V

[435] Völlig verschieden von der Handlungsweise Kutusows war bei einem gleichzeitigen Vorgang, der noch wichtiger war als der kampflose Rückzug der Armee, nämlich bei der Räumung Moskaus durch die Einwohner und der Einäscherung dieser Stadt, die Tätigkeit Rastoptschins, der uns als Urheber dieses Vorganges bezeichnet wird.

Dieser Vorgang, die Räumung und Einäscherung Moskaus, war ebenso unausbleiblich wie der kampflose Rückzug der Truppen bis hinter Moskau nach der Schlacht bei Borodino.

Jeder Russe hätte das, was geschah, vorhersagen können, nicht aufgrund von Vernunftschlüssen, sondern aufgrund jenes Gefühls, das in uns liegt und in unsern Vätern gelegen hat.

Seit den Tagen von Smolensk hatte sich in allen Städten und Dörfern der russischen Erde ohne irgendwelche Einwirkung des Grafen Rastoptschin und seiner Flugblätter ganz dasselbe begeben, was sich dann auch in Moskau begab. Das Volk erwartete sorglos den Feind; es revoltierte nicht, riß niemand in Stücke, sondern erwartete ruhig sein Schicksal, da es in sich die Kraft fühlte, im schwierigsten Augenblick das herauszufinden, was es tun müsse. Und sobald der Feind heranrückte, gingen die reicheren Elemente der Bevölkerung unter Zurücklassung ihrer Habe davon; die Ärmeren blieben zurück und verbrannten und vernichteten das Zurückgelassene.

Das Bewußtsein, daß dies damals so geschehen mußte und zu allen Zeiten so geschehen muß, lag und liegt in der Seele eines[435] jeden Russen, und dieses Bewußtsein und, was noch mehr ist, das bestimmte Vorgefühl, daß Moskau in die Gewalt des Feindes kommen werde, war in den Kreisen der höheren russischen Gesellschaft Moskaus im Jahre 1812 lebendig. Diejenigen, die von Moskau schon im Juli und zu Anfang August wegzogen, zeigten dadurch, daß sie dies erwarteten. Und wenn die Wegziehenden ihre Häuser und die Hälfte ihrer Habe zurückließen und nur mitnahmen, was sich leicht transportieren ließ, so war diese Handlungsweise eine Folge jenes verborgenen (latenten) Patriotismus, der nicht durch Phrasen, nicht durch Tötung der eigenen Kinder zur Rettung des Vaterlandes und durch andere derartig unnatürliche Taten zum Ausdruck zu kommen sucht, sondern sich unauffällig, schlicht, wie eine unwillkürliche Funktion des Organismus betätigt und eben darum immer die stärksten Wirkungen hervorbringt.

»Es ist eine Schande, vor der Gefahr davonzulaufen; nur Feiglinge fliehen aus Moskau!« wurde ihnen vorgehalten, und Rastoptschin rief ihnen in seinen Flugblättern mit allem Nachdruck zu, daß es eine schmähliche Handlungsweise sei, aus Moskau wegzuziehen. Jedoch die Einwohner schämten sich zwar, Feiglinge genannt zu werden, und schämten sich, wegzuziehen; aber sie zogen trotzdem weg, weil sie eben das Bewußtsein hatten, daß es so sein müsse. Und warum zogen sie weg? Es ist nicht anzunehmen, daß sie sich hätten in Angst versetzen lassen durch das, was Rastoptschin, um zur Verteidigung Moskaus anzuregen, über Greueltaten mitteilte, die Napoleon in unterworfenen Ländern verübt habe. Vorzugsweise und zuerst zogen reiche, gebildete Leute weg, die sehr wohl wußten, daß Wien und Berlin unversehrt geblieben waren und daß dort die Einwohner während der Besetzung durch Napoleon eine sehr vergnügliche Zeit mit den bezaubernden Franzosen verlebt hatten, von denen[436] damals auch in Rußland die Männer und ganz besonders die Damen entzückt waren.

