VI

[439] Helene, die mit dem Hof von Wilna nach Petersburg zurückgekehrt war, befand sich in einer schwierigen Lage.

In Petersburg hatte sie die besondere Protektion eines großen Herrn genossen, der eines der höchsten Ämter im Staat bekleidete. In Wilna aber war sie in nähere Beziehungen zu einem jungen ausländischen Prinzen getreten. Als sie nun nach Petersburg zurückgekehrt war, befanden sich beide, der Prinz und der hohe Würdenträger, ebendort, machten beide ihre Rechte geltend, und Helene stand nun vor einer Aufgabe, die ihr bisher in ihrer Laufbahn noch nicht vorgekommen war: zu beiden ihr[439] bisheriges nahes Verhältnis aufrechtzuerhalten und keinen von ihnen zu verletzen.

Indes, was einer andern Frau schwer oder selbst unmöglich erschienen wäre, das kostete der Gräfin Besuchowa keine lange Überlegung; augenscheinlich erfreute sie sich nicht ohne Grund des Rufes, eine außerordentlich kluge Frau zu sein. Hätte sie versucht, ihr Tun zu verheimlichen und sich durch Schlauheit aus der unbequemen Lage herauszuwickeln, so würde sie gerade dadurch, daß sie sich in dieser Weise schuldig bekannt hätte, ihre Sache verdorben haben; aber Helene schlug ein ganz entgegengesetztes Verfahren ein. Wie ein wahrhaft großer Geist, der alles kann, was er will, stellte sie sich von vornherein auf den Standpunkt, daß sie im Recht sei (was sie übrigens aus voller Überzeugung glaubte) und alle andern im Unrecht.

Als sich der junge ausländische Prinz zum erstenmal erlaubte, ihr Vorwürfe zu machen, hob sie ihren schönen Kopf stolz in die Höhe, wendete sich mit einer halben Drehung zu ihm hin und sagte in bestimmtem, festem Ton:

»Da sieht man den Egoismus und die Grausamkeit der Männer! Ich habe auch nichts anderes erwartet. Die Frauen opfern sich für die Männer und leiden, und das ist dann ihr Lohn! Mit welchem Recht verlangen Sie, Monseigneur, von mir Rechenschaft über meine Freundschaftsverhältnisse und über meine Neigungen? Das ist ein Mann, der mir mehr als ein Vater gewesen ist.«

Der Prinz wollte etwas erwidern; aber Helene ließ ihn nicht zu Wort kommen.

»Nun ja«, sagte sie, »vielleicht hegt er gegen mich andere als nur väterliche Gefühle; aber das ist doch für mich noch kein Grund, ihm meine Tür zu verschließen. Ich bin ja doch kein Mann, daß ich so undankbar sein sollte. Lassen Sie sich sagen, Monseigneur, daß ich über alles, was meine innersten Empfindungen angeht,[440] nur Gott und meinem Gewissen Rechenschaft ablege«, schloß sie, berührte mit der Hand ihre bebende schöne Brust und schaute nach oben.

»Aber um des Himmels willen, hören Sie mich doch nur an ...«

»Heiraten Sie mich, und ich werde Ihre Sklavin sein.«

»Aber das ist doch unmöglich.«

»Sie mögen nicht zu mir herabsteigen; Sie ...«, sagte Helene und brach in Tränen aus.

Der Prinz suchte sie zu beruhigen; Helene aber sagte schluchzend, wie wenn sie von ihrer Erregung hingerissen wäre, nichts könne sie hindern, eine andere Ehe einzugehen; dafür gebe es Beispiele (damals gab es solcher Beispiele allerdings erst wenige; aber sie nannte Napoleon und andere hohe Personen); sie sei nie die Frau ihres Mannes gewesen; sie sei geopfert worden.

»Aber die Gesetze, die Religion ...«, wandte der Prinz, schon nachgebend, ein.

»Die Gesetze, die Religion ... Wozu wären die denn erfunden, wenn sie so etwas nicht bewerkstelligen könnten!« erwiderte Helene.

Der hohe Herr war erstaunt, daß eine so einfache Erwägung ihm nicht in den Sinn gekommen war, und wandte sich mit der Bitte um Rat an die frommen Brüder von der Gesellschaft Jesu, mit denen er in nahen Beziehungen stand.

Einige Tage darauf wurde bei einem der reizenden Feste, die Helene in ihrem Landhaus auf dem Kamenny Ostrow gab, ihr ein »kurzröckiger« Jesuit, ein bereits älterer Mann mit schneeweißem Haar und schwarzen blitzenden Augen, vorgestellt, der bezaubernde Monsieur de Jobert; dieser sprach lange mit ihr im Garten, beim Schein der Illumination und den Klängen der Musik, über die Liebe zu Gott, zu Christus, zum Herzen der Muttergottes und über die Tröstungen, die die einzig wahre[441] katholische Religion in diesem und im künftigen Leben gewähren könne. Helene war gerührt, und einige Male standen ihr und Herrn de Jobert die Tränen in den Augen, und die Stimme bebte ihnen. Der beginnende Tanz, zu welchem ein Kavalier Helene aufzufordern kam, unterbrach ihr Gespräch mit dem künftigen Berater ihres Gewissens; aber am folgenden Tag kam Herr de Jobert abends allein zu Helene, und seitdem sprach er häufig bei ihr vor.

Eines Tages führte er die Gräfin in die katholische Kirche, wo sie vor einem Altar, zu dem man sie geleitete, niederkniete. Der bezaubernde, wenn auch bereits bejahrte Franzose legte ihr die Hände auf den Kopf, und wie sie selbst nachher erzählte, fühlte sie etwas wie das Wehen eines frischen Windes, das ihr in die Seele drang. Man erklärte ihr, daß dies »die Gnade« gewesen sei.

Dann führte man ihr einen »langröckigen« Abbé zu; er hörte ihre Beichte und erteilte ihr die Absolution. Am folgenden Tag brachte man ihr ein Kästchen, in welchem sich eine Hostie befand, und ließ es ihr da, zum Gebrauch im Haus. Nach einigen weiteren Tagen erfuhr Helene zu ihrem großen Vergnügen, daß sie jetzt in die wahre katholische Kirche eingetreten sei, daß nächster Tage der Papst selbst von ihr erfahren und ihr ein gewisses Schriftstück zusenden werde.

Alles, was in dieser Zeit um sie her und mit ihr vorging, alle diese Aufmerksamkeit, die so viele kluge Männer ihr zuwandten und die sich in so angenehmen, feinen Formen bekundete, und der Zustand der Taubenreinheit, in dem sie sich jetzt befand (sie trug während dieser ganzen Zeit weiße Kleider mit weißen Bändern): alles dies bereitete ihr Vergnügen; aber trotz des Vergnügens, das sie empfand, ließ sie auch nicht einen Augenblick lang ihr Ziel aus den Augen. Und wie es immer so zugeht, daß im Punkt der Schlauheit der Dumme dem Klügeren überlegen ist, so war es auch[442] in diesem Fall. Helene hatte es durchschaut, daß die Absicht aller dieser schönen Reden und geschäftigen Bemühungen vor allem darin bestand, nach ihrer Bekehrung zum Katholizismus von ihr Geld für die Jesuitenanstalten zu erlangen (dar über hatte man ihr bereits Andeutungen gemacht); aber bevor sie Geld hergab, bestand sie darauf, daß jene verschiedenen Operationen, durch die sie, wie es hieß, von ihrem Mann freikommen könnte, vorgenommen werden sollten. Nach ihrer Anschauung bestand das Wesen einer jeden Religion nur darin, bei der Befriedigung der menschlichen Wünsche auf die Beobachtung gewisser Anstandsregeln zu halten. Und in dieser Absicht verlangte sie bei einem dieser Gespräche mit ihrem Beichtvater energisch von ihm eine Antwort auf die Frage, inwieweit sie noch durch ihre Ehe gebunden sei.

Sie saßen im Salon am Fenster. Es dämmerte. Blumenduft drang herein. Helene trug ein weißes, an Brust und Schultern durchschimmerndes Kleid. Der wohlgenährte Abbé mit seinem dicken, glattrasierten Kinn, dem angenehmen, kräftigen Mund und den weißen Händen, die er sanftmütig auf den Knien gefaltet hielt, saß Helene nahe gegenüber, richtete mit einem feinen Lächeln um die Lippen ab und zu einen Blick stillen Entzückens über ihre Schönheit nach ihrem Gesicht und legte seine Ansicht über die Frage dar, welche sie beide beschäftigte. Helene blickte, unruhig lächelnd, nach seinem lockigen Haar und den glatt rasierten, vollen Backen mit den schwärzlichen Bartspuren und erwartete in jedem Augenblick, daß das Gespräch eine andere Wendung nehmen werde. Aber obgleich es dem Abbé augenscheinlich ein Genuß war, seine schöne Partnerin anzusehen, nahm doch die Ausübung seiner Berufstätigkeit sein Interesse zu sehr in Anspruch.

Der Gedankengang, den dieser Gewissensrat entwickelte, war[443] folgender: »Ohne die Bedeutung dessen, was Sie taten, zu kennen, haben Sie das Gelübde der ehelichen Treue einem Mann gegeben, der seinerseits, indem er in die Ehe eintrat, ohne an die religiöse Bedeutung der Ehe zu glauben, einen Religionsfrevel beging. Diese Ehe hatte nicht die doppelte hohe Bedeutung, die sie hätte haben sollen. Aber trotzdem band Sie Ihr Gelübde. Sie haben sich von Ihrem Mann getrennt. Was haben Sie damit begangen? Eine läßliche Sünde oder eine Todsünde? Eine läßliche Sünde, weil Sie ohne böse Absicht so gehandelt haben. Wenn Sie jetzt mit der Absicht, Kinder zu haben, in eine neue Ehe träten, so könnte Ihre Sünde verziehen werden. Aber die Frage zerfällt wieder in zwei Unterfragen: erstens ...«

»Aber ich denke«, bemerkte plötzlich Helene, der dies langweilig zu werden begann, mit ihrem bezaubernden Lächeln, »daß mich jetzt, nachdem ich zu der wahren Religion übergetreten bin, nicht mehr eine Verpflichtung binden kann, die mir vorher die falsche Religion auferlegt hat.«

Der Gewissensrat war erstaunt darüber, mit welcher Einfachheit und Selbstverständlichkeit das Ei des Kolumbus vor ihm hingestellt wurde. Er war entzückt über die überraschend schnellen Fortschritte seiner Schülerin; aber er vermochte sich von dem Gebäude kunstvoller Deduktionen, das er mit so viel Aufwand von Geist und Mühe errichtet hatte, nicht zu trennen.

»Verständigen wir uns, Gräfin«, sagte er lächelnd und begann die Schlußfolgerung seines Beichtkindes zu widerlegen.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 439-444.
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