IX

[454] Kaum hatte Pierre seinen Kopf auf das Kissen gelegt, als er fühlte, daß er einschlief; aber plötzlich hörte er fast ebenso deutlich, wie wenn es Wirklichkeit wäre, das Bum, bum, bum der Kanonenschüsse, das Aufklatschen der Geschosse, das Stöhnen und Schreien, roch Blut und Pulver und fühlte sich von Schauder und Todesfurcht ergriffen. Erschrocken öffnete er die Augen und hob den Kopf aus dem Mantel in die Höhe. Auf dem Hof war alles still. Nur am Tor ging, durch den Schmutz patschend, ein Offiziersbursche und redete mit dem Hausknecht. Über Pierres Kopf schüttelten sich auf der dunklen Unterseite des Bretterdaches die Tauben, die durch die Bewegung, welche Pierre gemacht[454] hatte, aufgestört worden waren. Über den ganzen Hof war jener friedliche, auf Pierre in diesem Augenblick angenehm wirkende, kräftige Herbergsgeruch nach Heu, Dünger und Teer verbreitet. Zwischen zwei schwarzen Schuppendächern war der reine, mit Sternen übersäte Himmel sichtbar.

»Gott sei Dank, daß das alles vorbei ist!« dachte Pierre und hüllte seinen Kopf wieder ein. »Oh, wie entsetzlich ist die Furcht, und in wie schmählicher Art habe ich mich ihr überlassen! Sie dagegen, sie waren die ganze Zeit über bis zu Ende ruhig und fest«, dachte er.

Sie, damit meinte Pierre die Soldaten, sowohl die, welche in der Batterie gewesen waren, als auch die, welche ihm zu essen gegeben hatten, als auch die, welche vor dem Heiligenbild gebetet hatten. Sie, diese seltsamen Menschen, die er bisher noch gar nicht gekannt hatte, sie schieden sich jetzt in seinem Denken klar und scharf von allen andern Menschen.

»Soldat sein, einfacher Soldat«, dachte Pierre, wieder einschlafend. »In diese Lebensgemeinschaft mit seiner ganzen Persönlichkeit eintreten, sich von den Empfindungen und Anschauungen durchdringen lassen, durch die sie zu den Menschen gemacht werden, die sie sind. Aber wie soll man es anstellen, all dieses Überflüssige und Teuflische, die ganze Bürde dieses äußeren Menschen von sich zu werfen? Es war einmal eine Zeit, wo ich ein solcher Mensch hätte werden können. Ich konnte meinem Vater weglaufen, wenn es mir beliebte. Und noch nach dem Duell mit Dolochow war es möglich, daß man mich zur Strafe unter die Soldaten steckte.« Vor Pierres Geist huschte die Erinnerung an das Diner im Klub vorüber, bei dem er Dolochow gefordert hatte, und an seinen edlen alten Freund in Torschok. Und da stand ihm auf einmal eine feierliche Tafelloge vor Augen. Diese Loge fand im Englischen Klub statt. Und jemand, den er[455] kannte und der ihm nahestand und teuer war, saß am Ende des Tisches. Ja, das war er! Das war sein edler Freund! »Aber ist er denn nicht gestorben?« dachte Pierre. »Ja, er ist gestorben; aber ich wußte nicht, daß er wieder lebt. Wie leid hat es mir getan, daß er starb, und wie freue ich mich jetzt, daß er wieder am Leben ist!« An der einen Seite des Tisches saßen Anatol, Dolochow, Neswizki, Denisow und andere dieser Art (diese Menschenklasse war im Geist des träumenden Pierre ebenso deutlich von anderen geschieden, wie die Klasse derjenigen, die er sie nannte), und diese Leute, Anatol, Dolochow usw., schrien und sangen laut; aber durch ihr Geschrei hindurch war die Stimme des edlen Freundes vernehmbar, die unermüdlich redete, und der Klang seiner Worte war ebenso eindrucksvoll und ebenso ununterbrochen wie das Getöse des Schlachtfeldes; aber dieser Klang war angenehm und tröstlich. Was der edle Freund sagte, verstand Pierre nicht; aber er wußte (auch über die Kategorie, in welche diese Gedanken hineingehörten, war er sich im Traum völlig klar), daß derselbe vom Guten sprach, von der Möglichkeit, ein solcher Mensch zu sein, wie sie es waren. Und sie mit ihren schlichten, gutherzigen, festen Gesichtern umringten den edlen Mann von allen Seiten. Aber so gutherzig sie waren, so sahen sie doch Pierre nicht an; sie kannten ihn nicht. Pierre hätte gern ihre Aufmerksamkeit auf sich gelenkt und etwas gesagt. Er begann sich aufzurichten; aber in demselben Augenblick wurden ihm die Beine nackt und kalt.

