[156] Bald nach seiner Aufnahme in die Bruderschaft der Freimaurer reiste Pierre mit einem vollgeschriebenen Notizbuch, in welchem er alles verzeichnet hatte, was er auf seinen Gütern vornehmen wollte, nach dem Gouvernement Kiew, wo sich der Hauptteil seiner Bauern befand.
Als Pierre in Kiew angekommen war, berief er alle Verwalter in das Hauptkontor und setzte ihnen seine Absichten und Wünsche auseinander. Er sagte ihnen, es sollten unverzüglich die erforderlichen Maßnahmen zur vollständigen Befreiung der Bauern von der Leibeigenschaft getroffen werden. Bis dahin sollten die Bauern nicht mit Arbeit überlastet werden; Frauen, welche kleine Kinder hätten, dürfe man nicht auf Arbeit schicken; man müsse den Bauern in ihrer Wirtschaft Unterstützung zuteil werden lassen; statt der Körperstrafe solle Ermahnung zur Anwendung kommen; auf jedem Gut müßten Krankenhäuser, Armenhäuser und Schulen errichtet werden. Einige von den Verwaltern[156] (manche waren des Lesens und Schreibens nur notdürftig mächtig) bekamen, als sie das alles hörten, einen großen Schreck, weil sie in der Rede den Sinn zu finden glaubten, daß der junge Graf mit ihrer Verwaltung und der Unterschlagung der Ein nahmen unzufrieden sei; andere fanden nach Überwindung der ersten Furcht Pierres lispelnde Aussprache und die neuen Worte, die sie noch nie gehört hatten, lächerlich; wieder anderen machte es einfach Vergnügen, den Herrn reden zu hören; und noch andere, die klügsten, zu denen auch der Oberadministrator gehörte, nahmen aus dieser Rede ab, wie man mit dem Herrn umgehen müsse, um die eigenen Ziele zu erreichen.
Der Oberadministrator brachte seine lebhaften Sympathien für Pierres Absichten zum Ausdruck, bemerkte aber, es sei, auch abgesehen von diesen Umgestaltungen, erforderlich, die gesamten Vermögensangelegenheiten zu prüfen und neu zu ordnen, da sie sich in üblem Zustand befänden.
Trotz des gewaltigen Reichtums des alten Grafen Besuchow hatte Pierre, seitdem er diesen Reichtum geerbt hatte und, wie es hieß, sein Jahreseinkommen fünfhunderttausend Rubel betrug, die Empfindung, daß er lange nicht so reich sei wie damals, als er von dem verstorbenen Grafen seine zehntausend Rubel jährlich erhielt. Sein Budget sah, wenn nur die Hauptrubriken berücksichtigt wurden, nach der undeutlichen Vorstellung, die er davon hatte, etwa folgendermaßen aus: An den Vormundschaftsrat wurden, für alle Güter zusammen, ungefähr achtzigtausend Rubel Hypothekenzinsen bezahlt; gegen dreißigtausend kostete die Unterhaltung des in der Nähe von Moskau und des in Moskau gelegenen Hauses und der Lebensunterhalt der Prinzessinnen; etwa fünfzehntausend gingen für Pensionen und ebensoviel für Wohltätigkeitsveranstaltungen drauf; der Gräfin wurden für ihren Lebensunterhalt hundertfünfzigtausend Rubel zugeschickt;[157] an Zinsen für Schulden wurden gegen siebzigtausend bezahlt; der Bau einer angefangenen Kirche hatte in diesen zwei Jahren etwa zehntausend Rubel gekostet; und was noch übrigblieb, ungefähr hunderttausend Rubel, wurde für dies und das verausgabt, er wußte selbst nicht wofür; ja, er sah sich fast jedes Jahr genötigt, neue Schulden zu machen. Außerdem schrieb ihm der Oberadministrator alljährlich bald von Feuersbrünsten, bald von Mißernten, bald von der Notwendigkeit, die Fabriken und Brennereien umzubauen. So war denn die erste Tätigkeit, der sich Pierre widmen mußte, gerade diejenige, zu der er am allerwenigsten Fähigkeit und Neigung besaß: die geschäftliche Tätigkeit.
Pierre »arbeitete« täglich mit dem Oberadministrator; aber er fühlte, daß seine Tätigkeit die Dinge nicht um einen Schritt vorwärtsbrachte. Er fühlte, daß seine Tätigkeit gleichsam unabhängig neben den Dingen herging, nicht einhakte und die Dinge nicht in Bewegung setzte. Der Oberadministrator stellte seinerseits die Dinge im schlimmsten Licht dar und bewies sei nem Herrn die Notwendigkeit, Schulden zu bezahlen und die neuen Arbeiten mit den Kräften der leibeigenen Bauern zu unternehmen, wozu Pierre nicht seine Zustimmung gab. Pierre seinerseits verlangte, daß das Werk der Bauernbefreiung in Angriff genommen werde, worauf der Oberadministrator darlegte, daß vorher notwendigerweise die Hypothekenschulden an den Vormundschaftsrat zurückgezahlt werden müßten und daher eine schnelle Ausführung jenes Planes unmöglich sei.
Daß die Ausführung desselben überhaupt unmöglich sei, das sagte der Oberadministrator nicht; er schlug zur Erreichung dieses Zieles den Verkauf von Wäldern im Gouvernement Kostroma, von Ländereien am unteren Lauf der Wolga, sowie den Verkauf des in der Krim gelegenen Gutes vor. Aber alle diese[158] Operationen waren nach der Darstellung des Oberadministrators mit so verwickelten Rechtsgeschäften: Prozessen, Aufhebung des Sequesters, der Requisitionen, Dispensationen usw., verbunden, daß Pierre ganz konfus wurde und nur zu ihm sagte: »Ja, ja, machen Sie es nur so!«
Pierre besaß nicht jene praktische Veranlagung, die es ihm ermöglicht hätte, selbständig, ohne einen Vermittler, diese Arbeit in Angriff zu nehmen, und darum liebte er diese Arbeit auch nicht und stellte sich nur dem Oberadministrator gegenüber so, als ob er sich dafür interessiere. Der Oberadministrator dagegen suchte dem Grafen gegenüber den Anschein zu erwecken, als ob er persönlich diese Arbeit als eine drückende Last empfinde, aber der Ansicht sei, daß sie seinem Herrn großen Nutzen bringe.
In der großen Stadt fand Pierre allerlei Bekannte wieder, und Unbekannte drängten sich dazu, seine Bekanntschaft zu machen; der neu eingetroffene Krösus, der größte Grundbesitzer des Gouvernements, wurde von allen Seiten freudig bewillkommnet. Auch die Versuchungen in bezug auf Pierres Hauptschwäche, diejenige Schwäche, deren er sich bei seiner Aufnahme in die Loge schuldig bekannt hatte, waren so stark, daß er ihnen nicht widerstehen konnte. So kam es, daß er wieder ganz so lebte wie früher in Petersburg: ganze Tage, Wochen und Monate verbrachte er ohne ernste Tätigkeit, und seine Zeit war mit Abendgesellschaften, Diners, Dejeuners und Bällen so ausgefüllt, daß er gar nicht zur Besinnung kam. Statt des neuen Lebens, das Pierre zu führen gehofft hatte, führte er wieder das frühere, nur in anderer Umgebung.
Pierre gestand sich selbst ein, daß er von den drei Forderungen der Freimaurerei diejenige, die einem jeden Freimaurer vorschrieb, das Musterbild eines sittlichen Wandels zu sein, nicht erfüllte, und daß ihm von den sieben Tugenden zwei vollständig[159] mangelten: Sittenreinheit und Liebe zum Tod. Er tröstete sich damit, daß er dafür eine andere Forderung, an der Verbesserung des Menschengeschlechts zu arbeiten, erfüllte und andere Tugenden besaß: Nächstenliebe und ganz besonders Mildtätigkeit.
Im Frühjahr 1807 beschloß Pierre, wieder nach Petersburg zurückzureisen. Unterwegs beabsichtigte er alle seine Güter zu besuchen und persönlich festzustellen, was von seinen Anordnungen zur Ausführung gelangt war, und in welchem Zustand sich jetzt die vielen Menschen befanden, die ihm von Gott anvertraut waren und die zu beglücken er sich bemühte.