Sie zogen weg, weil ein Russe sich überhaupt nicht die Frage vorlegen konnte, ob es unter der Herrschaft der Franzosen in Moskau gut oder schlecht sein werde. Für einen Russen war es eben schlechthin unmöglich, unter der Herrschaft der Franzosen zu leben: das war das Schlimmste, was es auf der Welt gab. Sie zogen sowohl vor der Schlacht bei Borodino als auch mit noch größerer Eile nach der Schlacht bei Borodino weg, ohne sich um die Aufrufe zur Verteidigung der Stadt zu kümmern, und trotzdem der Oberkommandierende von Moskau bekanntmachen ließ, er beabsichtige, das heilige Bild der Iberischen Muttergottes durch die Straßen tragen zu lassen, und trotz der Luftballons, durch die die Franzosen vernichtet werden sollten, und trotz all des Unsinns, den Rastoptschin in seinen Flugblättern schrieb. Sie sagten sich, um mit dem Feind zu kämpfen, dazu sei die Armee da, und wenn diese dazu nicht imstande sei, so könnten sie selbst nicht mit ihren Fräulein Töchtern und mit ihrer Dienerschaft auf die Drei Berge ziehen, um gegen Napoleon zu streiten, sondern sie müßten wegziehen, so schmerzlich es ihnen auch wäre, ihre Habe der Vernichtung preiszugeben. Sie zogen weg, ohne an die großartige Bedeutung dieses Ereignisses zu denken: daß eine so riesenhafte, reiche Residenz von den Einwohnern verlassen und mit Sicherheit eingeäschert werde (denn leere Häuser nicht zu demolieren und anzuzünden, das liegt nicht im Charakter des russischen Volkes); sie zogen weg, ein jeder aus eigenem Trieb, und dabei vollzog sich, eben infolge ihres Wegzuges, jenes großartige Ereignis, das für alle Zeit der schönste Ruhm des russischen Volkes bleiben wird. Jene vornehme Dame, die schon im Juni mit ihren Mohren und Hausnarren von Moskau nach ihrem Gut im Gouvernement Saratow aufbrach, in der unbestimmten Empfindung,[437] daß sie keine Untertanin dieses Bonaparte sein könne, und trotz der Besorgnis, auf Befehl des Grafen Rastoptschin zurückgehalten zu werden, jene Dame hat in schlichter, natürlicher Weise bei dem großen Werk mitgewirkt, durch welches Rußland gerettet wurde. Graf Rastoptschin aber, der vielfach die Wegziehenden schmähte und doch selbst die Behörden fortschaffen ließ; der dem betrunkenen Gesindel unbrauchbare Waffen verabfolgte; der bald Heiligenbilder in den Straßen herumtragen ließ, bald dem Metropoliten Awgustin verbot, Reliquien und Bilder aus den Kirchen herauszubringen; der zur Verhinderung des Fortzuges alle Privatfuhrwerke in Moskau mit Beschlag belegte und doch den von Leppich gebauten Luftballon auf hundertsechsunddreißig Wagen wegtransportieren ließ; der einerseits Andeutungen machte, daß er Moskau einäschern werde, und später erzählte, wie er sein eigenes Haus angezündet habe, andrerseits eine Proklamation an die Franzosen erließ, in der er ihnen mit feierlichen Worten den Vorwurf machte, sie hätten seine Kleinkinderbewahranstalt zerstört; der bald den Ruhm der Einäscherung Moskaus für sich in Anspruch nahm, bald seine Beteiligung dabei in Abrede stellte; der bald dem Volk befahl, alle Spione zu fangen und zu ihm zu bringen, bald deswegen das Volk schalt; der alle Franzosen aus Moskau wegschaffte und dabei doch gerade Madame Auber-Chalmé, die den Mittelpunkt der ganzen französischen Kolonie in Moskau gebildet hatte, in der Stadt bleiben ließ; der den bejahrten, allgemein geachteten Postdirektor Klutscharew, ohne daß ihm ein spezielles Verschulden nachgewiesen werden konnte, arretieren und in die Verbannung transportieren ließ; der das Volk aufforderte, sich auf den Drei Bergen zu versammeln, um gegen die Franzosen zu kämpfen, und dann, um von diesem Volk loszukommen, ihm einen Menschen zur Ermordung preisgab und selbst durch den hinteren Ausgang[438] seines Hauses sich davonmachte; der bald sagte, er werde das Unglück Moskaus nicht überleben, bald in die Alben französische Verse über seine Beteiligung an dieser Tat schrieb1: dieser Mann hatte kein Verständnis für die Bedeutung des Ereignisses, das sich da vollzog, sondern wollte nur selbst etwas tun, andere in Erstaunen versetzen, etwas Patriotisches, Heldenhaftes ausführen, jubelte ausgelassen wie ein Knabe über das großartige, unvermeidliche Ereignis der Räumung und Einäscherung Moskaus und suchte mit seiner Kinderhand die gewaltige, ihn mit sich fortreißende nationale Stimmung bald zu befördern, bald aufzuhalten.

Fußnoten

1 Je suis né Tartare,

Je voulus être Romain.

Les Français m'appelèrent barbare,

Les Russes George Dandin.


Obgleich von Herkunft recht und schlecht Tatar,

Hätt ich als großer Römer gern gegolten;

Doch ward von den Franzosen ich Barbar

Und von den Russen George Dandin gescholten.


Anmerkung des Verfassers.


Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 435-439.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Musset, Alfred de

Gamiani oder zwei tolle Nächte / Rolla

Gamiani oder zwei tolle Nächte / Rolla

»Fanni war noch jung und unschuldigen Herzens. Ich glaubte daher, sie würde an Gamiani nur mit Entsetzen und Abscheu zurückdenken. Ich überhäufte sie mit Liebe und Zärtlichkeit und erwies ihr verschwenderisch die süßesten und berauschendsten Liebkosungen. Zuweilen tötete ich sie fast in wollüstigen Entzückungen, in der Hoffnung, sie würde fortan von keiner anderen Leidenschaft mehr wissen wollen, als von jener natürlichen, die die beiden Geschlechter in den Wonnen der Sinne und der Seele vereint. Aber ach! ich täuschte mich. Fannis Phantasie war geweckt worden – und zur Höhe dieser Phantasie vermochten alle unsere Liebesfreuden sich nicht zu erheben. Nichts kam in Fannis Augen den Verzückungen ihrer Freundin gleich. Unsere glorreichsten Liebestaten schienen ihr kalte Liebkosungen im Vergleich mit den wilden Rasereien, die sie in jener verhängnisvollen Nacht kennen gelernt hatte.«

72 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon