gebracht haben! Die Schurken, die Verräter!« dachte er, ohne es sich so recht klarzumachen, wer denn diese Schurken und Verräter seien, aber in dem Gefühl, daß er diese Verräter, wer es auch immer sei, hassen müsse, die an der schiefen, lächerlichen Lage, in der er sich jetzt befand, die Schuld trügen.

Diese ganze Nacht über erteilte Rastoptschin Befehle, da man von allen Seiten Moskaus zu ihm kam, um solche von ihm einzuholen. Seine nähere Umgebung hatte den Grafen noch nie so finster und reizbar gesehen.

»Euer Erlaucht, es ist jemand aus dem Majoratsdepartement da; der Direktor läßt um Verhaltungsmaßregeln bitten ... Aus dem Konsistorium, vom Senat, von der Universität, aus dem[538] Findelhaus; der Vikar hat hergeschickt und läßt fragen ... Wie befehlen Sie, daß es mit der Feuerwehr gehalten wird ...? Der Gefängnisinspektor ... Der Inspektor aus dem Irrenhaus ...« Die ganze Nacht über wurde dem Grafen einer nach dem andern gemeldet.

Auf alle diese Anfragen gab der Graf kurze, ärgerliche Antworten, aus denen seine Auffassung der Lage ersichtlich war: daß es keinen Zweck mehr habe, jetzt noch Befehle zu erteilen, daß das ganze so sorgsam von ihm vorbereitete Werk nun von jemand zerstört sei, und daß dieser Jemand die ganze Verantwortung für alles werde zu tragen haben, was jetzt vorgehen werde.

»Na, sage diesem Tölpel«, antwortete er auf die Anfrage aus dem Majoratsdepartement, »er soll hierbleiben und seine Akten bewachen.«

»Na, was fragst du für Unsinn über die Feuerwehr? Wenn sie Pferde haben, mögen sie nach Wladimir fahren. Nichts den Franzosen dalassen.«

»Euer Erlaucht, der Inspektor aus dem Irrenhaus ist da; was befehlen Sie?«

»Was ich befehle? Das Personal mag sämtlich davongehen, weiter nichts ... Und die Verrückten sollen sie in die Stadt freilassen. Wenn bei uns Verrückte Armeen kommandieren, so ist es Gottes Wille, daß auch diese frei seien.«

Auf die Frage wegen der Sträflinge, die im Gefängnis saßen, schrie der Graf den Inspektor zornig an:

»Was? Ich soll dir wohl zwei Bataillone zur Eskorte geben? Habe ich nicht! Laß sie raus, abgemacht!«

»Euer Erlaucht, es sind auch politische darunter: Mjeschkow, Wereschtschagin.«

»Wereschtschagin! Ist der noch nicht aufgehängt?« rief Rastoptschin. »Bring ihn zu mir her.«

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 534-539.
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