Der Oberadministrator, der der Ansicht war, die Einfälle des jungen Grafen seien sämtlich kaum etwas anderes als Verdrehtheit und ein Schaden sowohl für den Herrn selbst, als auch für ihn, den Oberadministrator, als auch für die Bauern, hatte ihm doch einige Konzessionen gemacht. Er blieb allerdings dabei, die Bauernbefreiung für unmöglich zu erklären; aber er hatte im Hinblick auf die Ankunft des Herrn angeordnet, es solle auf allen Gütern der Bau großer Schulgebäude, Krankenhäuser und Armenhäuser in Angriff genommen werden; auch hatte er überall Empfänge vorbereitet, nicht etwa großartige, feierliche, da er wußte, daß Pierre an solchen kein Gefallen finden würde, sondern einfache, die in religiöser Form die Dankbarkeit der Bauern zum Ausdruck brachten, mit Entgegentragung von Heiligenbildern und Darbringung von Brot und Salz, kurz, Empfänge, von denen er nach seiner Kenntnis des Charakters des Herrn erwarten konnte, daß sie auf diesen wirken und ihn täuschen würden.
Der Frühling des Südens, die bequeme, schnelle Fahrt in einer Wiener Kalesche und das Alleinsein auf der Reise versetzten Pierre in eine frohe, heitere Stimmung. Von den Gütern, auf denen er vorher noch nie gewesen war, erschien ihm[160] eines immer malerischer als das andere; die Bauern machten überall den Eindruck, daß sie sich glücklich fühlten und für die ihnen erwiesenen Wohltaten in rührender Weise dankbar seien. Überall fanden Begrüßungen statt, die zwar Pierre manchmal in Verlegenheit setzten, aber doch in der Tiefe seiner Seele ein Gefühl der Freude erweckten. An einem Ort brachten ihm die Bauern Brot und Salz und ein Bild der Apostel Petrus und Paulus entgegen und baten um die Erlaubnis, zum Zeichen der Liebe und Dankbarkeit für die von ihm empfangenen Wohltaten in der Kirche auf ihre Kosten einen neuen Nebenaltar zu Ehren seiner Schutzheiligen Petrus und Paulus errichten zu dürfen. An einem andern Ort begrüßten ihn Frauen mit Säuglingen auf den Armen und dankten ihm dafür, daß sie nun von den schweren Arbeiten befreit seien. Auf einem dritten Gut empfing ihn der Geistliche mit dem Kreuz, umringt von den Kindern, die er dank der Güte des Grafen jetzt im Lesen, Schreiben und in der Religion unterrichten konnte. Auf allen Gütern erblickte Pierre mit eigenen Augen steinerne, nach einheitlichem Plan teils schon gebaute, teils noch im Bau begriffene Krankenhäuser, Schulen und Armenhäuser, deren Eröffnung für einen nahen Zeitpunkt zu erwarten war. Überall sah Pierre in den von den Verwaltern geführten Büchern, daß die geleisteten Fronarbeiten gegen früher erheblich abgenommen hatten, und bekam für diese Erleichterung rührende Danksagungen von Bauerndeputationen in langen, blauen Kaftanen zu hören.
