XXXII

[597] Sieben Tage waren vergangen, seit Fürst Andrei auf dem Verbandsplatz des Schlachtfeldes von Borodino wieder zu sich gekommen war. Diese ganze Zeit über hatte er sich[597] fast beständig im Zustand der Bewußtlosigkeit befunden. Das starke Fieber und eine Entzündung der verletzten Därme mußten nach Ansicht des Arztes, der mit dem Verwundeten mitfuhr, dessen Tod herbeiführen. Aber am siebenten Tag nahm Fürst Andrei mit Genuß ein Stückchen Brot mit Tee zu sich, und der Arzt konstatierte, daß das Fieber nachgelassen hatte.

Am Morgen war Fürst Andrei zum Bewußtsein gekommen. In der ersten Nacht nach der Abfahrt aus Moskau war es ziemlich warm gewesen, und man hatte den Fürsten Andrei die Nacht über im Wagen belassen; in Mytischtschi aber verlangte der Verwundete selbst, man möchte ihn aus dem Wagen herausnehmen und ihm Tee geben. Der Schmerz, den ihm der Transport in das Bauernhaus verursachte, erpreßte ihm ein lautes Stöhnen und ließ ihn wieder das Bewußtsein verlieren. Als er auf das Feldbett gelegt worden war, lag er lange mit geschlossenen Augen da, ohne sich zu rühren. Dann öffnete er sie und flüsterte leise: »Wie ist es mit dem Tee?« Es überraschte den Arzt, daß der Kranke an solche kleinen Bedürfnisse des Lebens dachte. Er fühlte ihm den Puls und bemerkte zu seinem Erstaunen und Mißvergnügen, daß der Puls besser war. Ein Mißvergnügen empfand er darüber insofern, weil er aufgrund seiner Erfahrung fest überzeugt war, daß Fürst Andrei unter keinen Umständen am Leben bleiben könne und, wenn er jetzt nicht sterbe, nach einiger Zeit nur unter um so größeren Schmerzen sterben werde. Zusammen mit dem Fürsten Andrei wurde auch ein Major seines Regiments transportiert, der sich ihm in Moskau angeschlossen hatte, eben jener Timochin mit der roten Nase; er war in derselben Schlacht bei Borodino am Bein verwundet worden. Mit beiden fuhren der Arzt, der Kammerdiener des Fürsten, sein Kutscher und zwei Burschen.[598] Dem Fürsten Andrei wurde der Tee gebracht. Er trank begierig; mit den fieberhaft glänzenden Augen blickte er vor sich hin nach der Tür, als ob er etwas zu verstehen oder sich an etwas zu erinnern suchte.

»Ich mag nicht mehr. Ist Timochin da?« fragte er.

Timochin kroch auf der Bank näher zu ihm heran.

»Hier bin ich, Euer Durchlaucht.«

»Wie steht es mit der Wunde?«

»Mit meiner? Leidlich. Aber Sie?«

Fürst Andrei überließ sich wieder seinen Gedanken, als ob er sich auf etwas besinnen wollte.

»Kann ich nicht ein Buch bekommen?« fragte er.

»Was für ein Buch?«

»Das Evangelium. Ich habe keins.«

Der Arzt versprach, ihm eines zu beschaffen, und befragte den Fürsten eingehend über sein Befinden. Fürst Andrei antwortete mit Widerstreben, aber vernünftig auf alle Fragen des Arztes und sagte dann, sie sollten ihm eine Polsterrolle unterlegen; so sei es ihm unbequem und mache ihm großen Schmerz. Der Arzt und der Kammerdiener hoben den Mantel in die Höhe, mit dem er zugedeckt war; die Stirn runzelnd infolge des starken Geruches des faulenden Fleisches, den die Wunde verbreitete, besahen sie diese furchtbare Stelle des Körpers. Der Arzt war mit irgend etwas sehr unzufrieden, änderte etwas ab und drehte den Verwundeten herum, wobei dieser wieder aufstöhnte, vor Schmerz das Bewußtsein verlor und zu phantasieren begann. Er redete immer davon, man solle ihm recht schnell jenes Buch beschaffen und dort unterlegen.

»Das macht euch doch keine Mühe!« sagte er. »Ich habe keins; bitte, besorgt es mir doch; legt es mir einen Augenblick unter«, bat er in kläglichem Ton.[599]

Der Arzt ging auf den Flur hinaus, um sich die Hände zu waschen.

»Ach, was seid ihr für gewissenlose Menschen, weiß Gott!« sagte der Arzt zu dem Kammerdiener, der ihm Wasser über die Hände goß. »Da habe ich bloß mal einen Augenblick nicht hingesehen, und gleich ... Er muß ja solche Schmerzen haben, daß ich mich wundere, wie er sie überhaupt aushält.«

»Aber wir haben ihm doch etwas untergelegt, mein Gott, mein Gott!« erwiderte der Kammerdiener.

Als Fürst Andrei an diesem Tag zum erstenmal das Bewußtsein erlangt hatte, war er darüber ins klare gekommen, wo er sich befand und was mit ihm vorging, und hatte sich erinnert, daß er verwundet war, und hatte, als der Wagen in Mytischtschi hielt, den Wunsch ausgesprochen, in das Haus gebracht zu werden. Dann hatte er infolge des Schmerzes beim Hereintragen wieder die Besinnung verloren, war zum zweitenmal in der Stube zu sich gekommen, hatte Tee getrunken, sich abermals in Gedanken alles, was mit ihm vorgegangen war, wiederholt und sich mit besonderer Lebhaftigkeit jenen Augenblick auf dem Verbandsplatz vergegenwärtigt, als ihm beim Anblick der Leiden eines von ihm nicht geliebten Mannes jene neuen, glückverheißenden Gedanken gekommen waren. Und diese Gedanken, obgleich in undeutlicher, unbestimmter Form von neuem auftauchend, hatten nun wieder von seiner Seele Besitz ergriffen. Er hatte sich erinnert, daß er jetzt ein neues Glück besaß und daß dieses Glück manches mit dem Evangelium gemein hatte. Deshalb hatte er um das Evangelium gebeten. Aber die üble Lage, die man seiner Wunde gegeben hatte, und das neue Herumdrehen hatten seine Gedanken wieder in Verwirrung gebracht; und als er zum drittenmal wieder zu sich kam, war es schon tiefe Nacht. Alle um ihn herum schliefen. Auf der andern Seite des[600] Flures zirpte ein Heimchen; auf der Straße schrie und sang jemand; die Schaben liefen raschelnd auf dem Tisch, an den Heiligenbildern und an den Wänden hin; eine dicke Fliege stieß mitunter im Flug an sein Kopfkissen und kreiste um das Talglicht, das neben ihm stand und mit einer großen Schnuppe brannte.

Sein Geist befand sich nicht in normalem Zustand. Der gesunde Mensch umfaßt gewöhnlich mit seiner Denkkraft, mit seinem Empfinden, mit seinem Gedächtnis gleichzeitig eine zahllose Menge von Gegenständen; aber er besitzt die Macht und Fähigkeit, eine einzelne bestimmte Reihe von Gedanken oder Erscheinungen auszuwählen und auf diese Reihe seine ganze Aufmerksamkeit zu konzentrieren. Der gesunde Mensch reißt sich im Augenblick des tiefsten Nachdenkens davon los, um einem Eintretenden ein höfliches Wort zu sagen, und kehrt dann wieder zu seinen Gedanken zurück. Aber der Geist des Fürsten Andrei befand sich in dieser Hinsicht nicht in normalem Zustand. Alle seine geistigen Kräfte waren tätiger und klarer als je; aber sie wirkten unabhängig von seinem Willen. Die verschiedenartigsten Gedanken und Vorstellungen erfüllten ihn gleichzeitig. Manchmal begann sein Denken plötzlich zu arbeiten, und zwar mit einer Energie, Klarheit und Tiefe, mit der es in gesunden Tagen nie zu arbeiten imstande gewesen war; aber auf einmal brach es mitten in seiner Arbeit ab, indem irgendeine unerwartete Vorstellung an seine Stelle trat, und Fürst Andrei besaß dann nicht die Kraft, zu dem ersten Gedanken zurückzukehren.