Er schämte sich und suchte mit der Hand seine Beine zu bedecken, von denen tatsächlich der Mantel heruntergeglitten war. Einen Augenblick lang, während er den Mantel wieder zurechtlegte, öffnete Pierre die Augen und erblickte dieselben beiden Schuppen und die Pfosten und den Hof; aber alles war jetzt von einem bläulichen Licht erhellt und mit schimmerndem Tau oder Reif überzogen.[456]

»Es wird Tag«, dachte Pierre. »Aber das kümmert mich nicht. Ich muß zu Ende hören und verstehen, was mein edler Freund sagt.« Er hüllte wieder den Kopf in den Mantel; aber weder die Tafelloge noch der edle Freund waren mehr da; was zurückgeblieben war, das waren nur Gedanken, die in Worten ihren deutlichen Ausdruck fanden, Gedanken, die jemand aussprach oder die Pierre selbst dachte.

Sooft sich Pierre später an diese Gedanken erinnerte, war er, obgleich sie durch die Eindrücke des letzten Tages hervorgerufen waren, dennoch überzeugt, daß ein außer ihm Befindlicher sie ihm gesagt habe. Er meinte, er würde im Wachen niemals imstande gewesen sein, so zu denken und seine Gedanken so auszudrücken.

»Was dem Menschen am schwersten wird«, sagte die Stimme, »das ist, die eigene Freiheit den Geboten Gottes unterzuordnen. Die Einfalt ist der Gehorsam gegen Gott; von Gott loszukommen ist unmöglich. Und sie sind einfältigen Herzens. Sie reden nicht, sondern sie handeln. Das gesprochene Wort ist Silber, das nicht gesprochene ist Gold. Solange der Mensch den Tod fürchtet, vermag er nichts in seine Gewalt zu bekommen; aber wer den Tod nicht fürchtet, dem gehört alles. Gäbe es kein Leid, so würde der Mensch keine Schranken für sich kennen und würde sich selbst nicht kennen. Das Schwerste«, fuhr Pierre im Traum zu denken oder zu hören fort, »besteht darin, daß man es versteht, in seiner Seele das wahre Wesen aller Dinge zu vereinigen. Zu vereinigen?« fragte Pierre sich selbst. »Nein, nicht zu vereinigen. Vereinigen kann man die Gedanken nicht; aber umspannen kann man alle diese Gedanken; das ist's, worauf es ankommt! Ja, wir müssen alles umspannen, alles umspannen!« wiederholte Pierre bei sich mit innerlichem Wohlgefühl, da er sich bewußt war, daß gerade durch dieses Wort und nur durch dieses[457] Wort sich das ausdrücken ließ, was er ausdrücken wollte, und dies die einzige Lösung für die Frage war, die ihn quälte.

»Ja, wir müssen alles umspannen; es ist hohe Zeit.«

»Wir müssen anspannen; es ist hohe Zeit, Euer Erlaucht! Euer Erlaucht!« rief eine Stimme. »Wir müssen anspannen; es ist hohe Zeit zum Anspannen.«

Es war die Stimme des Reitknechtes, der Pierre weckte. Die Sonne schien Pierre gerade ins Gesicht. Er erblickte den schmutzigen Hof der Herberge, in dessen Mitte Soldaten beim Ziehbrunnen ihre mageren Pferde tränkten und aus dessen Tor Fuhrwerke hinausfuhren. Mit Widerwillen wendete sich Pierre von diesem Bild ab, und indem er die Augen wieder schloß, ließ er sich schnell auf den Sitz des Wagens zurücksinken. »Nein, ich mag das nicht sehen, mag davon nichts verstehen; ich will das verstehen, was sich mir im Traum erschlossen hat. Noch eine Sekunde, und ich hätte alles verstanden. Was soll ich denn tun? Alles umspannen; aber wie ist das zu machen?« Und Pierre wurde sich mit Schrecken bewußt, daß der ganze Sinn und Inhalt dessen, was er im Traum gesehen und gedacht hatte, in Trümmer gefallen war.

Der Reitknecht, der Kutscher und der Hausknecht erzählten ihm, es sei ein Offizier gekommen mit der Nachricht, daß die Franzosen gegen Moschaisk heranrückten; die Unsrigen zögen schon ab.

Pierre stand auf, befahl, daß angespannt werden und der Wagen ihm nachkommen solle, und ging zu Fuß durch die Stadt.

Die Truppen marschierten hinaus und ließen gegen zehntausend Verwundete in der Stadt zurück. Diese Verwundeten waren teils auf den Höfen und an den Fenstern der Häuser zu sehen, teils drängten sie sich auf den Straßen. Auf den Straßen hörte man um die Wagen, die zum Transport der Verwundeten bestimmt waren, Geschrei und Schimpfworte; selbst an Schlägereien[458] fehlte es nicht. Als Pierres Wagen ihn eingeholt hatte, nahm Pierre einen ihm bekannten verwundeten General mit zu sich und fuhr mit ihm zusammen nach Moskau. Unterwegs hörte Pierre, sein Schwager und Fürst Andrei seien tot.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 454-459.
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