VII

[393] Im Herbst des Jahres 1814 heiratete Nikolai Prinzessin Marja und zog mit seiner jungen Frau, mit seiner Mutter und mit Sonja nach Lysyje-Gory, um dort dauernd zu wohnen.

In vier Jahren hatte er, ohne das Gut seiner Frau zu verkaufen, die noch verbliebenen Schulden getilgt und, da ihm eine kleine Erbschaft von einer Kusine zugefallen war, auch seinem Schwager Pierre das Darlehen zurückbezahlt.

Nach weiteren zwei Jahren, im Jahre 1820, hatte Nikolai seine finanziellen Verhältnisse derart gebessert, daß er noch ein kleines, neben Lysyje-Gory gelegenes Gut hinzukaufte und in Unterhandlungen wegen des Rückkaufes des väterlichen Gutes Otradnoje stand, was ein Lieblingswunsch von ihm war.

Nachdem er notgedrungen angefangen hatte sich mit der Landwirtschaft abzugeben, war er bald in eine solche Leidenschaft für diese Tätigkeit hineingeraten, daß sie seine liebste und beinahe einzige Beschäftigung wurde. Nikolai war ein einfacher Landwirt; Neuerungen liebte er nicht, namentlich nicht die englischen, die damals Mode wurden; über theoretische Schriften, die die Landwirtschaft behandelten, machte er sich lustig; von Fabriken, kostspieligen Produktionsweisen, Aussaat teurer Getreidearten mochte er nichts wissen und beschäftigte sich überhaupt nicht mit einem einzelnen Teil der Landwirtschaft besonders. Er hatte immer einzig und allein das ganze Gut im Auge und nicht irgendeinen besonderen Teil desselben. Auf dem Gut aber bildete für ihn den Hauptgegenstand des Interesses nicht der Stickstoff und Sauerstoff, die sich im Boden und in der Luft befinden, auch nicht ein besonderer Pflug und Dünger, sondern das wichtigste Werkzeug, vermittels dessen der Stickstoff und der Sauerstoff[394] und der Dünger und der Pflug wirken, das heißt der Arbeiter, der Bauer. Als Nikolai sich der Landwirtschaft widmete und in ihre einzelnen Gebiete einzudringen begann, zog der Bauer seine besondere Aufmerksamkeit auf sich; der Bauer erschien ihm nicht nur als ein Werkzeug, sondern als der Zweck und gewissermaßen als der zuverlässigste Richter. Er begann damit, den Bauer zu studieren, indem er zu verstehen suchte, was dieser für Bedürfnisse habe, und was er für schlecht und für gut halte, und er stellte sich nur so, als ob er Anordnungen träfe und Befehle erteilte, während er in Wirklichkeit nur von den Bauern deren Methoden und ihre Ausdrucksweise und ihre Urteile über das, was gut und was schlecht sei, lernte. Und erst als er die Neigungen und Bestrebungen der Bauern begriffen hatte, erst als er gelernt hatte in ihrer Weise zu reden und den geheimen Sinn ihrer Rede zu verstehen, erst als er sich mit ihnen verwandt fühlte, erst dann begann er sie dreist zu regieren, d.h. in bezug auf die Bauern eben die Pflicht zu erfüllen, deren Erfüllung von ihm verlangt wurde. Und Nikolais Wirtschaft brachte die glänzendsten Resultate.

Als Nikolai die Verwaltung des Gutes übernahm, machte er gleich von vornherein, ohne darin Fehler zu begehen, durch eine Art von Instinkt zu Vögten, Schulzen und Schulzengehilfen gerade diejenigen Leute, welche die Bauern selbst gewählt haben würden, wenn sie hätten wählen dürfen, und er brauchte seine Beamten nie zu wechseln. Bevor er die chemischen Eigenschaften des Düngers studierte und bevor er sich auf Debet und Kredit einließ (wie er spöttisch zu sagen pflegte), verschaffte er sich Kenntnis von der Größe des Viehstandes bei den Bauern und vergrößerte ihn mit allen möglichen Mitteln. Die Bauernfamilien unterstützte er in weitgehendster Art, gestattete aber nicht, daß sie sich teilten. Die Trägen, die Liederlichen sowie in gleicher[395] Weise die Schwächlinge verfolgte er und suchte sie aus der Bauernschaft wegzutreiben.

Bei der Aussaat und bei der Heu- und Getreideernte paßte er in ganz gleicher Weise auf seine eigenen Felder und auf die der Bauern auf. Und bei wenigen Landwirten waren die Felder so früh und so gut gesät und abgeerntet und der Ertrag so groß wie bei Nikolai.

Mit den Gutsleuten hatte er nicht gern zu schaffen; er nannte sie Schmarotzer, und wie allgemein gesagt wurde, ließ er ihnen zuviel Willen und verwöhnte sie; sobald irgendeine Anordnung in betreff eines Gutsknechtes zu treffen war, namentlich wenn eine Bestrafung notwendig wurde, zeigte er sich unentschlossen und fragte alle Leute im Haus um Rat; nur wenn sich die Möglichkeit bot, statt eines Bauern einen Gutsknecht zu den Soldaten zu geben, tat er dies ohne jedes Schwanken. Dagegen lag ihm bei allen Anordnungen, die sich auf die Bauern bezogen, jeder Zweifel stets fern; er wußte, daß jede seiner Anordnungen den Beifall all seiner Bauern mit Ausnahme vielleicht eines oder einiger weniger finden werde.