»Ja, es hat sich mir ein neues Glück erschlossen, das dem Menschen nicht entrissen werden kann«, dachte er, während er in der halbdunklen, stillen Stube lag und mit fieberhaft weitgeöffneten, starren Augen vor sich hin blickte. »Ein Glück, das außerhalb der materiellen Kräfte liegt, außerhalb der materiellen,[601] äußeren Einwirkungen auf den Menschen, ein Glück der Seele allein, das Glück der Liebe! Begreifen kann dieses Glück jeder Mensch; aber es erschaffen und vorschreiben, das konnte nur Gott allein. Aber wie hat Gott dieses Gesetz vorgeschrieben? Und warum gerade der Sohn ...?«

Plötzlich aber riß dieser Gedankengang ab, und Fürst Andrei hörte (ohne daß er gewußt hätte, ob er es nur in seinen Fieberphantasien oder in Wirklichkeit hörte) eine Art von leiser, flüsternder Stimme, die unablässig im Takt wiederholte: »Pitti-pitti-pitti«, und dann: »i ti-ti«, und wieder »i pitti-pitti-pitti«, und wieder: »i ti-ti.« Und damit gleichzeitig fühlte Fürst Andrei wie bei den Tönen dieser flüsternden Musik über seinem Gesicht, gerade über der Mitte, sich ein seltsames, lustiges Gebäude aus dünnen Nadeln oder Spänchen erhob. Er fühlte, daß er, obgleich es ihm schwer wurde, sorgsam das Gleichgewicht bewahren müsse, damit das Bauwerk, das da emporwuchs, nicht zusammenstürze; aber es stürzte trotzdem zusammen und erhob sich dann langsam wieder bei den Klängen der gleichmäßig flüsternden Musik. »Es dehnt sich! Es dehnt sich! Es dehnt sich aus und wächst immer mehr«, sagte Fürst Andrei zu sich selbst. Und gleichzeitig damit, daß er dieses Flüstern hörte und fühlte, wie das Gebäude aus Nadeln immer breiter und höher wurde, sah Fürst Andrei in einzelnen Augenblicken auch die von einem roten Hof umgebene Flamme des Talglichts und hörte das Rascheln der Schaben und das Summen der Fliege, die gegen das Kopfkissen und gegen sein Gesicht prallte. Und jedesmal, wenn die Fliege sein Gesicht berührte, rief sie dort ein Gefühl des Brennens hervor; gleichzeitig aber wunderte er sich darüber, daß die Fliege mitten in den Bereich des Gebäudes hineinstürmte, das sich auf seinem Gesicht erhob, dieses jedoch dabei nicht in Trümmer fiel. Außerdem aber war da noch etwas Wichtiges.[602] Dies war etwas Weißes an der Tür, die Statue einer liegenden Sphinx, die ihn gleichfalls quälte.

»Aber vielleicht ist das mein Hemd auf dem Tisch«, dachte Fürst Andrei, »und dies hier sind meine Beine, und das da die Tür; aber warum dehn: sich alles und wächst in die Höhe, i pitti-pitti-pitti i ti-ti ... i pitti-pitti-pitti ... Genug, hör auf, bitte, laß doch!« bat Fürst Andrei jemanden ängstlich. Und auf einmal tauchten jener Gedanke und jenes Gefühl wieder mit außerordentlicher Klarheit und Stärke auf.

»Ja, die Liebe«, dachte er wieder mit völliger Klarheit, »aber nicht jene Liebe, die um irgendeines Lohnes willen, zu irgendeinem Zweck, oder aus irgendeinem Grund liebt, sondern jene Liebe, die ich zum erstenmal damals empfunden habe, als ich, dem Tod nahe, meinen Feind erblickte und doch auf einmal Liebe zu ihm fühlte. Ich habe jene Liebe in mir gefühlt, die das wahre Wesen der Seele bildet und die keines besonderen Gegenstandes bedarf. Auch jetzt empfinde ich dieses beglückende Gefühl ... Den Nächsten lieben, die Feinde lieben. Alles lieben, Gott lieben in allen Erscheinungen. Einen Menschen, der einem teuer ist, lieben, das kann man mit menschlicher Liebe; einen Feind aber kann man nur mit göttlicher Liebe lieben. Und deshalb habe ich auch eine solche Freude empfunden, als ich fühlte, daß ich jenen Menschen liebte. Was mag aus ihm geworden sein? Ob er wohl noch lebt ...?