Nur wußte Pierre nicht, daß in dem Dorf, wo man ihm Brot und Salz dargebracht hatte und einen Altar für Petrus und Paulus bauen wollte, ein lebhafter Handel getrieben und am Peter-und-Pauls-Tag ein Jahrmarkt abgehalten wurde, und daß dieser Altar schon längst von den reichen Bauern des Dorfes errichtet war, von eben jenen Bauern, die vor ihm erschienen, daß[161] aber neun Zehntel der Bauern dieses Dorfes sich in völlig zerrütteten wirtschaftlichen Verhältnissen befanden. Er wußte nicht, daß dieselben Säugerinnen, die auf seine Anordnung nicht mehr zur Fronarbeit geschickt wurden, jetzt in ihren Wohnungen noch schwerere Arbeit zu leisten hatten. Er wußte nicht, daß der Geistliche, der ihm mit dem Kreuz entgegengezogen kam, die Bauern durch Erhebung übermäßiger Gebühren für die Amtshandlungen bedrückte, und daß die um ihn versammelten Schüler ihm von den Eltern nur unter Tränen in seine Schule gegeben und dann für erhebliche Geldsummen wieder freigekauft waren. Er wußte nicht, daß die steinernen, nach einem schönen Plan errichteten Gebäude von seinen eigenen Bauern hergestellt waren und auf diese Art die Fronarbeit vergrößert hatten, deren Abnahme nur auf dem Papier stand. Er wußte nicht, daß dort, wo der Verwalter ihm in seinem Buch zeigte, daß seinem Willen gemäß die Abgaben um ein Drittel ermäßigt seien, die Fronarbeit um die Hälfte vermehrt war. Und daher fühlte sich Pierre von seinen Besuchen auf den Gütern höchst befriedigt und war wieder ganz in die philanthropische Stimmung hineingeraten, in der er Petersburg verlassen hatte, und schrieb an seinen Bruder Lehrmeister, wie er den Meister vom Stuhl nannte, begeisterte Briefe.
»Wie leicht ist es doch, so viel Gutes zu tun; wie geringer Anstrengung bedarf es dazu«, dachte Pierre. »Und wie wenig sind wir auf diese Tätigkeit bedacht!«
Er war glücklich über die ihm bezeigte Dankbarkeit; aber er empfand eine gewisse Beschämung, wenn er sie entgegennahm. Diese Dankbarkeit erweckte in ihm den Gedanken, wieviel mehr er eigentlich noch für diese schlichten, guten Menschen tun könnte.
Der Oberadministrator, ein ebenso ungebildeter wie schlauer Mensch, der den gebildeten, arglosen Grafen vollständig durchschaute[162] und mit ihm spielte wie mit einem Spielzeug, bemerkte sehr wohl die Wirkung, welche die künstlich vorbereiteten Empfänge auf Pierre ausübten, und suchte ihm nun mit größerer Entschiedenheit die Unmöglichkeit und vor allem die Unnötigkeit der Befreiung der Bauern zu beweisen, da diese auch ohne sie vollkommen glücklich seien.
Pierre war im stillen Grund seines Herzens mit dem Oberadministrator darin einverstanden, daß es schwer sei, sich glücklichere Menschen vorzustellen als diese Bauern, und daß niemand wissen könne, wie es ihnen nach der Befreiung gehen werde; aber Pierre glaubte, wenn auch mit innerem Widerstreben, doch auf dem beharren zu sollen, was er für eine Handlung der Gerechtigkeit hielt. Der Oberadministrator versprach, alles, was nur irgend in seinen Kräften stehe, zu tun, um den Willen des Grafen auszuführen; er wußte recht gut, daß der Graf nie imstande sein werde, ihn zu kontrollieren und festzustellen, ob auch wirklich alle Maßregeln zum Verkauf der Wälder und Güter und zur Ablösung der Hypothekenschulden beim Vormundschaftsrat getroffen seien, und daß er nach dem Fortgang der Reformen wahrscheinlich nie fragen und die Wahrheit nie erfahren werde: nämlich daß die neuerrichteten Gebäude leer standen und die Bauern auch fernerhin an Arbeit und Abgaben all das zu leisten hatten, was sie bei anderen Gutsbesitzern leisteten, d.h. alles, was sie überhaupt leisten konnten.
Buchempfehlung
Bereits 1792 beginnt Jean Paul die Arbeit an dem von ihm selbst als seinen »Kardinalroman« gesehenen »Titan« bis dieser schließlich 1800-1803 in vier Bänden erscheint und in strenger Anordnung den Werdegang des jungen Helden Albano de Cesara erzählt. Dabei prangert Jean Paul die Zuchtlosigkeit seiner Zeit an, wendet sich gegen Idealismus, Ästhetizismus und Pietismus gleichermaßen und fordert mit seinen Helden die Ausbildung »vielkräftiger«, statt »einkräftiger« Individuen.
546 Seiten, 18.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.
444 Seiten, 19.80 Euro