Er erlaubte sich ebensowenig, lediglich deshalb jemandem eine Arbeit aufzubürden oder ihn zu bestrafen, weil ihm das so beliebt hätte, wie ihn deshalb zu erleichtern und zu belohnen, weil das sein eigener persönlicher Wunsch gewesen wäre. Er hätte nicht zu sagen gewußt, worin der Maßstab dessen, was er tun und nicht tun mußte, eigentlich bestand; aber dieser Maßstab war in seiner Seele fest und unwandelbar vorhanden.

Oftmals sagte er, wenn er sich über einen Mißerfolg oder über eine Unordnung ärgerte: »Mit unserm russischen Volk ist doch aber auch gar nichts anzufangen«, und bildete sich ein, er könne den Bauer nicht leiden.

Aber dabei liebte er dieses »unser russisches Volk« und sein[396] Wesen und Leben mit aller Kraft seiner Seele, und nur darum vermochte er jene einzig richtige Betriebsart und Methode der Landwirtschaft zu verstehen und sich anzueignen, durch die er so gute Resultate erzielte.

Gräfin Marja war eifersüchtig auf ihren Mann wegen dieser seiner Liebe zur Landwirtschaft und bedauerte, daß sie an dieser Liebe nicht teilnehmen konnte; aber sie hatte nun einmal kein Verständnis für die Freuden und Verdrießlichkeiten, die ihm diese ihr fernliegende, fremde Welt bereitete. Sie konnte nicht begreifen, warum er so außerordentlich lebhaft und glücklich war, wenn er beim Tagesgrauen aufgestanden war, den ganzen Morgen auf dem Feld oder auf der Tenne zugebracht hatte und nun vom Säen oder von der Heu- oder Getreideernte zu ihr heimkehrte, um mit ihr Tee zu trinken. Sie begriff nicht, worüber er so entzückt war, wenn er mit Begeisterung von dem reichen, wirtschaftlich tüchtigen Bauern Matwjei Jermischin erzählte, der die ganze Nacht über mit seiner Familie Garben gefahren habe, und daß noch bei keinem andern das Getreide geerntet sei, bei ihm aber schon die fertigen Schober daständen. Sie begriff nicht, weshalb er, vom Fenster zum Balkon hin und her gehend, so vergnügt unter dem Schnurrbart lächelte und die Augen zusammenkniff, wenn auf die aufgegangene, trocken dastehende Hafersaat ein warmer, dichter Regen niederfiel, oder warum er, wenn bei der Heu- oder Getreideernte eine drohende Gewitterwolke vom Wind weggetrieben wurde, mit rotem, glühendem, schweißtriefendem Gesicht und mit einem Geruch von Wermut und Bitterkraut im Haar von der Wiese oder Tenne nach Hause kam, sich vergnügt die Hände rieb und sagte: »Na, nun noch ein schöner Tag, dann ist meines und das der Bauern alles drin.«

Noch weniger konnte sie es begreifen, warum er trotz seines[397] guten Herzens und trotz seiner steten Bereitwilligkeit, ihren Wünschen entgegenzukommen, fast in Verzweiflung geriet, wenn sie ihm Bitten von Bauersfrauen oder Bauern übermittelte, die sich an sie gewandt hatten, um Befreiung von diesen und jenen Arbeiten zu erlangen, warum er, der gutherzige Nikolai, es ihr hartnäckig abschlug und sie ärgerlich bat, sich nicht in Dinge zu mischen, von denen sie nichts verstehe. Sie fühlte, daß er eine besondere Welt für sich hatte, die er leidenschaftlich liebte, eine Welt mit Gesetzen, für die sie kein Verständnis hatte.

Wenn sie manchmal in dem Bemühen, ihn zu verstehen, sich ihm gegenüber in dem Sinn äußerte, er erwerbe sich doch ein großes Verdienst dadurch, daß er seinen Untergebenen so viel Gutes tue, dann wurde er ärgerlich und antwortete: »Das ist grundfalsch. So etwas ist mir nie in den Sinn gekommen. Um ihres Wohles willen tue ich nicht das geringste. Das ist alles poetische Verstiegenheit und Weibergeschwätz, dieses ganze Wohl des Nächsten. Was ich will, ist, daß unsere Kinder nicht betteln zu gehen brauchen; ich muß für unser Vermögen sorgen, solange ich noch das Leben habe; das ist die ganze Sache. Und dazu ist Ordnung nötig, ist Strenge nötig ... So steht's!« sagte er und ballte in lebhaftem Affekt die Faust. »Und Gerechtigkeit, versteht sich«, fügte er hinzu. »Denn wenn der Bauer nichts anzuziehen hat und hungert und nur ein einziges kümmerliches Pferd besitzt, dann kann er weder für sich noch für mich etwas erarbeiten.«

Und wahrscheinlich gerade deswegen, weil Nikolai nicht im entferntesten glaubte, daß er etwas um anderer willen, aus Tugend tue, brachte alles, was er unternahm, gute Frucht: sein Vermögen wuchs schnell; Bauern aus der Nachbarschaft kamen zu ihm mit der Bitte, er möchte sie kaufen, und noch lange nach seinem Tod behielt die Bauernschaft seine Verwaltung des[398] Gutes in gutem Andenken. »Das war ein Gutsherr! Zuerst kamen bei ihm immer die Bauern und dann erst er selbst. Na, und Unordnung duldete er keine. Kurz: ein Gutsherr, wie er sein muß!«

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 393-399.
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