Wenn man mit menschlicher Liebe liebt, so kann man von der Liebe zum Haß übergehen; aber die göttliche Liebe kann sich nicht verändern. Nichts, auch der Tod nicht, nichts kann sie zerstören. Sie ist das wahre Wesen der Seele. Aber wie viele Menschen habe ich in meinem Leben gehaßt! Und von allen Menschen habe ich niemand mehr geliebt und niemand mehr gehaßt als sie.« Und er vergegenwärtigte sich auf das lebhafteste[603] Natascha, nicht in der Art, wie er sie sich früher vergegenwärtigt hatte, nur mit ihrem Reiz, der ihn entzückt hatte; sondern jetzt zum erstenmal schaute er mit seinem geistigen Blick ihre Seele. Und er verstand nun ihr Gefühl und ihre Leiden und ihre Scham und ihre Reue. Jetzt zum erstenmal verstand er die ganze Grausamkeit seines Bruches mit ihr. »Könnte ich sie nur noch ein einziges Mal sehen. Ein einziges Mal in diese Augen sehen und ihr sagen ...«

»I pitti-pitti-pitti i ti-ti i pitti-pitti ... Bum!« prallte die Fliege an. Und seine Aufmerksamkeit übertrug sich plötzlich auf eine andere, aus Wirklichkeit und Wahn gemischte Welt, in der etwas Besonderes vorging. In dieser Welt wuchs immer noch dasselbe Gebäude in die Höhe, ohne einzustürzen; immer noch in gleicher Weise dehnte sich etwas aus; in gleicher Weise brannte das Licht mit einem roten Hof; dieselbe Sphinx (oder war es sein Hemd?) lag bei der Tür; aber außer alledem knarrte etwas, es roch nach frischer Luft, und eine neue weiße Sphinx, eine stehende Sphinx erschien in der Tür. Und der Kopf dieser Sphinx zeigte das blasse Gesicht und die glänzenden Augen eben jener Natascha, an die er soeben gedacht hatte.

»Oh, wie beängstigend sind diese unaufhörlichen Fieberphantasien!« dachte Fürst Andrei und versuchte, dieses Gesicht aus seiner Einbildung zu verscheuchen. Aber dieses Gesicht stand mit der Kraft der Wirklichkeit vor ihm, und dieses Gesicht näherte sich ihm. Fürst Andrei wollte in die frühere Welt des reinen Denkens zurückkehren; aber er vermochte es nicht, und der Fieberwahn zog ihn in seinen Bann. Die leise, flüsternde Stimme setzte ihr gleichmäßiges Zischeln fort; es würgte ihn etwas, es dehnte sich etwas aus, und das seltsame Gesicht stand vor ihm. Fürst Andrei nahm all seine Kraft zusammen, um zur Besinnung zu kommen; er bewegte sich ein wenig, und plötzlich[604] sauste es ihm in den Ohren, vor den Augen wurde es ihm dunkel, und wie ein Mensch, der im Wasser versinkt, verlor er das Bewußtsein.

Als er wieder zu sich kam, lag Natascha, jene lebendige Natascha, die er sich gedrängt fühlte am meisten von allen Menschen auf der Welt mit jener neuen, reinen, göttlichen Liebe zu lieben, die sich ihm jetzt erschlossen hatte, diese Natascha lag vor ihm auf den Knien. Er begriff, daß dies die lebendige, wirkliche Natascha war, und er war darüber nicht erstaunt, sondern freute sich nur im stillen. Natascha, die wie angeschmiedet auf den Knien lag (sie konnte kein Glied rühren), blickte ihn angstvoll an und hielt das Schluchzen zurück. Ihr Gesicht war blaß und regungslos. Nur im unteren Teil desselben war ein Zittern bemerkbar.

Fürst Andrei stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, lächelte und streckte ihr die Hand hin.

»Sie hier?« sagte er. »Wie glücklich mich das macht!«

Natascha rückte mit einer schnellen, aber behutsamen Bewegung auf den Knien näher zu ihm heran, ergriff vorsichtig seine Hand, beugte sich mit dem Gesicht über sie und küßte sie mehrmals, aber so, daß sie sie kaum mit den Lippen berührte.

»Verzeihen Sie mir!« sagte sie flüsternd, hob den Kopf in die Höhe und blickte ihn an. »Verzeihen Sie mir!«

»Ich liebe Sie«, erwiderte Fürst Andrei.

»Verzeihen Sie mir ...!«

»Was hätte ich Ihnen zu verzeihen?« fragte Fürst Andrei.

»Verzeihen Sie mir, was ich ... was ich getan habe«, flüsterte Natascha kaum hörbar mit stockender Stimme und bedeckte seine Hand, sie kaum mit den Lippen berührend, mit noch zahlreicheren Küssen.

»Ich liebe dich mehr und mit einer besseren Liebe als ehemals«,[605] sagte Fürst Andrei und hob mit der Hand ihr Gesicht so in die Höhe, daß er ihr in die Augen sehen konnte.

Diese Augen, die voll glückseliger Tränen standen, blickten ihn schüchtern und mitleidig, freudig und liebevoll an. Nataschas mageres, blasses Gesicht mit den geschwollenen Lippen war mehr als unschön, es sah geradezu entstellt aus. Aber Fürst Andrei sah dieses Gesicht nicht; er sah nur die leuchtenden Augen, die wirklich schön, sehr schön waren. Da hörten sie, daß hinter ihnen gesprochen wurde.

Der Kammerdiener Pjotr, der jetzt seine Schlaftrunkenheit ganz überwunden hatte, hatte den Arzt geweckt. Timochin, der die ganze Zeit über vor Schmerz in seinem Bein nicht hatte schlafen können, hatte schon lange alles, was da vorging, mitangesehen, seine unbekleideten Körperteile sorgsam in das Laken gehüllt und sich auf seiner Bank zusammengekrümmt.

»Was ist denn das?« sagte der Arzt, indem er sich von seinem Lager halb aufrichtete. »Bitte, gehen Sie weg, Fräulein!«

Gleichzeitig klopfte ein Dienstmädchen an die Tür, das von der Gräfin geschickt war, die ihre Tochter vermißt hatte.

Wie eine Nachtwandlerin, die man mitten in ihrem Schlaf aufgeweckt hat, so ging Natascha aus dem Zimmer, und als sie in ihre Stube zurückgekehrt war, sank sie schluchzend auf ihr Lager.


Seit diesem Tag wich Natascha während der ganzen weiteren Reise der Familie Rostow an allen Rastorten und in allen Nachtquartieren nicht von der Seite des verwundeten Bolkonski, und der Arzt mußte zugeben, daß er von einem Mädchen weder eine solche Energie noch eine solche Geschicklichkeit in der Pflege eines Verwundeten erwartet hätte.

So furchtbar auch der Gräfin der Gedanke erschien, Fürst[606] Andrei könne (was nach, dem Urteil des Arztes sehr wahrscheinlich war) während der Reise in den Armen ihrer Tochter sterben, so konnte sie dieser doch nicht entgegen sein. Obgleich bei dem jetzigen nahen Verhältnis zwischen dem verwundeten Fürsten Andrei und Natascha der Gedanke nicht fern lag, es werde im Fall der Genesung das frühere Verlöbnis vielleicht wiederhergestellt werden, sprach doch niemand hierüber, am allerwenigsten Natascha und Fürst Andrei: die Frage, ob Leben oder Tod, die, noch unentschieden, nicht nur über Bolkonski, sondern auch über Rußland schwebte, drängte alle anderen Pläne beiseite.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 597-607.
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